Hans Bergemann, Ralf Dose,
Marita Keilson–Lauritz (Hg.)
Magnus Hirschfelds Exil–Gästebuch

Berlin / Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019, 238 S., € 29,90
 

sorry, no cover

 

Rezension von Hans P. Soetaert, Gent, Belgien
Übersetzung: Anna Berger–Wörrishof

Erschienen in Invertito 22 (2020)

Mit der kommentierten Faksimile–Edition von Magnus Hirschfelds Exil–Gästebuch haben die HerausgeberInnen einem persönlichen Dokument Magnus Hirschfelds (1868–1935) zu einem zweiten Leben verholfen. Es wurde 1942 in Brno (damals Tschechoslowakei, ehemals Brünn) buchstäblich aus dem Altpapier gerettet, wobei unklar ist, von wem. Auch Hirschfelds Testament: Heft 2, das 2013 von Ralf Dose im selben Verlag ediert worden ist, wurde auf abenteuerliche Weise aus dem Müll eines Hochhauses in Kanada gerettet. In diesem Fall kennen wir den mutigen Retter, den jungen, aufmerksamen Fotografen Adam Smith. Ralf Doses unermüdliche Suche im Internet und eine Portion Glück machten es möglich, dass das Testament: Heft 2 schließlich in den Besitz der Magnus–Hirschfeld–Gesellschaft in Berlin gelangte. Das Original des Hirschfeld–Gästebuchs dagegen befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Das Archiv kaufte es 1985 von Milena Baumgarten, die es ihrerseits von dem tschechischen Arzt Stanislav Kaděrka zugesteckt bekommen hatte.

Hirschfeld führte das Gästebuch ab November 1933 an verschiedenen Orten in Frankreich, wo er als Emigrant im Mai 1933 aus der Schweiz angekommen war. Das Gästebuch endet mit Hirschfelds Tod in Nizza im Mai 1935. Dass es zwischen Mai und November 1933 unbenutzt blieb, ist damit zu erklären, dass es davor andere Gästebücher gegeben hat, die aber verloren gingen. Hirschfeld selbst nannte diese Büchlein übrigens "Erinnerungsbücher" im Plural (S. 27, Anm. 1). Auch meine eigenen Recherchen ergaben, dass es mindestens ein weiteres Gästebuch gegeben hat, in das sich 1932 eine Reihe schwuler Männer aus der Tschechoslowakei eintrugen. Ich vermute, dass dieses Buch im November 1933 voll war und damit der vorliegende Band Hirschfelds letztes Gästebuch ist.

Hirschfeld ließ in diesem Gästebuch den Menschen, denen er begegnete, alle Freiheit. Jeder, den er dazu einlud und der selbstverständlich auch selbst Lust dazu hatte, durfte sich darin verewigen. So sieht das Gästebuch denn auch ziemlich ungeordnet aus, vor allem weil die Gäste die Reihenfolge der Seiten nicht respektierten. Der chronologisch gesehen früheste Eintrag steht auf Seite 11 des Gästebuchs und stammt von Ende November 1933. Hatte die Anarchistin, Feministin und Publizistin Emma Goldman Angst vor einem Eintrag auf der ersten Seite? Dieser chaotische Aspekt macht das Gästebuch zugleich abwechslungsreich und ungewöhnlich, da die Einträge individuell und stimmungsabhängig erfolgten.

Auch die 83 Fotos lockern das Buch auf und erlauben mitunter einen Blick in den meist sorgenvollen und wehmütigen Gemütszustand der Eintragenden, zumeist aus Deutschland nach Frankreich geflüchtete ExilantInnen. Überdies deckt der Begriff Gästebuch den Inhalt auch deshalb nicht ab, weil Hirschfeld auch selbst gelegentlich darin schrieb und Zeitungsausschnitte oder Ankündigungen seiner Vorträge hineinklebte. Auch das entspricht eher Hirschfelds Bezeichnung "Erinnerungsbuch".

Die Edition dieses auf den ersten Blick anarchisch wirkenden Gäste(– oder Erinnerungs–)buches ist dank der Arbeit der HerausgeberInnen und des Verlages mustergültig und so auch inhaltlich erschließbar geworden. Die 163 beschriebenen Seiten des Originals sind als Faksimile wiedergegeben, daneben finden sich eine solide Transkription der mitunter schwer entzifferbaren Texte und Unterschriften, eine deutsche Übersetzung der fremdsprachigen Texte sowie ausführliche Fußnoten zu Personen und Situationen. Außer einem Personenregister gibt es im Anhang Kurzbiographien zu den mit einiger Sicherheit identifizierten Bekannten Hirschfelds, die sich ins Gästebuch eingetragen haben. Eine Riesenarbeit, die Marita Keilson–Lauritz in den 1990er Jahren begonnen hatte und die, nachdem sie das Ergebnis ihrer Spurensuche Anfang 2016 an die Magnus–Hirschfeld–Gesellschaft abgegeben hatte, von den Mitherausgebern Hans Bergemann, Ralf Dose und Kevin Dubout zu Ende geführt worden ist.

