Julia Noah Munier:
Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

Stuttgart: Kohlhammer 2021, 458 S., € 59
 

sorry, no cover

 

Rezension von Lenard Kramp, Trier

Erschienen in Invertito 23 (2021)

Die Arbeit von Julia Noah Munier über Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer im heutigen Bundesland Baden–Württemberg von 1919 bis 1969 ist der erste von drei Teilen eines größeren Forschungsprojekts des Instituts für Neuere Geschichte der Universität Stuttgart zu sexuellen Minderheiten im Südwesten Deutschlands. [1] Der Band erschien Anfang 2021, und interessierte Leser*innen konnten bereits in der letzten Ausgabe von Invertito einen kleinen Einblick in Muniers Forschungsergebnisse zur Homophilenbewegung als Akteurin der Anerkennung (hier S. 334–352) erhalten. [2] Die Untersuchung fügt sich in eine Reihe von Projekten zur regionalen Erforschung der Geschichte homosexueller Männer und Frauen, wie sie in den letzten Jahren bereits zu anderen Bundesländern veröffentlicht wurden. Dabei werden nicht nur die bisherigen Forschungsergebnisse auf ihre regionalspezifischen Ausprägungen im heutigen Bundesland Baden–Württemberg hin untersucht, sondern auch neue Akzente in der Methodik gesetzt, unterschiedliche Quellengattungen verwendet sowie Themenfelder angesprochen, die in der bisherigen Forschung eher vernachlässigt wurden. Besonders hervorzuheben ist hier vor allem die Betrachtung von ländlichen Räumen am Beispiel der Region Heidenheim (S. 130–135).

Methodisch orientiert sich Munier bei ihrer Untersuchung an dem Konzept der "praxeologischen Geschichtswissenschaft", bei dem Gemeinschaften anhand der gemeinsamen Praktiken ihrer Akteur*innen untersucht werden (S. 28). Dieser Forschungsansatz wurde erstmals von Sven Reichardt für die Geschichtswissenschaften erschlossen und in seiner Arbeit zum linksalternativen Milieu in den 1970er Jahren gewinnbringend angewandt. Der praxeologische Ansatz "versteht die Vergangenheit und deren 'Sozialwelt[en]' als eine Verkettung von Praktiken". [3] Zugleich ermöglicht diese Art des Zugangs die Erforschung von Verhaltensmustern auf der Ebene sowohl des einzelnen Subjekts als auch von sozialen Netzwerken, auch wenn Ego–Dokumente fehlen.

