Norman Domeier / Christian Mühling (Hg.):
Homosexualität am Hof.

Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute
(Geschichte und Geschlechter, Bd. 74)
Frankfurt a. M. / New York: Campus 2020, 403 S., € 39,95
 

sorry, no cover

 

Rezension von Jakob Michelsen, Hamburg

Erschienen in Invertito 23 (2021)

Die europäischen Fürstenhöfe waren vom Mittelalter bis heute immer Gegenstand von Neugier, Faszination und Kritik. Die vom bürgerlichen Staats– und Politikverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts geprägte Geschichtsforschung behandelte das Phänomen "Hof" jedoch lange Zeit eher am Rande und überwiegend anekdotisch. Seit einigen Jahren hat sich nun, vor allem im Bereich der Frühen Neuzeit, eine historische Höfe– und Residenzenforschung etabliert, die zeigt, dass dieses Themenfeld mehr bietet als Klatsch und Tratsch, dass es vielmehr zahlreiche Einsichten in kultur–, politik– sowie nicht zuletzt sexualitäts– und geschlechtergeschichtliche Zusammenhänge ermöglicht. In den Quellen und Diskursen rund um die Höfe finden sich viele Hinweise auf gleichgeschlechtliche Sexualität, intime Freundschaften und Favorit*innen. Aber nur für wenige prominente "Fälle" existieren hierzu eingehendere Forschungen, die zudem oft rein einzelbiographisch orientiert sind. Zahlreiche relevante Quellen sind noch nicht ausgewertet, oft werden zweifelhafte Anekdotenbestände auch in wissenschaftlicher Literatur unkritisch weitertradiert, und an übergreifenden Untersuchungen mangelt es gänzlich. Der vorliegende Sammelband ist daher sehr zu begrüßen. Er ging aus einer Tagung hervor, die 2017 in Hannover stattfand. Neben einer Einleitung der Herausgeber und einem Fazit (von Franz X. Eder) enthält er 17 Aufsätze. Zeitlich liegt ein deutlicher Schwerpunkt auf Mittelalter und Früher Neuzeit, was kein Wunder ist, denn in dieser Zeit hatten die Fürstenhöfe in Europa zweifellos ihre größte Bedeutung.

Insgesamt sind die meisten Beiträge fundiert und lesenswert. Bedauerlich ist aber, dass sie fast ausschließlich mann–männliche Verhältnisse behandeln. Einzige Ausnahme ist der Aufsatz von Virginia Hagn Freundschaftskult? Die Briefe der Isabella von Parma an ihre Schwägerin Marie Christine (S. 303–324). Ansonsten wird Begehren zwischen Frauen nur an zwei Stellen kurz gestreift: In Andreas Kraß' Beitrag zur mittelhochdeutschen höfischen Dichtung wird eine Stelle in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg genannt, worin sich eine Prinzessin in den als Mädchen verkleideten Helden Achilles verliebt (S. 237). Lucien Bély erwähnt in seinem Beitrag über Homosexuelle Netzwerke am Hof Ludwigs XIV. eine polizeiliche Untersuchung gegen die Gräfin von Murat in Paris 1698 (S. 114–115).

Es drängt sich die Frage auf, ob nicht ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis möglich gewesen wäre. Sicherlich kann ein Sammelband nur die vorhandene Forschungslage widerspiegeln, auch gelingt es nicht immer, gewünschte Beiträge einzuwerben. Ob es entsprechende Bemühungen der Herausgeber gab, ist jedoch nicht ersichtlich, denn das Ungleichgewicht der Geschlechter wird in der Einleitung nicht angesprochen, die Gründe dafür werden nicht benannt. Wenigstens eine Thematisierung an dieser Stelle wäre aber angebracht gewesen. War es beispielsweise wirklich nicht möglich, einen Beitrag aus der beträchtlichen Forschung über die schwedische Königin Christina (1626–1689) oder die englische Königin Anne (1665–1714) und deren Umfeld zu bekommen?

Im Rahmen dieser Rezension kann nicht auf alle Beiträge näher eingegangen werden. Ein großer Teil von ihnen kreist um Favoriten und intime Freundschaften bei Hofe, ihre Einbettung in Patronage–Systeme, die damit verbundenen Machtkonstellationen sowie ihre zeitgenössischen und späteren Wahrnehmungen.

