André Weibel (Hg.)
Kurt Mettler: Tagebücher 1927–1930

Limmat Verlag 2019, 1050 S., € 59
 

sorry, no cover

 

Rezension von Beat Frischknecht, Zürich

Erschienen in Invertito 22 (2020)

Für Erika und Klaus Mann war er rückblickend nur ein namenloser Schweizer und ansonsten im wahrsten Sinne des Wortes nicht weiter der Rede wert. Wer aber heute das Journal von Kurt Mettler (1905–1930) zur Hand nimmt, welches die letzten vier Jahre seines kurzen Lebens umfasst, dem erschließt sich das so beeindruckende wie faszinierende Porträt eines Juristen, Galeristen, Kunstsammlers, Cellisten und Homosexuellen der Zwischenkriegszeit.

Der jung verstorbene St. Galler und seine Aufzeichnungen wären längst in Vergessenheit geraten, wenn die mehrere hundert Seiten umfassenden Tagebücher von seiner Familie nicht während Jahrzehnten wie ein Schatz gehütet und wenn dieser jetzt nicht dank David Streiff gehoben worden wäre. Streiff, der frühere Direktor des Filmfestivals in Locarno und spätere Direktor des Bundesamtes für Kultur, ist über seine Großmutter mit der Familie Mettler verwandt.

In den Notaten begegnet uns der Prototyp dessen, was man gemeinhin als Sohn aus gutem Hause bezeichnet, stammt Kurt Mettler doch aus einer begüterten Textilhandelsfamilie. Wir lernen ihn bei sich zu Hause in St. Gallen und als Jus–Studenten in Zürich kennen. Wir erfahren vom belasteten Verhältnis zum Vater und von der verblüffend zärtlichen Verbindung zum Zwillingsbruder Arnold. Mit diesem lebt er ein halbes Jahr in New York und reist dann alleine über Asien – wo er mit den Mann–Kindern Japan durchquert – und Russland in die Schweiz zurück. Hier hält er nur kurz inne, um anschließend nach Paris zu ziehen und dort 1929 eine eigene Galerie zu eröffnen. Diesen ungewöhnlichen Lebensstil kann er dank eines Aktienpaketes im Wert einer Viertelmillion Schweizerfranken führen, welches er im Alter von 20 Jahren – der damaligen Volljährigkeit – vom Vater geschenkt bekommen hat. Mettler fliegt, liebt schnelle Autos und fährt im mondänen Engadin Ski. Er lebt ein verschwenderisches Leben, wirkt in seinen Journaleinträgen oft wie ein altkluger Dandy und an zahlreichen Stellen auch schlicht wie ein unsympathischer Schnösel.

Gleichzeitig aber ist er ängstlich, befangen und unsicher. Gertrude Stein hat für die während und nach dem Ersten Weltkrieg Heranwachsenden den Begriff der Lost Generation geprägt. F. Scott Fitzgerald wiederum schrieb, seine Generation sei herangewachsen, nur um "alle Götter tot, alle Kriege gekämpft, jeden Glauben in die Menschheit zerstört" vorzufinden. Genau so war das Lebensgefühl Kurt Mettlers, der die brüchige Gegenwart, in der er lebte, mit feinem Sensorium erfasste. So bietet sein Tagebuch einen einzigartigen Einblick in diese sowohl gesellschaftlich als auch politisch und künstlerisch so dynamische wie rastlose Epoche, in der er geradezu atemlos nach Sinn, Seligkeit und Seelenheil sucht. "Wir sind die neue Generation, an uns liegt es, anders zu denken", verkündet Mettler kühn, um sich im nächsten Moment wieder spießbürgerlich–verklemmten Selbstzweifeln hinzugeben. Er ist ein Zerrissener, der liebend gerne tradierte Werte übernehmen, ja sich an ihnen festklammern möchte, um Halt zu bekommen, der aber gleichzeitig ganz genau weiß, dass sie für ihn keine Gültigkeit mehr haben können. Einer, der sich sehnt, "in der Gesamtheit" aufzugehen und "in den Zusammenhang eingereiht" zu sein, und der innigst wünscht, sich einem Glauben vollkommen hinzugeben, um "seine Zwiespälte zurücklassen und seine vielfältigen Wünsche vergessen" zu können.

Mettler hat schriftstellerische Ambitionen – und Talent! So sind seine dichten Aufzeichnungen sorgfältig und originell formuliert, vielfach gar von literarischer Qualität. Als Vielleser von Klassikern der Weltliteratur sowie der wichtigsten Werke seiner ZeitgenossInnen glaubt er ohne falsche Bescheidenheit sagen zu können, dass sein Tagebuch "unnachahmlich" sei, und der heutige Leser kann ihm in dieser Einschätzung nur lebhaft beipflichten. Mettlers Journal hat seine besten Seiten, wenn er ohne Scheuklappen analysiert, seziert und bewertet. Dabei gelingen ihm zuweilen gar visionäre Wahrnehmungen, etwa an jener Stelle, wo er nach einigen Wochen Aufenthalt in New York erkennt: "Die Amerikaner sind gerne bereit, einem Folge zu leisten. Man könnte sie missbrauchen. Sie sind kritiklos und gutmütig. Man könnte sie am Narrenseil herumführen."

Sein ansonsten so glasklarer Blick und treffsicheres Urteil werden jedoch empfindlich getrübt, wenn es darum geht, sein gleichgeschlechtliches Begehren (an–) zu erkennen. Die aus dem Elternhaus übernommenen und vollkommen verinnerlichten puritanisch–strengen Moralvorstellungen verunmöglichen es ihm, seine Homosexualität zu akzeptieren und sich von den ihn ständig plagenden Skrupeln zu befreien. Mettler verordnet sich Selbstbeherrschung und widersteht den zahlreich notierten Avancen – auch jenen Klaus Manns. Lässt er dann endlich doch mal Gefühle zu, wie während einer Spanienreise gegenüber dem verführerischen Robert Gabert, vermag er dies in den schönsten und sinnlichsten Passagen zu beschreiben. Nach langem innerem Ringen offenbart Mettler schließlich einem Arzt seine homosexuellen Neigungen. Doch auch dann kann er sie nur schwer akzeptieren und es gelingt ihm nicht, seine Sexualität frei zu leben, obwohl er sich Ende der 1920er Jahre in den beiden damaligen schwullesbischen Hauptstädten Paris und Berlin bewegt. In diesem Zusammenhang ist es berührend und beklemmend, wie die zu Beginn nur sporadisch aufscheinenden Depressionen immer stärker werden und es dem ansonsten klarsichtigen jungen Mann nicht möglich ist, den Zusammenhang zwischen melancholischer Verzweiflung und zwanghaft unterdrückter Geschlechtlichkeit zu erkennen.

Kurt Mettler starb überraschend mit nur 25 Jahren in Paris just zu dem Zeitpunkt, als für ihn alle Krisen überwunden schienen und er glaubte, sich in der Hauptstadt der Moderne endlich ins pralle Leben stürzen zu können. Er hinterließ nach seinem Tode einen Riesenberg Schulden sowie seine schockierten Geschwister und Eltern, die später dem Nationalsozialismus huldigten und deren jüngster Sohn als Schweizer Freiwilliger der Waffen–SS in der Ukraine fiel.

Die Herausgabe der Tagebücher Kurt Mettlers hat David Streiff dem Historiker André Weibel überantwortet, der mit den Briefen des Schweizer Gelehrten Johannes von Müller an Graf Louis Batthyány Szent–Iványi aus den Jahren 1802 bis 1803 bereits eine meisterhafte Quellenedition geliefert hat.[1] Dass Weibel sein Handwerk nicht bloß versteht, sondern perfekt beherrscht und sich nicht nur im Ancien Régime auskennt, belegen im vorliegenden Band sowohl sein ausgezeichneter biographischer Essay – welchen man wohl am besten zuerst liest – als auch die unzähligen, teils geradezu epischen Fußnoten mit ihren vielen Verweisen und ihrer Überfülle an Bedenkenswertem sowie das ausführliche Personenregister. Letzteres liest sich wie ein Who is who der Talente und Verkannten, der Berühmten und Mächtigen jener Zeit. Kurt Mettlers soziale Stellung erlaubte es ihm, in die höchsten Kreise vorzudringen und sich in diesen wie ein Fisch im Wasser zu bewegen. Dies gilt nicht zuletzt für den Bereich der bildenden Kunst, die Mettler als Liebhaber und Museumsbesucher, aber auch als Käufer und Verkäufer in ihrer ganzen Breite überblickt, weshalb sein Tagebuch auch KunsthistorikerInnen als wertvolle Quelle dienen wird.

Das Ergebnis von André Weibels Recherche kann man schlicht als grandios bezeichnen! Nicht nur rollt er am Faden dieses einen Lebens hochanschaulich und verständlich Zeitgeschichte, Kulturgeschichte und Kunstgeschichte der Zwischenkriegszeit auf, sondern er leuchtet mit erstaunlicher Präzision und verblüffender Findigkeit jede noch so verborgene Seite von Kurt Mettlers Leben aus. Die Lust an der Wissensvermittlung verbindet sich hier aufs Schönste mit intellektueller Durchdringung verschiedenster Gebiete. Dicke Bücher stehlen sowohl Raum im Bücherregal als auch wertvolle Zeit. Dieser Wälzer rechtfertigt beides.

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[1] Müller, Johannes von: "Einen Spiegel hast gefunden, der in allem Dich reflectirt". Briefe an Graf Louis Batthyány Szent–Iványi 1802–1803, 2 Bde., hg. v. André Weibel, Göttingen: Wallstein Verlag 2014.