Die Gästebuch–Edition ist unentbehrlich für die Hirschfeld–Forschung, aber auch für die Forschung über die deutsche Exil–Gemeinschaft in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg. Die relativ wenigen deutschsprachigen ExilantInnen in der französischen Hauptstadt standen miteinander in engem Kontakt. Hirschfeld hatte in Paris Kontakt mit anderen bekannten Persönlichkeiten der intellektuellen deutschen Elite, scheint sich aber andererseits nicht allzu sehr auf die mehr politisch ausgerichteten Initiativen der Hitler–GegnerInnen eingelassen zu haben. Die Gründung der Deutschen Freiheitsbibliothek im Februar 1934, die Hirschfeld zusammen mit anderen aus Deutschland Geflüchteten, darunter Alfred Kantorowicz, Alfred Kerr und Egon Erwin Kisch, unterstützte, war eines der seltenen Beispiele politischer Aktivität.

Eingeleitet wird die Faksimile–Edition von einem kurzen Geleitwort von Marita Keilson–Lauritz sowie einem ausführlichen Artikel von Ralf Dose über Magnus Hirschfelds Jahre in Frankreich (1933–1935), der sich auf die neuesten Publikationen und Quellen stützt. Beispielsweise ist ein größerer Abschnitt einer aktuellen Schenkung gewidmet, die Material aus dem Nachlass des niederländischen Psychiaters Max Reiss (1909–2000) enthält. Reiss, der in Paris und Nizza bei Hirschfeld auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft in die Lehre ging, erwies sich durch die in seinem Nachlass erhaltenen Negative als Urheber einer ganzen Reihe der im Gästebuch eingeklebten Fotos. Er hat sich selbst auch in das Gästebuch eingetragen und ist auf einigen Fotos zu sehen.

Hans Bergemann schrieb eine eher technisch–formale Einleitung zum Gästebuch, in der er einen Überblick über die BeiträgerInnen und zu den Fotografien gibt. Oft waren es, wie Hirschfeld selbst, Deutsche im Exil, die Bergemann unterschiedlichen Kategorien zuordnet, etwa "Mitstreiter und Mitstreiterinnen aus der Sexualreformbewegung", "Verwandte, Freunde und Helfer von Hirschfeld", oder "Künstler und Intellektuelle aus Frankreich". Auch eine Kategorie "Gäste aus China" gibt es. Wichtig sind auch Bergemanns Angaben hinsichtlich des weiteren Schicksals der EmigrantInnen: Wer überlebte die Schoa und wer nicht?

Man hat mich gebeten, diese Publikation kurz zu besprechen, weil ich in den vergangenen zehn Jahren mehrfach und intensiv zu Hirschfeld geforscht und publiziert habe. Es ist somit unvermeidlich, dass mir kleinere und größere Fehler auffallen. Diese von Informationen überströmende Publikation ist als Ganzes geglückt, das muss gesagt werden. Aber es ist wie mit Verkehrsunfällen: In dem großen Strom, der gut fließt, fallen sie einfach am meisten auf. Weil Karl Giese mein Spezialgebiet ist, las ich als Erstes seine Kurzbiographie im Anhang und sah, dass sein Todesdatum falsch angegeben ist: Er nahm sich am 16. und nicht am 1. März 1938 das Leben.

Auch habe ich hier und da den Eindruck, dass die verschiedenen MitarbeiterInnen ihre Ergebnisse nicht gut koordiniert haben. So wurde offenbar nicht bemerkt, dass der Name des Arztes Dr. Kaděrka, bei dem das Büchlein gelandet war, im Artikel von Hans Bergemann richtig geschrieben ist, während er in der deutschen Übersetzung der Transkription in Kadárek umgetauft wurde. Dabei haben laut Fußnote vier Personen an der Transkription und der Übersetzung der auf Tschechisch eingetragenen Erklärung zur Rettung des Buches im Jahre 1942 (S. 201, Gästebuch S. 163) mitgewirkt. Überhaupt ist die Transkription dieser für die Überlieferungsgeschichte des Büchleins wichtigen Textseite nicht ganz korrekt und vor allem ist sie leider nur in Hans Bergemanns einleitendem Artikel kommentiert (S. 35). Es wundert mich auch, dass Karl Gieses Handschrift auf den letzten Seiten nicht erkannt wurde (Fußnote 425), zumal seine Handschrift gerade an dieser Stelle ein weiterer Hinweis dafür ist, dass es in der Tat Giese war, der das Buch nach Hirschfelds Tod an sich nahm und die letzte Hand daran legte. Es gibt genug Briefe von Giese, die seine typische Handschrift zeigen.