Drei Aufsätze führen ins Mittelalter: Klaus van Eickels setzt seine früheren aufschlussreichen Studien zu mann–männlichen Freundschaftsgesten, Liebe, Sexualität und darauf bezogenen symbolischen Handlungen bei mittelalterlichen Herrschern fort und zieht von dort auch Verbindungslinien zu zwischenmännlichen Verhaltensweisen in der Gegenwart. Einen berühmten "Fall" nimmt Djro Bilestone Roméo Kouamenan in den Blick: Er untersucht die Wahrnehmung des Favoritentums am Hof des englischen Königs Edward II. (1284–1327, regierte ab 1307) in der zeitgenössischen und späteren Geschichtsschreibung. Diese sehr gründliche Quellenanalyse gehört zu den Highlights des Bandes. Kouamenan legt dar, dass Edward in den zeitgenössischen Chroniken primär nicht als "Sodomit" gegolten habe. Geschilderte Verhaltensweisen wie Umarmungen und Küsse zwischen Männern, Schlafen im Bett des Königs etc. seien an sich nicht anstößig gewesen (hier schließt Kouamenan an die Forschungen Klaus van Eickels' an). Kritisiert worden sei vielmehr die Edward zugeschriebene Maßlosigkeit in seinen Gunstbezeugungen und dass er diese Gunsterweise fremden Niederadligen habe zukommen lassen statt den englischen Peers, die den bevorzugten Zugang zum König — und damit Teilhabe an der Herrschaft — als ihr Vorrecht ansahen. Wenn manche der frühen Chronisten, eher nebenher, auch auf gleichgeschlechtlichen Sex verwiesen hätten, habe dies im Kontext der Vorwürfe von Maß– und Zügellosigkeit, Unbeherrschtheit und luxuria (Wollust in allgemeinerem Sinn) gestanden. Erst in späteren Chroniken (ab Ende des 14. Jahrhunderts) sei der Sodomie–Vorwurf häufiger und expliziter geäußert worden. Damit habe einer Tendenz entgegengewirkt werden sollen, Edward zum heiligen Märtyrer zu machen, wie es bei gewaltsam zu Tode gekommenen Herrschern öfter geschehen sei und wozu es auch bei Edward Ansätze gegeben habe. Die bekannte, in ihrem Wahrheitsgehalt zweifelhafte Geschichte von Edwards Tod durch Pfählung mit einem glühenden Eisen habe zunächst weniger Sodomie symbolisiert als vielmehr die maximale Erniedrigung eines entmachteten Mannes. Zudem habe sie einem Topos vom schlimmen Tod böser Herrscher entsprochen. Erst in späteren Jahrhunderten sei die Geschichte von Edwards Absetzung und Tod auf den sexuellen Aspekt verengt worden, was schließlich zur Zuschreibung einer "homosexuellen Orientierung" geführt habe.

Andreas Kraß beschreibt in seinem Beitrag literarische Strategien, mit denen gleichgeschlechtliche Sexualität in mittelhochdeutschen höfischen Dichtungen zur Sprache gebracht wurde. Kraß' Systematisierung schafft einen guten, instruktiven Überblick. Wenn er jedoch im Lindenlied Walthers von der Vogelweide, worin ein — nicht ausdrücklich geschlechtlich bestimmtes, aber mit Sicherheit weiblich gedachtes — Ich einen Geliebten erwartet und das von einem männlichen Sänger dargeboten wurde, die Öffnung eines "imaginativen Raums" für mann–männliche Liebes¬begegnungen sieht (S. 239–240), so scheint mir das eine Überstrapazierung zu sein.