Der Hauptteil der Arbeit ist in drei übergeordnete Kapitel gegliedert, die chronologisch die Schicksale und Lebenswelten von homosexuellen Männern aus Baden und Württemberg während der Weimarer Republik (S. 43–135), während des Nationalsozialismus (S. 136–290) und in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit (S. 291–399) aufarbeiten. Der erste Teil beschäftigt sich nicht nur mit der Verfolgung von homosexuellen Männern während der 1920er Jahre, sondern auch mit dem Entstehen einer eigenen Subkultur in den größeren Städten in Baden und Württemberg. Dabei werden sowohl die sozialen Netzwerke auf lokaler und regionaler Ebene sowie deren zentrale Akteure untersucht als auch Auswirkungen der emanzipatorischen Impulse auf Landesebene, beispielsweise durch das Wissenschaftlich–humanitäre Komitee, berücksichtigt. Im zweiten Kapitel konzentriert sich Munier auf die strafrechtliche Verfolgung und Repression homosexueller Männer während des Nationalsozialismus. Der Blick richtet sich dabei vor allem auf die Lebenswelten in den die Repression vollziehenden Orten, wie den Gefängnissen, den "Heil– und Pflegeanstalten" und den Konzentrationslagern. Im Zusammenhang mit der geographischen Lage Baden–Württembergs beschäftigt sich das Kapitel auch mit dem spannenden Thema der Lebenswelten homosexueller Männer im Schweizer Exil (S. 284–290). Im dritten Kapitel betont die Autorin einerseits die Kontinuität der Repression homosexueller Männer vom Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit, andererseits wird auch die erneute Entfaltung einer eigenen Subkultur in den Blick genommen. Wesentlicher Schwerpunkt ist in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Homophilenbewegung. Das Thema der Verfolgung und Repression bildet einen zentralen Bestandteil der drei Kapitel. In einem wechselseitigen Bezug dazu steht die Fokussierung der Quellenanalyse auf Dokumente der Strafrechtsverfolgung. Dabei stellt sich Munier zu Recht die Frage, wie beispiels-weise anhand von Polizeiakten und den darin enthaltenen (Fremd–)Beschreibungen homosexueller Männer von Seiten der Verfolgungsinstanzen die Lebenswelten der betroffenen Personen untersucht werden können (S. 23). Neben den Quellen aus strafrechtlichen Verfahren werden daher auch andere Gattungen, wie Zeitungsannoncen, Gemälde oder persönliche Briefe in die Betrachtungen eingebunden. Eine kritische Reflexion, wie sie im einleitenden Kapitel für die Materialien zum Strafrecht vorgenommen wird, fehlt für diese Quellengattungen — trotz ihrer relativ häufigen Nutzung. Dadurch geht die Analyse dieser Quellen häufig nicht in die Tiefe, sondern führt zu einseitigen Interpretationen. Als Beispiel diene hier der Einbezug eines Gemäldes von Rudolf Schlichter (um 1919/1920) als Darstellung einer queeren Abendgesellschaft mit einem "kleinstädtischen oder gar ländlichen Bezug" (S. 63). Als einzigen Beleg für die Verortung im ländlichen Raum führt Munier den Titel des Gemäldes Tingel–Tangel an, der sich vom Begriff des Tingelns ableite und "eine Praktik des Umher– oder des Über–das–Land–Ziehens" beschreibe. Gegen diese Einschätzung spricht indes, dass der Begriff "Tingeltangel" bereits 1909 in Meyers Großem Konversations–Lexikon als "Berliner Ausdruck für Singhallen niedrigster Art mit burlesken Gesangsvorträgen und Vorstellungen" [4] aufgeführt ist. Zudem erwähnt Munier, dass Schlichter, der ursprünglich aus Württemberg kam, während der Entstehungszeit des Gemäldes 1919 nach Berlin zog, was vermuten lässt, dass er den Begriff anders verstand, als Munier behauptet (S. 63).

Muniers Untersuchung richtet sich in erster Linie an ein Fachpublikum, kann aber auch von interessierten Laien und Laiinnen gelesen werden. Dabei ermöglicht die Arbeit einen Zugang sowohl über das Interesse für die Sexualitäts– als auch über die Landesgeschichte. Herausforderungen für eine nicht im Fach geschulte Leser*innenschaft könnten dabei aber die der Sexualitätsgeschichte immanente Fachterminologie und das allgemein hohe sprachliche Niveau der Arbeit sein. Zudem kommt es hin und wieder zu Ausführungen, die in ihrem Kontext keinen erkennbaren Mehrwert erbringen und sich eher kontraproduktiv auf den Lesefluss auswirken.

Munier legt mit ihrer Arbeit ein Grundlagenwerk zur Geschichte männlicher Homosexualität in Baden–Württemberg vor, das hoffentlich den Ausgangspunkt für weitere Forschungsvorhaben bildet. Damit sind jedoch nicht nur Arbeiten auf regionaler Ebene gemeint. Als besonders hilfreich ist hier sicherlich die detaillierte Auflistung von Forschungsdesideraten zu erwähnen, die Munier in ihr Fazit integriert. Auch die fortschrittlichen Ansätze in der Methodik und im Einbezug von ländlichen Räumen bieten über die regionale Ebene und den betrachteten Zeitraum hinaus vielfältige Impulse für die Forschung zur Geschichte der Homosexualität.

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[1] Siehe dazu das Geleitwort von Michael Schwartz und Jörg Litwinschuh–Barthel im Buch, S. 7.

[2] Munier, Julia Noah: Die Homophilenbewegung im deutschen Südwesten der 1950er und 1960er Jahre als Akteurin der Anerkennung, in: Invertito 22 (2020), S. 77–112.

[3] Haasis, Lucas / Rieske, Constantin: Historische Praxeologie. Zur Einführung, in: Haasis, Lucas / Rieske, Constantin (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn: Schöningh 2015, S. 7–54, S. 13. Allgemein zum Forschungsansatz Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte, Nr. 22 (2007), S. 43–65; Reichardt, Sven: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin: Suhrkamp 2014.

[4] Tingeltangel, in: Meyers Großes Konversations–Lexikon, 6. Auflage, Band 19, Leipzig / Wien: Bibliographisches Institut 1909, S. 599.