Ferner vermisse ich bei einigen Fotos Angaben zu der abgebildeten Örtlichkeit. Eine Reihe Fotos wurde eindeutig direkt vor dem Haus in der Avenue Charles Floquet in Paris aufgenommen, in dem Hirschfeld wohnte. Bei einem Foto ist das in der Fußnote angegeben (Gästebuch S. 78), bei anderen nicht (S. 62, 69). Auch bei einem Foto, das deutlich Hirschfeld und einen Kollegen auf der Promenade des Anglais in Nizza zeigt, vor dem Haus (Gloria Mansions), in dem sich Hirschfelds Wohnung befand (Gästebuch S. 149, oben), wurde der Ort der Aufnahme nicht lokalisiert. Eventuell wären rezente Fotos von den Häusern, in denen Hirschfeld damals wohnte, eine nützliche Ergänzung des Anhangs gewesen. Vor allem aber vermisse ich eine wenigstens versuchsweise Datierung des Fotos von Karl Giese und Li Shiu Tong, Hirschfelds letztem Freund, vor dem Berliner Institut (Gästebuch S. 69). Ich vermute, dass das mit Hilfe der inzwischen vorliegenden Biographien und Quellen relativ genau datiert werden könnte, zwischen März und dem Ende des Sommers 1932 (es sind noch Blätter an den Bäumen). Das ist doch ein wichtiger Moment, schon deswegen, weil diese beiden Hirschfelds Vermächtnis nach dessen Tod hätten umsetzen sollen. Außerdem war es wohl das erste und letzte Mal, dass Hirschfelds chinesischer Freund das Institut gesehen hat.

Wenn man abgesehen von diesen Details auch noch eine generelle Kritik äußern darf, dann ist es vor allem bedauerlich, dass – mit zwei Ausnahmen – zur Identifizierung der ca. 50 nicht identifizierten Personen (von insge­samt 260), die sich in das Gästebuch eingetragen haben, keine französischen Archive zu Rate gezogen wurden (siehe unter "Unveröffentlichte Quellen" in dem technisch übrigens gut angelegten Quellen– und Literaturverzeichnis). Meiner Meinung nach hätte in diesen Archiven ein großer Teil der lesbaren, aber nicht identifizierten Namen doch noch zugeordnet werden können, eben weil es größtenteils um deutsche ExilantInnen in Frankreich geht. So fand ich z. B. in den Archives départementales des Alpes–Maritimes in Nizza und den Archives Nationales in Paris relativ mühelos genauere Informationen über die Familie Gordon, als die Fußnote angibt (Gästebuch S. 101, Fußnote 293). Diese Informationen habe ich in meinem Artikel über Hirschfelds Zeit in Nizza 1935–1936 veröffentlicht (siehe Mitteilungen der Magnus–Hirschfeld–Gesellschaft Nr. 50/51, S. 23, Anm. 40). Außerdem hätte man hier erkennen können, dass die Beischrift des Fotos ganz offensichtlich von Gieses Hand stammt. Das nicht identifizierte Zitat übrigens stammt von Helen Keller (1880–1968).

Insofern ist es nicht unberechtigt, dass zwei der HerausgeberInnen dazu aufrufen, die Spurensuche fortzusetzen. Marita Keilson–Lauritz scheint bereits früh von dem Gedanken durchdrungen gewesen zu sein, dass mehr Augen auch mehr sehen. So wurde auf ihre Anregung hin seit der Hirschfeld–Tagung 2004 mehrmals, zuletzt bei der Berliner Ausstellung Sex brennt von 2008, eine Farbkopie des Gästebuches samt ersten Transkriptionen und Annotierungen ausgestellt, mit der ausdrücklichen Aufforderung an die BesucherInnen, Ergänzungen und Hinweise einzutragen.

Doch geht es, wie ich denke, nicht nur um weitere Identifizierungen lesbarer und unlesbarer Namen, sondern auch darum, dass nun das vorliegende Ergebnis von anderen Augen neu betrachtet wird. So erkannte ich zum Beispiel ohne Weiteres Robert Kirchberger auf einem Foto, auf dem die Herausgeber außer dem unübersehbaren Hirschfeld nur unidentifizierbare Personen gesehen hatten (Gästebuch S. 128, das mittlere Foto; Kirchberger vorn im Stuhl sitzend). Dass Kirchberger auf diesem Foto zu sehen ist, besagt wahrscheinlich auch, dass er Ende März 1935 bereits in Hirschfelds Diensten stand. Das ist durchaus neu.

Hans Bergemann arbeitet zurzeit an einem ergänzenden Artikel für die Mitteilungen der Magnus–Hirschfeld–Gesellschaft, in dem er Kommentare und Ergänzungen aufmerksamer LeserInnen zusammenfassen wird.[1] Vielleicht könnte man in Zeiten des Internets weiter gehen: HerausgeberInnen und Verlag könnten erwägen, die Publikation in Zukunft online zugänglich zu machen. Dann kann weltweit mitgelesen und mitgeschaut und miterschlossen werden.

Die Edition des Gästebuches wurde mit Recht und bewusst während der "Archives, Libraries, Museums and Special Collections (ALMS) