Guillaume Marché:
Sexuality, Subjectivity, and LGBTQ Militancy in the United States

Amsterdam: Amsterdam University Press 2019 (Protest and Social Movements), 200 S., € 89
 

sorry, no cover

 

Rezension von Kevin–Niklas Breu, Oldenburg

Erschienen in Invertito 23 (2021)

Zweifelsohne ein Herzstück zahlreicher Kampagnen seit den 1990er Jahren, hat die rechtliche Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans und Queers (engl. LGBTQ) immer wieder für Kontroversen innerhalb der US–amerikanischen Bewegung gesorgt. Diesen vermeintlichen Widerspruch historisch aufzuarbeiten, setzt sich der französische Soziologe Guillaume Marché in seiner 2019 in englischer Übersetzung veröffentlichten Studie Sexuality, Subjectivity, and LGBTQ Militancy in the United States zum Ziel. Erstmals erschienen ist diese Arbeit 2017 in fran-zösischer Sprache unter dem Titel La militance LGBT aux États–Unis. Sexualité et subjectivité. Im Zentrum der Untersuchung stehen die sich ab Mitte der 1990er Jahre abzeichnenden Wechselbeziehungen von Institutionalisierung und zunehmender medialer Sichtbarkeit von Teilen der Bewegung einerseits sowie einer allgemeinen Demobilisierung der Basis andererseits. Mit den gay marriage–Kampagnen, so die geläufige Behauptung, seien nicht nur grundlegende Themen wie Armut, Rassismus und Gesundheit sowie die Gentrifizierung von LGBTQ–Quartieren und die Kommerzialisierung schwulen Lifestyles nachhaltig zurückgedrängt worden. Auch hätten die UnterstützerInnen der Gleichstellungspolitik mit dem Etablieren eines weitestgehend desexualisierten Medienbildes lesbischer und schwuler PartnerInnenschaften die Abwendung eines Großteils der AktivistInnen und SympathisantInnen der Bewegung in Kauf genommen.

Diese pauschale Niedergangserzählung militanter LGBTQ–Politiken ab den 1990er Jahren unterzieht Marché einer kritischen Neubewertung. Hierfür bedient er sich Theorien und Ansätzen der europäischen Bewegungsforschung, die maßgeblich von VertreterInnen wie Alberto Melucci, Alain Touraine, François Dubet und Michel Wieviorka entwickelt wurden. Darüber hinaus berücksichtigt Marché die Arbeiten zu den kulturellen Formen kollektiven Handelns von Jeff Goodwin, James M. Jasper, Hank Johnston, Bert Klandermans und Francesca Polletta. Mit dem Konzept der "kollektiven Identität" etwa brächen diese ForscherInnen mit den bis in die 1990er Jahre vorherrschenden Paradigmen der political frame– und resource mobilisation–Theorien. Eine Besonderheit der Studie besteht vor allem in der Deutung sogenannter "infrapolitischer" Protestformen, wie etwa Graffiti, Nacktheit und Crossdressing in der Öffentlichkeit. Diese ermöglichten erst die Erfassung der gesamten Bandbreite der LGBTQ–Bewegung (S. 17–18). Mit diesem Ansatz trägt Marché nicht zuletzt auch der zunehmenden Bedeutung emotionssoziologischer Fragen Rechnung, wie sie Deborah Gould am Beispiel des Zusammenhangs von pride und shame für die Mobilisierung von Aids–AktivistInnen diskutiert hat. [1] Eine weitere Stärke der Studie besteht in der Einbeziehung einer langfristigen historischen Perspektive. Mit dieser möchte Marché veranschaulichen, dass die Spannungsfelder zwischen Politisierung und Depolitisierung einerseits und Sexualisierung und Desexualisierung andererseits nicht nur ein aktuelles Phänomen seien. Vielmehr zögen sich diese wie "Pendel" kontinuierlich durch alle Phasen der US–Bewegung ab den 1950er Jahren (S. 23–24).