Die Frühe Neuzeit nimmt mit neun Beiträgen den größten Raum im Band ein. Heide Wunder gibt einen präzisen, informativen Überblick über Geschlechterkonzepte und geschlechtsspezifische Machtverhältnisse zwischen Fürstinnen und Fürsten an den deutschen Höfen. Anschließend geht sie streiflichtartig auf fünf Beispiele von mann–männlicher Sodomie bzw. Freundesliebe adliger Herrschaftsträger ein, um vor allem auf die Forschungsdefizite hinzuweisen, die hier besonders in Bezug auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation bestehen. Eine Aufnahme ihrer Anregungen ist sehr wünschenswert, ein Irrtum muss jedoch korrigiert werden: Wunder schreibt (S. 42–43), der Reichsgraf Christian Detlev Rantzau sei 1715 in Berlin lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil mann–männlicher Sex im Kurfürstentum Brandenburg nicht als Kapitalverbrechen gegolten habe. Das trifft nicht zu: Auch in Brandenburg galt wie im gesamten Alten Reich die Constitutio Criminalis Carolina von 1532, in der für Sodomie die Todesstrafe angedroht wurde. Dass diese gegen den Grafen Rantzau nicht verhängt wurde, lag neben seinem Adelsrang zum einen daran, dass ihm kein Analverkehr, sondern nur gegenseitige Masturbation vorgeworfen wurde, die als "unvollendete" Tat galt. Zum anderen war es für den preußischen König Friedrich Wilhelm I. lukrativer, eine hohe Geldsumme aus ihm herauszuschlagen. [1]

Unter den Einzelstudien ist im Alten Reich der habsburgische Hof in Wien durch zwei Beiträge vertreten: den erwähnten Aufsatz von Virginia Hagn sowie denjenigen von Charlotte Backerra über die intimen Beziehungen Kaiser Karls VI. (1685–1740, regierte ab 1711). Beide präsentieren wichtige Forschungen und sind auch qualitativ besonders hervorzuheben.

Backerra schildert die intimen Beziehungen zu Männern und Frauen, die im Leben Karls VI. eine Rolle spielten. Wichtigste Grundlage sind Karls Tagebücher. Sein Kämmerer Michael Johann Graf Althann habe jahrelang bis zu seinem Tod 1722 die Rolle eines "Lebenspartners" eingenommen, der für Karl sowohl emotionale als auch körperliche Bedürfnisse erfüllt habe. Gleichzeitig sei Karls Ehe — die, wie alle hochadligen Ehen, dynastisch–politischen Zwecken diente — durchaus nicht unglücklich gewesen, seine Ehefrau Elisabeth Christine habe nach Althanns Tod die Rolle der Vertrauten übernommen. Hingegen sei Karls Verhältnis zu einem anonymen Jägerburschen offenbar ein rein sexuelles gewesen, ebenso wie mehrere Verhältnisse zu Frauen einfacher Herkunft.

Virginia Hagn ordnet die fast 200 Briefe, die Isabella von Bourbon–Parma (1741–1763) — Ehefrau des Erzherzogs Joseph, ab 1765 Kaiser Joseph II. — an ihre Schwägerin Erzherzogin Marie Christine (1742–1798) schrieb, sorgsam in die Liebes– und Freundschaftsdiskurse des 18. Jahrhunderts ein. In Isabellas intensiven Gefühlsäußerungen verwischten sich die Grenzen zwischen Freundschaft, Liebe und Körperlichkeit, daher sei — mit heutigen Augen gelesen — eine eindeutige Unterscheidung zwischen "Homosexualität" und nicht–sexueller Freundschaft unmöglich. Von den Zeitgenoss*innen wiederum seien Liebe und (meist gleichgeschlechtliche) Freundschaft, die beide eine deutliche körperliche Komponente beinhalteten — etwa in Form von Küssen und Umarmungen —, in engem Zusammenhang gesehen und beide von unerlaubter "Unzucht" abgegrenzt worden. Die Freundschaft habe ein ebenso zentraler Lebensinhalt sein können wie die Ehe, und wegen des herrschenden phallozentrischen Sexualitätskonzepts habe der Verdacht gleichgeschlechtlicher "Unzucht" bei Frauen ferner gelegen als bei Männern (was nicht heißt, dass ein solcher Verdacht nicht auftauchen konnte).

Der Hof des preußischen Königs Friedrich II. (1712–1786, regierte ab 1740) ist ebenfalls Gegenstand zweier Aufsätze, verfasst von Wolfgang Burgdorf und Christian Mühling. Deren Qualität fällt äußerst ungleich aus: Burgdorfs Beitrag über Friedrichs II. angebliche Männerliebschaften, die überarbeitete Fassung eines 2011 erschienenen Buchkapitels,[2] wäre am besten mit Schweigen zu übergehen, wenn jenes Buch nicht bedauerlicherweise ein Verkaufs– und Rezeptionserfolg wäre. Der Text, der grundlegendes Wissen über sexualitätsgeschichtliche Forschungsstände vermissen lässt, ist eine kritiklose Anhäufung dubioser Anekdoten, haltloser Spekulationen und von Quellenzitaten, die meist falsch oder zumindest simplifizierend eingeordnet und ahistorisch interpretiert werden. [3] Dieses Sammelsurium dient der anachronistischen Konstruktion eines angeblich von seiner gleichgeschlechtlichen "sexuellen Orientierung" bestimmten Friedrich, wie es ihn im 18. Jahrhundert gar nicht geben konnte.

Hierfür entschädigt Christian Mühlings lesenswerter Beitrag über Homosoziale Liebe am preußischen Hof des 18. Jahrhunderts, der sich von solchen unseriösen Vereinfachungen aus-drücklich distanziert. Er konzentriert sich auf ein wichtiges Ego–Dokument, die Tagebücher des Grafen Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff (1727–1811). Lehndorff äußert sich vielfach über seine Liebe zu Prinz Heinrich, dem Bruder König Friedrichs II., die sich sowohl auf Heinrichs Charakter als auch auf sein Äußeres bezog. Andere Günstlinge Heinrichs riefen Lehndorffs Eifersucht hervor. Mühling stellt fest, dass hier kein Patronage–Verhältnis vorliege, denn Lehndorff, der Kammerherr bei der Königin Elisabeth Christine war, hatte nie ein Amt an Heinrichs Hof inne und wurde auch, soweit bekannt, nie von ihm gefördert. Eindeutig beschreibe Lehndorff den Prinzen als Mann, der keine Frauen, sondern nur Männer begehre — wobei er aber sowohl Heinrich als auch sich selbst vom Laster der Sodomie distanziere und sexuelle Libertinage bei anderen Höflingen verurteile. Jedoch habe Heinrich zeitlebens im Mittelpunkt von Lehndorffs Gefühlsleben gestanden, während seine zwei Ehefrauen in den Tagebüchern nur wenig emotionale Beachtung fänden. Daran anknüpfende Fragen zum Verhältnis von Liebe und Sexualität im 18. Jahrhundert, speziell zwischen Menschen gleichen Geschlechts im höfischen Milieu, reißt Mühling kurz an, weitere Forschungen dazu — auch anhand der keineswegs ausgeschöpften Lehndorff'schen Tagebücher — sind wünschenswert.

Weitere Aufsätze behandeln mann–männliche Beziehungen im Umfeld der frühneuzeitlichen Höfe des Papstes in Rom (von Günther Wassilowsky) sowie der Könige von Frankreich (von Lucien Bély) und England (von Julie Peakman). Bélys und Peakmans Beiträge bleiben überwiegend deskriptiv und gehen kaum über den bisherigen Forschungsstand hinaus. Peakmans Text ist jedoch gut geeignet, einem nicht–britischen Publikum einen Eindruck von ihrem Thema zu vermitteln. Bei Bély verstimmen stellenweise klischeehafte Behauptungen wie die, Männer seien wegen ihrer "natürlichen Neigung" zur Homosexualität Priester geworden (S. 116).

Wassilowsky betont für den päpstlichen Hof des 15. bis 17. Jahrhunderts die spezielle Bedeutung persönlicher Loyalitäten in einer zölibatären Wahlmonarchie und in einer homosozialen Klerikergesellschaft. Dies und die humanistische Antike–Rezeption hätten in besonderem Maße mann–männliche Beziehungen begünstigt, in denen die Grenzen zwischen geistiger Freundschaft, Homoerotik und praktizierter Sexualität fließend sein konnten. Wassilowsky gibt interessante Hinweise und Forschungsanstöße, aber zwei Einwände seien vorgebracht: Erstens folgert er aus der Tatsache, dass die meisten bekannten Fälle von mann–männlicher Sodomie, die vor römischen Gerichten verhandelt wurden, Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen betrafen, hier sei nicht die "Homosexualität" als solche verfolgt worden, sondern der gewaltsame "Missbrauch". Dieser Begriff entstammt aber einer spezifisch modernen Wertung, die der Frühen Neuzeit fremd war. Kinder und Jugendliche wurden in damaligen Sodomieprozessen grundsätzlich als Mittäter behandelt, sie konnten aber unter Umständen milder bestraft werden. Wassilowskys Quellenbefund erklärt sich wahrscheinlich eher daraus, dass einvernehmliche sexuelle Handlungen seltener entdeckt und vor Gericht gebracht wurden. Zweitens ist zu fragen, inwieweit die klerikale römische Hofgesellschaft wirklich eine rein männliche war, denn neben den männlichen Günstlingen, Geliebten und Freunden gab es auch weibliche Mätressen — Wassilowsky zitiert selbst eine satirische Grabschrift auf den 1484 gestorbenen Papst Sixtus IV., in der von dessen "Lustknaben und Huren" die Rede ist (S. 86).

Andreas Zywietz schließlich widmet sich dem Fall des Komponisten Nicolas Gombert (um 1500 – nach 1550), Kapellmeister am Hof Kaiser Karls V., der wegen Sodomie mit einem Kapellknaben verurteilt, dann aber begnadigt wurde und eine Sammlung von Motetten herausgab, die in der musikhistorischen Forschung als Gnadengesuch und Bußübung gedeutet wird.

An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert bewegt sich der Beitrag von Anna Bers über die Rolle der Homoerotik in dem 1805 erschienenen Roman Kyllenion. Ein Jahr in Arkadien des Herzogs August von Sachsen–Gotha–Altenburg (1772–1822, regierte ab 1804). Bers liefert eine lesenswerte, genaue Analyse dieses in der Forschung lange bekannten, aber selten eingehender untersuchten Werks. Sie erklärt, warum der Autor Herzog August, der als exzentrisch galt und sich gerne in Frauenkleidern zeigte, auf das damals schon als antiquiert geltende Genre der Schäferdichtung zurückgegriffen habe: In der gewollt künstlichen Kulisse eines zeitlich entrückten und realitätsfernen Arkadien und mit den zugehörigen typisierten Gestalten habe er eine Utopie entwerfen können, in der erfüllte homo– und heterosexuelle Begegnungen nebeneinander darstellbar waren, ohne sie zu hierarchisieren und ohne bestimmte Möglichkeiten moralisch abzuwerten. Diese Strategie sei dem "klassischen" Weg homoerotischer Literatur, der Camouflage, genau entgegengesetzt.

In die Moderne führen die Aufsätze von Norman Domeier über die Eulenburg–Affäre (1906–1909) und von Dominic Janes über "queere" (genauer: schwule) Aspekte in der Inszenierung der britischen Monarchie im 20. Jahrhundert. Domeier zeigt in den Vorwürfen gegen den Kreis um den Kaiserberater Philipp Fürst zu Eulenburg die Konstruktion einer potentiell landesverräterischen homosexuellen Clique auf. Der "Topos vom Hof als Tummelplatz effeminierter, national unzuverlässiger Charaktere" habe eine lange Tradition besessen, ebenso das Bild einer "Kamarilla", die den Herrscher insgeheim auf unkontrollierbare und illegitime Weise beeinflusse. Der Sturz des "letzten royalen Favoriten der deutschen Geschichte" habe im öffentlichen Diskurs zur Diskreditierung unkonstitutioneller, nichtinstitutioneller Machtausübung geführt, und die Verbindung traditioneller Bilder einer Höflings–Kamarilla mit sexualwissenschaftlich beeinflussten Vorstellungen von Homosexuellen habe zum Niedergang der Institution "Hof" beigetragen. Domeiers Überlegungen sind bedenkenswert. Es ist allerdings kritisch zu fragen, ob es wirklich nötig ist, sich ohne Distanzierung auf den berüchtigten Nazi–Staatsrechtler Carl Schmitt zu stützen. Die verbreitete Vorstellung, Schmitts theoretisches Denken könne von seinem antidemokratischen, pro–nazistischen Engagement getrennt werden, halte ich für äußerst problematisch.

Den Abschluss bilden zwei Beiträge zu außereuropäischen Themen: Miguel Ángel Lucena Romero beschreibt die Praxis des dabb (sexuelle Attackierung eines schlafenden Mannes durch einen anderen Mann) in der mittelalterlichen arabischen Literatur, und Stephen J. Roddy untersucht Verhältnisse zwischen Beamten–Literaten und Schauspielern (besonders solchen, die Frauenrollen spielten) in Beijing vom späten chinesischen Kaiserreich bis zur frühen Republik anhand eines literarischen Genres, das speziell diesem Thema gewidmet war. Lucena Romeros Zitatsammlung hätte eine genauere Analyse verdient, zudem unterlässt er eine Thematisierung des Gewaltaspekts der geschilderten sexuellen Handlungen. Roddy liefert eine interessante Untersuchung seiner Quellen vor dem Hintergrund zunehmender westlich–kolonialer Einflüsse auf die Geschicke Chinas und des Niedergangs des Kaiserreichs. Der inhaltliche Bezug beider Beiträge zum Thema des Bandes ist allerdings dünn, weil darin die muslimischen Herrscherhöfe nur ganz am Rande erwähnt werden und der chinesische Kaiserhof überhaupt nicht vorkommt.

Mehrere Beiträge des Bandes (van Eickels, Kouamenan, Backerra, Hagn, Mühling, Wassilowsky) arbeiten einmal mehr eindrücklich heraus, dass die uns geläufigen, modernen Begriffe von sexueller Orientierung, Homo– und Heterosexualität, sexueller Identität usw. entweder gar nicht oder nur mit genauem Bedacht auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit angewandt werden können. Diese Aufsätze leisten wertvolle Beiträge zu einem differenzierteren Verständnis der Geschichte von Liebe, Sexualitäten und Freundschaften. In den Aufsätzen von Virginia Hagn, Lucien Bély und Christian Mühling sind allerdings die vielen langen, nicht übersetzten französischen Quellenzitate eine unnötige Hürde für zahlreiche Leser*innen. Es wäre wünschenswert gewesen, ihnen Übersetzungen beizugeben.

Von einem Tagungsband kann nicht erwartet werden, dass er einen Themenbereich vollständig abdeckt oder ein kohärentes Gesamtbild vermittelt. Er kann über aktuelle Forschungen informieren, auf diverse Aspekte eines Themas hinweisen, einzelne davon tiefergehend untersuchen, die Aufmerksamkeit auf bisher unbeachtete Quellen und offene Fragen lenken sowie zu weiteren Forschungen anregen. All das leistet dieser — trotz der erwähnten Männerlastigkeit — empfehlenswerte Band auf eindrückliche Weise.

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[1] Michelsen, Jakob: Die Verfolgung des Delikts Sodomie im 18. Jahrhundert in Brandenburg–Preußen, in: Finzsch, Norbert / Velke, Marcus (Hg.): Queer | Gender | Historiographie. Aktuelle Tendenzen und Projekte, Berlin: Lit Verlag 2016 (Geschlecht — Kultur — Gesellschaft / Gender — Culture — Society, Bd. 20), S. 217–252.

[2] Burgdorf, Wolfgang: Friedrich der Große. Ein biografisches Porträt, Freiburg i. Br. / Basel / Wien: Herder 2011, S. 76–103.

[3] Nur wenige Beispiele: Die Behauptung, ein "Hauptgegensatz" zwischen Friedrich und seinem Vater, König Friedrich Wilhelm I., habe auf der "sexuellen Orientierung" des Kronprinzen beruht (S. 134), wird durch keine der bekannten Quellen gestützt. Friedrichs Dichtung Le Palladion ist nicht "unmissverständlich homoerotisch geprägt" (S. 141), sondern eine frivole Satire, die sich in den von Burgdorf referierten Passagen antiklerikaler Topoi bedient, die in der französischsprachigen Aufklärungsliteratur gängig waren. Der Berliner Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Büsching (1724–1793) kann nicht bedenkenlos als Quelle für "intime" Informationen über Friedrich II. herangezogen werden (S. 145), weil er sich nie im engeren Umfeld des Hofes bewegte und nur wiedergeben konnte, was ihm von anderen erzählt wurde — und über Friedrich II. wurde viel geredet. Burgdorfs Behauptung, Friedrich habe mit seiner Eroberungspolitik ein von ihm aufgrund von Männerliebe und Kinderlosigkeit empfundenes Defizit kompensieren wollen (S. 146–147), ist eine unhaltbare psychologisierende Spekulation.