Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz–Kwiatkowska, Lutz van Dijk (Hg.)
Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten

Berlin: Querverlag 2020, 272 S., € 18
 

sorry, no cover

 

Rezension von Albert Knoll, München & Martin Sölle, Köln

Erschienen in Invertito 22 (2020)

Ein in zweierlei Hinsicht doppeltes Forschungsprojekt präsentiert seine Ergebnisse: Die polnisch–deutsche HerausgeberInnengruppe mit Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz–Kwiatkowska und Lutz van Dijk legt mit Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten eine interessante Zusammenstellung zur Verfolgung von Schwulen, Lesben und anderen sexuellen Minderheiten vor. Wie die HerausgeberInnen schreiben, soll sich die Forschung nicht von heteronormativen Nazi–Definitionen leiten lassen. Interessant ist das Werk nicht nur wegen der Zusammenstellung, sondern auch, weil die Betrachtung nicht 1945 endet und die aktuelle Situation der Gegenwart und der aktuelle Forschungsstand einbezogen werden.

Lutz van Dijk verfolgt seit langem mit großer Leidenschaft ein Thema: das Erinnern an homosexuelle Häftlinge in der KZ–Gedenkstätte Auschwitz. Lutz van Dijks Engagement hat mehrere Ursachen: Zum einen war die Recherche nach der Rosa–Winkel–Häftlingsgruppe im Archiv der Gedenkstätte zentral. Zusammen mit weiteren Aktiven suchte er bereits im Jahr 1989 in den Häftlingslisten nach den Namen der Opfer. Zum anderen war es seine Begegnung und langjährige Freundschaft mit dem aufgrund seiner Homosexualität verfolgten polnischen KZ–Überlebenden Stefan K. (Teofil Kosziński, 1925–2003). Der Auschwitz–Überlebende und Menschenrechtsaktivist Marian Turski schreibt in seinem Vorwort über seine eigene Befangenheit gegenüber Häftlingen mit dem rosa Winkel, die er jetzt mit Scham eine widerwillige, verhöhnende Erinnerung nennt.

Angesichts der Vielzahl an Publikationen der letzten 20 Jahre, die sich dem Thema "Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus" (und zeitlich darüber hinaus) widmen, betritt dieses Buch dennoch Neuland: Das europäische Ausland spielte bei den Untersuchungen bislang nur eine marginale Rolle. Das Werk ist in fünf Teile gegliedert:

Grundlagen und Umfelder

In diesem Abschnitt werden die Lücken der historischen Forschung benannt. Eine Einordnung der Verfolgung und des Gedenkens gelingt nur dann, wenn sich der Blick opfergruppenübergreifend weitet. Dafür sorgt ein einleitender Aufsatz des renommierten Holocaust–Forschers Stephan Lehnstaedt, der eindrücklich die Übertragung der von den Nationalsozialisten vorgenommenen Hierarchisierung der gesellschaftlichen Strukturen und ihrer Opfer in die Nachkriegsgesellschaft aufzeigt und damit Tendenzen offenlegt, die ein allseits beklagtes "Rollback", also die Rückkehr zu längst überlebt geglaubten vordemokratischen Strukturen, aufzeigen.

Autoren wie Michael Berenbaum, der Forschungsdirektor am United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), oder Rüdiger Lautmann, Nestor der Erforschung der Homosexuellenverfolgung, wählen in ihren Beiträgen persönliche Erlebnisse als Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Rüdiger Lautmann schildert darin, wie er persönlich seinen wissenschaftlichen Zugang zum Thema fand und wie dieser sich weiterentwickelte.

Geschichte der Forschung

Anna Hájková nennt ihren Beitrag "Eine unbequeme Geschichte" – warum wir eine queere Geschichte des Holocaust brauchen. Sie benennt die Lücke in der Geschichtsschreibung aufgrund fehlender Zeugnisse und überlieferter Erinnerung. Personen, die als verstörend wahrgenommen wurden, kommen in Zeugnissen nicht vor. Daher fordert sie zum Nachdenken über die "unwürdigen" Opfer auf. Auch das eine Neuheit: Der Blick auf die Verfolgung lesbischer Frauen und lesbischen Verhaltens im Konzentrationslager hat in diesem Sammelband nicht nur marginale Bedeutung, sondern nimmt großen Raum ein. Im homophoben kommunistischen Nachkriegspolen – so Joanna Ostrowska – wurde lesbisches Verhalten in den Berichten der weiblichen Überlebenden immer wieder als "deutsche Krankheit" abgetan, um selber als moralisch unangreifbar zu gelten. "Die sexuelle Frage hängt in den Erinnerungen unzertrennlich mit der nationalen Frage zusammen", so die polnische Soziologin Agnieszka Nikliborc.

Die Publikation betritt mit einem weiteren Thema Neuland: Homosexuelle konnten Funktionshäftlinge werden. Noch brisanter und desto wertvoller ist es, dass die AutorInnen das Thema des Machtgefälles innerhalb des rechtsfreien Raums der Konzentrationslager aufgreifen und der Frage nachgehen, welche Rolle homosexuelle Handlungen darin spielten. Sowohl zwischen Männern als auch zwischen Frauen führte die Ausnutzung dieses Machtgefälles zu traumatischen Erfahrungen der sexuellen Ausbeutung, die vor allem die jugendlichen Häftlinge betraf. Von Anfang an spielte in der Überlebendenliteratur das Thema "Polenjungs" eine Rolle. Seit Eugen Kogons SS–Staat (1946) wurde die sexuelle Ausbeutung von jungen Polen durch privilegierte Häftlinge kolportiert. Die Lagerhomosexualität, für die der Frauenmangel im KZ verantwortlich gemacht wurde, führte nur allzu oft zu einer pauschalen Gleichsetzung mit der Häftlingsgruppe der Homosexuellen. Gefangene mit dem rosa Winkel standen unter Generalverdacht. Joanna Ostrowska und Lutz van Dijk gehen nun im Aufsatz Pipels und Puppenjungen sehr differenziert der Fragestellung nach, unter welchen Bedingungen und von wem diese sexuellen Handlungen ausgingen.

Einzelschicksale

Hier werden von Raimund Wolfert mit drei Beiträgen, Lutz van Dijk, Jörg Hutter und Joanna Ostrowska Fälle von ermordeten und überlebenden Opfern erzählt. Die langjährigen persönlichen Begegnungen, ja Freundschaften, die so selten zwischen den Forschenden und den homosexuellen Überlebenden entstanden, machen dieses Buch überdies lesenswert: Nicht nur Lutz van Dijk, auch Jörg Hutter hatte die Chance, einen Auschwitz–Überlebenden, Karl Gorath (1912–2003), zu treffen, viele Gespräche mit ihm zu führen und schließlich seinen Nachlass zu übernehmen. Die Enttäuschung der Überlebenden über das Nachkriegsdeutschland (und –polen), die Scham über die eigene Verfolgungsgeschichte, die tunlichst verschwiegen wurde, der äußerst selten und leider hoffnungslos geführte Kampf um Entschädigung ziehen sich als roter Faden durch diese Begegnungen.

Inhaltlich überraschend ist die Tatsache, dass es während der deutschen Besatzung auch Polen gab, die nach § 175 verurteilt wurden. Gemeinhin liest man, dass es nahezu ausschließlich Deutsche und Österreicher getroffen habe und einige wenige Männer aus den westlichen Nachbarstaaten. Nicht aber aus den slawischen Staaten – und hier bietet das Buch einige Beispiele, die sich nicht nur auf "Stefan K." beschränken. Auf ihn stieß Lutz van Dijk bereits im Jahr 1990. Seine Lebensgeschichte Verdammt starke Liebe (deutsch 1991, englisch 1995) konnte in polnischer Sprache allerdings erst im Jahr 2017 veröffentlicht werden, 14 Jahre nach "K.s" Tod.

Im Bericht über Roman Igler wird deutlich, dass es sich bei "Stefan K." nicht um eine singuläre Inhaftierung handelte. Zahlreiche Polen, Bewohner des Warthelandes, sind in Gefängnisakten nachweisbar. Im Fall von Igler zog die Haft eine Einweisung in das KZ Auschwitz nach sich. Und das, obwohl er – anders als "K.", der eine Beziehung zu einem deutschen Wehrmachtssoldaten pflegte – "nur" mit polnischen Landsleuten sexuelle Beziehungen hatte. Eine Ausnahme unter Tausenden polnischer homosexueller Männer. Was die Behörden veranlasste, ausgerechnet ihn nach Auschwitz zu bringen, erfahren wir nicht. Die Kennzeichnung in Auschwitz war dann aber der rote Winkel. Nur mit mühsamer Quellenarbeit lassen sich diese Haftwege nachweisen – ein großes Verdienst dieses Buches, den Grundstein dafür gelegt zu haben.

Praktische Konsequenzen

Mit zwei Beiträgen polnischer AutorInnen, Mariusz Kurc und Anna Dabrowska, sowie einem Beitrag von Daniel Baranowski von der Bundesstiftung MagnusHirschfeld wird ein Blick auf die heutige Aufarbeitung, aber auch auf die aktuelle Situation in Polen geworfen.

Sehr beeindruckend ist der Aufsatz von Mariusz Kurc, der seine eigene Geschichte in Polen vor und nach der Wende erzählt. Nicht nur das persönliche Bekenntnis ist sehr berührend, sondern auch das bereits erwähnte "Rollback" im heutigen Polen ist zu erwähnen. Die queere Bewegung wird in Polen zunehmend nicht nur mit staatlicher Repression, sondern auch mit Hass verfolgt. Zum Glück stößt dies auf immer mehr Widerstand.

Van Dijks Gedenkaktivitäten zielen selbstverständlich nicht nur auf Auschwitz und Polen. Seit Jahren versucht er, den "Holocaust–Gedenktag", also das jährlich am 27. Januar wiederkehrende Gedenken des deutschen Bundestages, mit einem zentralen Gedenkakt den wegen ihrer sexuellen Identität im Nationalsozialismus verfolgten Menschen zu widmen. Er hat es geschafft, eine lange UnterstützerInnenliste, die von KZ–Überlebenden über namhafte HistorikerInnen und GedenkstättenleiterInnen bis zu AktivistInnen der LSBTIQ–Szene reicht, zu sammeln. Ein Erfolg ist bis jetzt versagt geblieben.

Biografische Informationen

In einem letzten Kapitel hat Rainer Hoffschildt aus seiner umfangreichen Materialsammlung 136 Einzelschicksale mit Daten rekonstruiert.

Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten ist zu wünschen, dass es auch in Polen veröffentlicht wird. Ein Buch, das neue Ansätze der Forschung zusammenfasst und weitertreibt. Und ein Buch, das in einer Art Mosaik wissenschaftliche Forschung und konkret erlebte persönliche Geschichte zusammenbringt.