Marchés Studie baut auf insgesamt 187 qualitativen Interviews auf, die er zwischen 1993 und 1998 in San Francisco, New York und Boston durchführte. Die Auswahl der Befragten erfolgte über ein Schneeballsystem persönlicher Empfehlungen. Mehrheitlich wurden weiße Lesben und schwule Männer zwischen 25 und 50 interviewt. Im Sample werden aber auch andere Repräsentationen hinsichtlich sozialen Geschlechts und Ethnizität berücksichtigt. Neben dem politischen Engagement stand vor allem das Verhältnis institutionell ungebundener AktivistInnen zur Bewegung im Vordergrund der Befragung. Aufgrund seines expliziten Interesses an den Motiven progressiver politischer AkteurInnen schloss Marché aus seinem Sample bewusst Mitglieder konservativer Parteien und Organisationen, wie des Log Cabin Club oder der Republican Party's LGBTQ Group, aus. Ergänzt wird das Interviewkorpus durch die Ergebnisse weiterer Feldstudien zum Verhältnis von Homosexualität und Ethnizität/race, zu nicht–heterosexuellen Familienentwürfen und Jugendsexualitäten, die nach 1998 erfolgten (S. 18–20).

Der Aufbau der Studie reflektiert Marchés gleichermaßensam historisches und kultursoziologisches Interesse. Nach einer inhaltlichen und methodischen Einführung in Kapitel 1 umreißt er in Kapitel 2 die Transformationsprozesse von der US–Homophilenbewegung der 1950er und 1960er Jahre über die gay liberation– und gay rights–Bewegung in den 1970er Jahren und die Aids–Bewegung der 1980er Jahre bis zu den gay marriage–Kampagnen ab den 1990er Jahren. In Kapitel 3 nimmt Marché gesondert die politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen, die mit dem Aufstieg des Neokonservativismus ab den 1970er und der HIV/Aids–Epidemie ab den 1980er Jahren einhergingen, in den Blick. Sehr gelungen zeigt Marché den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Neuen Rechten und der Herausbildung eines kommunitaristischen Selbstverständnisses innerhalb der US–LGBTQ–Bewegung ab Mitte der 1970er Jahre (S. 35, 58–61). Teilweise erweist sich Marchés konsequente Gleichsetzung von Graswurzelaktivismus und Militanz einerseits sowie Lobbyorganisationen und Bürgerrechtspolitik andererseits dabei als zu starr. So führt Marché etwa das ethnic minority–Modell als Ausdruck der schleichenden Desexualisierung von LGBTQ–Politiken und einer Essentialisierung von Homosexualität in den 1970er Jahren an (S. 35, 61). Dabei lässt er allerdings außer Acht, dass sich bereits die gay liberation–Bewegung als verfolgte Minderheit konzipiert hatte, um strategische Bündnisse etwa mit den Black Panthers oder den Young Lords herzustellen. [2] Genauso gilt es zu überprüfen, inwiefern Vereinigungen wie die National Gay Task Force (NGTF) bzw. National Gay and Lesbian Task Force (NGLTF) auch ungeordneten sozialen Protest unterstützten, etwa in der frühen Aids–Bewegung Anfang der 1980er Jahre. [3]

Die folgenden drei Kapitel greifen schließlich die Ergebnisse der Feldstudien auf. In Kapitel 4 erörtert Marché zunächst die Auswirkungen der zunehmenden Privatisierung von LGBTQ–Identitäten auf die Herausbildung politischer Subjektivierungsprozesse. Dabei verweist er zu Recht auf den Zusammenhang zwischen dem steigenden wirtschaftlichen Interesse an Schwulen und Lesben als KonsumentInnen und der schleichenden Zurückdrängung anstößigen Verhaltens aus dem öffentlichen Leben. Dies zeige sich nicht nur am zunehmenden Sponsoring von und den gestiegenen Sicherheitsauflagen für Pride–Paraden in den USA sowie am Ausschluss politisch unliebsamer AktivistInnen aus den entsprechenden Organisationskomitees (S. 91–93). Auch die Einbindung von gayborhoods in städtische Tourismuskampagnen, wie im Falle des Castro, und die damit einhergehende Einhegung offen sexueller Subkulturen, wie der Fetisch– und Lederszene in San Franciscos SoMa–Distrikt, zeugten von dieser Entwicklung (S. 89).

In Kapitel 5 beleuchtet Marché die konkreten Repolitisierungsversuche von Sexualität und Geschlecht ab Mitte der 1990er Jahre. Dabei zeigt er auf, wie sich gerade in diesen Punkten radikale Selbstbilder und Lebensentwürfe gegenüber der öffentlich vorangetriebenen Desexualisierung von Homosexualität behauptet haben. Verdeutlicht werden diese anhand der Aktionen lokaler und oftmals kurzlebiger Gruppen. Zu nennen sind etwa die sexuell aufgeladenen Theateraufführungen der Gruppe "Sex Panic!" in Reaktion auf die Schließung von Sexclubs und Pornokinos um den New Yorker Times Square im Jahre 1997 (S. 125–131) oder die von Gay and Lesbian Insurrection (LAGAI) organisierte Performance einer "kollektiven Scheidung" 1996 in San Francisco (S. 140–141). Analysiert wird auch der wichtige Beitrag "sexpositiver" lesbischer FeministInnen zur Frage der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen, angestoßen etwa durch Performances wie die Simulierung sexueller Handlungen durch Mitglieder der Lesbian Avengers auf dem Bostoner Gay–Pride–Umzug 1996 (S. 139). All diese Beispiele verdeutlichen laut Marché das Potential so genannter abeyance structures oder doldrums, also Ruhestrukturen, aus denen sich die AktivistInnen nach dem Aufbrechen integraler politischer Netzwerke, wie etwa ACT UP und Queer Nation, rekrutiert haben (S. 136–139).

Abschließend stellt Marché in Kapitel 6 die unterschiedlichen Formen militanten LGBTQ–Protestes heraus, die von Theater–Guerilla über Satire bis hin zu Plakat– und Graffiti–Aktionen reichen. Ausführlich beschäftigt er sich mit den Aktionsformen der Sisters of Perpetual Indulgence. Die bis heute bestehende Vereinigung schlägt eine Brücke zwischen "konventionellem" politischem Protest — Demonstrationen und Märschen —, Charity– und HIV/Aids–Präventionsarbeit sowie theatralischen Protestformen im Geiste der Neuen Linken, etwa in Form öffentlicher "Exorzismen" rechter PolitikerInnen, PublizistInnen und Geistlicher (S. 155–160).

Insgesamt legt Marché mit seiner Studie eine der umfassendsten Untersuchungen der US–amerikanischen LGBTQ–Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts vor. Durch einen dezidiert soziologischen Blick auf historische Veränderungsprozesse der US–amerikanischen LGBTQ–Bewegung formuliert Marché ein klares Periodisierungsraster, das sich an deren jeweiligem Institutionalisierungsgrad und diskursiven Strategien orientiert. Dieses Schema schafft durch Komplexitätsreduktion eine gewünschte Vergleichbarkeit einzelner Bewegungsphasen, verstellt teilweise aber auch den Blick auf deren Eigentümlichkeit. Mit seiner Analyse infrapolitischer Protestformen macht Marché zudem die Kontinuitäten eines radikalen, sexpositiven Aktivismus bis zur Gegenwart deutlich. Empirisch fundiert dekonstruiert er folglich die vorherrschende Erzählung eines Niedergangs der LGBTQ–Bewegung infolge der Kommerzialisierung schwuler Sexualität und des politischen Erfolges bürgerrechtsorientierter LGBTQ–Organisationen ab Mitte der 1990er Jahre.

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[1] Gould, Deborah B.: Moving Politics: Emotion and ACT UP's Fight Against AIDS, Chicago: The University of Chicago Press 2009.

[2] Hobson, Emily K.: Lavender and Red. Liberation and Solidarity in the Gay and Lesbian Left, Oakland, CA, University of California Press, 2016, S. 25.

[3] Gould 2009, S. 144.