Benno Gammerl:
anders fühlen.

Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik.
Eine Emotionsgeschichte,
München: Carl Hanser 2021, 415 S., € 25
 

sorry, no cover

 

Rezension von Daniel Baranowski, Berlin

Erschienen in Invertito 23 (2021)

Dass ein Buch über die Geschichte der Homosexualitäten in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Jahr 2021 in einem großen Publikumsverlag erscheinen kann und dabei ausführlich die direkt betroffenen Menschen, die ansonsten kaum zu Wort kommen, zitiert, mag auf den ersten Blick wie eine Bestätigung jenes Erfolgs gelesen werden, als die die Entwicklung der Homosexualitätengeschichte im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert gerne gesehen wird. Doch in einer Fußnote wird sichtbar, an welchem Punkt der Geschichte wir und die hier zu besprechende Studie tatsächlich stehen: "Aus Sorge, die Pseudonymisierung der Interviews könne sie nicht ausreichend schützen, erwähnt Frau Opitz nie die Namen ihrer Partne-rinnen, sondern nummeriert diese stattdessen" (S. 369, Anm. 60). Folgerichtig verweigert sich auch Benno Gammerl, Autor von anders fühlen, jener simplen Erfolgslogik: Die Geschichte der Homosexualitäten ist zum Teil durchaus eine Fortschrittsgeschichte, aber sie ist ebenso eine Geschichte fortgesetzter Diskriminierung.

Gammerl ist Professor für Geschlechter– und Sexualitätengeschichte am European University Institute in Florenz, zuvor war er als DAAD–Fachlektor für queere Geschichte an der Universität London tätig und arbeitete von 2008 bis 2017 im For-schungsbereich Geschichte der Gefühle des Max–Planck–Instituts für Bildungsforschung in Berlin. In dieser Zeit verfasste er seine Habilitation, die an der Freien Universität Berlin angenommen wurde und in umgearbeiteter Fassung nun unter dem Titel anders fühlen im Carl Hanser Verlag erschienen ist. Es ist ein fulminantes Buch.

Gammerl wählt einen emotionsgeschichtlichen Zugang, der es ihm erlaubt, über politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen hinaus die Wirkmächtigkeit von Gefühlen in den Blick zu nehmen. Die Gefühle, die Personen zu einer bestimmten Zeit gehabt haben, sind in diese Zeit eingebettet, das heißt, sie werden von den jeweiligen Bedingungen und Situationen geformt, nehmen aber auch selbst Einfluss auf den Fortgang der Geschichte. Vor diesem Hintergrund betrachtet Gammerl die "Ambivalenzen gefühlshistorischer Prozesse und biografischer Erzählungen" (S. 31), um eine umfassende Bestandsaufnahme der Geschichte lesbischen und schwulen Lebens in der BRD von 1945 bis in die 2010er Jahre vorzunehmen. Neben einer beeindruckenden Fülle an Forschungsliteratur nimmt Gammerl dazu zum einen insbesondere Zeitschriften von den 1960er bis 1990er Jahren zu Hilfe und hat zum anderen 32 Personen zu ihren Lebensgeschichten befragt. Die Ergebnisse dieser Oral–History–Interviews, die Erzählungen der interviewten Personen und die Interpretationen dieser Aussagen durch den Autor bilden den Kern der Studie.

Dies wird bereits durch einen Blick in das Inhaltsverzeichnis ersichtlich. Einlei-tend, abschließend und zwischen die inhaltlichen Hauptkapitel geschaltet er-scheinen jeweils fünf ausführliche O–Töne von Frau Schmidt und Herrn Meyer — die Namen der interviewten Personen sind durchgängig pseudonymisiert —, die deren gesamten Lebensbogen umfassen und zahlreiche der behandelten Themen und Ereignisse an den beiden Biografien exemplifizieren. Es mag gerade für Leser_innen, die über wenig Vorwissen verfügen, lohnend sein, sich dem Thema zunächst über die Lektüre dieser Passagen anzunähern. In den drei Hauptkapiteln beschäftigt sich Gammerl mit den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel 1), den 1970er Jahren (Kapitel 2) und der Zeit ab den 1980er Jahren (Kapitel 3). Innerhalb der Kapitel untersucht er jeweils zunächst die allgemeine homosexualitätengeschichtliche Entwicklung, interessiert sich dann für die Räume, in denen sich die Menschen bewegten, und schaut schließlich dezidiert auf die Gefühle der Einzelnen in der entsprechenden Zeit.

Schon zu Beginn des Vorwortes (S. 7–18) macht Gammerl klar, dass es ihm weder um eine Hierarchisierung von Gefühlen noch gar um eine Bewertung spezifischer Handlungen geht, sondern dass sein Forschungsinteresse dem Empfinden von Menschen gilt, das sich "in einem zentralen Punkt von dem der großen Mehrheit unterscheidet" (S. 7), "[n]icht besser oder spannender, nicht schlechter oder verwerflicher, sondern schlicht anders" (S. 7–8). Durch diesen Einsatz wird zugleich sichtbar, dass das Buch sich eben auch an diese "Mehrheit" richtet und dazu einlädt, "Diskriminierung [zu] bekämpfen, ohne auf Alterität zu verzichten, Gleichberechtigung [zu] fordern und Verschiedenheit [zu] leben" (S. 7).

In der Einleitung (S. 19–32) fallen die drei Begriffe, die den Text bis zur letzten Seite durchziehen und deren Zusammenwirken erkenntnisleitend ist: Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung werden nicht als sich ausschließende oder aufeinander folgende Kennzeichnungen einer bestimmten Zeit angesehen, sondern als sich beständig wechselseitig durchdringende, manchmal störende, ein anderes Mal produktive komplexe Prozesse einer Geschichte angesehen, die durchaus auch Zweifel am Paradigma einer gleichmäßig und stetig fortschreitenden Emanzipation homosexueller Menschen aufwerfen. Belegbar ist dies an den Erzählungen der interviewten Personen, die Gammerl in den Jahren 2008 und 2009 ihre Lebensgeschichten anvertraut haben, zwischen 1935 und 1970 geboren wurden und, so der Autor, zwar nicht repräsentativ im statistischen Sinne sind, aber die Vielfalt lesbischen und schwulen Lebens widerspiegeln.

Das erste Kapitel (S. 33–140) trägt den Titel Nachkriegsdekaden: Ausweichen. Der Punkt am Ende des Titels ist durchaus von Bedeutung, korrespondiert er doch mit der Verwendung anderer Satzzeichen am Ende der folgenden Kapitelüberschriften. Dem aussagenden Gestus dieses Titels entsprechend überblickt Gammerl die Zeit bis zum Ende der 1960er Jahre: Dabei kommen die Kontinuität des unter dem nationalsozialistischen Regime verschärften Strafrechtsparagraphen 175, homosexualitätenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, negative Selbstwahrnehmungen von Lesben und Schwulen oder problematische Pathologisierungen ebenso zur Sprache wie Strategien des Unterlaufens heteronormativer Stereotype, die zunehmenden Risse in der Geschlechterordnung oder das Werben um Verständnis und Toleranz, das letztlich zur Strafrechtsliberalisierung führte. Die Verschiedenartigkeit der Räume, die Lesben und Schwulen in jener Zeit zur Verfügung standen, wird beleuchtet, das Verhältnis von Privatheit und Sichtbarkeit aufgeschlüsselt und die Arten der Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten, insbesondere über Blicke, werden ernst genommen. Dieser letzte Aspekt mag als kennzeichnend für Gammerls Hermeneutik gelesen werden: Indem er ephemere Phänomene in den Blick nimmt, kann er eine Geschichte schreiben, welche die Einzelnen und ihre Handlungen ernst nimmt. Ausprägungen eines (aktiven oder passiven) "Spiel[s] der Blicke" — Betrachten, Beobachten, Mustern, Rumgucken, Wegschauen, Augenklimpern, Flirten — sind Markierungen einer bestimmten Zeit: "Das homophile Spiel der Blicke unterscheidet sich deutlich vom Gewühl der Körper in einer Disco […] und vom Tanz des wischenden Fingers, der in der Dating–App manche Kandidaten ablehnt und andere auswählt" (S. 92). Mut und Stolz auf der einen Seite, Verzweiflung und Angst auf der anderen Seite sind die ambivalenten Gefühle der Erzähler_innen, die Gammerl aus jener Zeit berichten.

Das zweite Kapitel (S. 141–245) mit dem deklamatorischen Titel 1970er–Jahre: Aufbrechen! überrascht dadurch, dass es jenen Aufbruch nicht nur in öffentlichen Tabubrüchen und Provokationen, dem Aufkommen homosexueller Medien, politischen Protesten, der sich formierenden Lesben– und Schwulenbewegung und der Gründung von Verbänden als Mittel demokratischer Teilhabe sieht, sondern auch in der selbstgewählten Zurückhaltung und dem Abwarten Einzelner, gerade in der Vielschichtigkeit der Haltungen zu provokanten Aktionen, im Rückzug ins Private und in einem Selbstbewusstsein, das sich zwischen Offenheit und Vorsicht bewegt. Die öffentlichen Orte werden sichtbarer und zugänglicher, der sichtbare Zusammenschluss von Homosexuellen in der Öffentlichkeit führt zu verstärkter Sichtbarkeit und Solidarität, gleichzeitig finden emotionale Annäherungen nunmehr auch behutsamer statt. Verwirrung, Wut und Angst werden als durchaus produktive Gefühle verstanden.

Im dritten Kapitel 1980er–Jahre: Ankommen? (S. 247–338), das auch weit über die 1980er Jahre ausgreift, geht es um die Bedeutung von medial vermittelten Vorbildern, die unterschiedlichen Ausprägungen aktivistischer Strömungen, die zunehmende Etablierung des Gedenkens an homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus, die Homoehe als Konfliktfall innerhalb und außerhalb der Community, die Frage von Homosexualität und Elternschaft und schließlich um Aids als erneuten Wendepunkt in jenem Spannungsfeld von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung, der zunächst zu Ausgrenzung und Diskriminierung, auf lange Sicht und insbesondere im Kontext einer sich entwickelnden schwul–lesbischen Trauerkultur, so Gammerl, aber auch zu einer Art Normalisierung führte. Das Entstehen neuer Räume mit flexiblen Übergängen, das Aufkommen intersektionaler Fragestellungen, eine positiv verstandene Therapeutisierung, die erlittene Verletzungen überwinden half, aber auch die Warnung vor einer Entpolitisierung durch den Rückzug ins Innere und einer Verbürgerlichung homosexueller Lebensweisen prägen diese Zeit.

Gammerl liefert in diesen drei Hauptteilen einen exzellenten Überblick über alle relevanten Themen, die hier nicht mal ansatzweise vollständig benannt werden können. Es liegt in der Natur der Sache, dass er in dieser Überblicksdarstellung nicht auf jedes Thema erschöpfend eingehen kann — und dies auch nicht muss. Die zahlreichen Anmerkungen und Literaturangaben (S. 352–410) ermöglichen den interessierten Leser_innen vielfältige weiterführende Lektüren.

Im Schlusskapitel (S. 338–350) macht Gammerl noch einmal deutlich, dass durch die Einbeziehung der Oral History und den emotionsgeschichtlichen Ansatz zweierlei deutlich wird: Widersprüchliche Gefühle existieren gleichzeitig, schließen sich zu keinem Zeitpunkt aus, und die homosexualitätengeschichtliche Entwicklung lässt sich im diskursiven, politischen und je subjektiven Rahmen als beständige Auseinandersetzung mit Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung begreifen.

Dieser Aspekt sei hier noch einmal aufgegriffen und an einem Beispiel konkretisiert. Die Untersuchung wird dominiert von Figurationen eines Zwischen, eines Sowohl–als–auch, von Übergängen, Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten. Dies ist keineswegs eine fehlende begriffliche Schärfe, sondern eröffnet ein immens aktuelles Feld des Politischen. So lässt Gammerl Herrn Kuhn zu Wort kommen, der als 20–Jähriger Ende der 1950er Jahre zwar Küsse zwischen zwei Männern als "abartig" empfand, mannmännlichen Sex in dunklen Parks mit Unbekannten jedoch selbst praktizierte. Die zunächst einleuchtend erscheinende Interpretation der "internalisierten Abscheu als Übernahme homophober Muster" ist für Gammerl jedoch zu einfach, weil sie zu eindeutig ist und Herrn Kuhns Ekel als ein "falsches Gefühl" bewertet (S. 56). Stattdessen führt Gammerl aus: "[E]in Kuss konnte eine Anzeige nach sich ziehen, und die einschlägigen Lokale standen meist unter polizeilicher Beobachtung. […] Der Ekel vor Männerküssen lässt sich also auch als ein intuitiver Selbstschutz begreifen, als eine körperliche Intelligenz, die es Herrn Kuhn erlaubte, bestimmte Gefahren zu meiden, ohne sich ihrer gänzlich bewusst zu sein. So gesehen hat ihn seine Abscheu nicht davon abgehalten, sondern sie hat es ihm ermöglicht, bestimmte Formen zwischenmännlicher Intimität zu erleben. Das Konzept der internalisierten Homophobie und die Annahme, dass die Inkorporierung bestimmter Regeln die heteronormative Ordnung sozusagen bruchlos ins Fleisch der Einzelnen hinein verlängert, verstellen den Blick auf diese Vielschichtigkeit der Bezüge zwischen Selbst und Gesellschaft" (S. 57).

In ähnlicher Form deutet Gammerl die produktiven Ambivalenzen im Kontext der in den 1970er Jahren aufkommenden Frage nach öffentlichem Aktivismus und Privatheit: "Letztlich führte gerade das Zusammenwirken politischer und persönlicher Aspekte zu nachhaltigen Errungenschaften. Indem Schwule und Lesben für Emanzipation eintraten und im Alltag unbefangener auftraten, schufen sie semi–private und semi–öffentliche Sphären der Geborgenheit […]. Dadurch verschoben sich die Räume, in denen schwules und lesbisches Leben stattfand. […] Private Rückzugsräume wurden dadurch jedoch mitnichten bedeutungslos" (S. 191–192).

Zwiespältige Gefühle, ein Hin– und Hergerissenwerden, ambivalente Einstellungen und nicht auf einen Punkt zu bringende emotionale Einschätzungen zu jeder Zeit — diese Uneindeutigkeiten erzeugen jedoch keine Beliebigkeit, sondern sind konstitutiv: "Deswegen ist es so wichtig, die historische und biografische Bedeutung ambivalenter Gefühle zu würdigen, anstatt sie als Stolpersteine auf dem Weg zu Freiheit und An-erkennung in Bausch und Bogen zu verwerfen" (S. 138). Folgerichtig enden die Hauptteile des Buches ebenfalls mit der Figuration eines Zwischen: "Ich nahm Frau Opitz als eine ängstliche Person wahr, unter anderem weil sie ihr Leben nicht als eine Erfolgsgeschichte erzählte, die in der Etablierung einer eindeutigen lesbischen Identität gipfelte. Sie begriff diese Nicht–Festlegung dagegen als Beweis ihrer persönlichen Stärke […] Sie ist sich quasi ganz selbstbewusst unsicher über ihre Zu-kunft" (S. 329). Auf etwas Kommendes zu warten, das nicht sicher ist, hat Jacques Derrida in seiner Politik der Freundschaft (1994, deutsch 2000) als Denken des Vielleicht bezeichnet, das einer demokratischen Welt den Weg ebne (vgl. dort insbesondere S. 55–76).

In der zuletzt zitierten Aussage Gammerls wird ein weiterer Aspekt, der in seiner Untersuchung heraussticht, deutlich: die Einbeziehung des Autors selbst. Gammerl reflektiert beständig darüber, dass er selbst Teil des Interviewprozesses ist, dass seine Fragen, seine Mimik und Gestik, sein Forschungsinteresse und seine ihm oftmals möglicherweise gar nicht bewussten Vorannahmen, Bewertungen und Deutungen sowie auch seine eigene Positionierung in die Untersuchung einfließen. Dies ist bei der Arbeit mit historischen Quellen immer so, aber die Reflexion darüber angesichts der Verwendung von Oral–History–Quellen von besonderer Wichtigkeit.

Benno Gammerl hat einen umfassenden Überblick über die Geschichte lesbischen und schwulen Lebens in der BRD nach 1945 vorgelegt. Es ist sein großes Verdienst, den vielfältigen, oftmals widersprüchlichen Wegen lesbischer und schwuler Emanzipation in unterschiedlichen Zeiten nachgegangen zu sein, sie aufgefächert zu haben, ihre Vielfalt als produktiv und ihre Ambivalenzen als konstitutiv beschrieben zu haben. Die Fülle an Details aus den Lebensgeschichten der 32 interviewten Personen kann hier nicht ansatzweise wiedergegeben werden. Gammerl bewertet die Erzählungen nicht, er lässt sie in ihrer Vielfalt bestehen und begreift sie als genuinen Ausdruck eines "Anders–Fühlens". Der Rezensent hätte sich hier und da angesichts der Fülle von pseudonymisierten Erzähler_innen gewünscht, sich in beigefügten Kurzbiografien im jeweiligen Leben der Personen schneller orientieren zu können, doch fällt eine solche Kritik angesichts des methodisch versierten und (auch für mit dem Thema nicht vertraute Leser_innen) äußerst gut lesbar geschriebenen Buches nicht ins Gewicht. Gammerls Buch wird zu Recht ein Longseller werden und über die LSBTIQ*–Community hinaus zahlreiche Leser_innen finden.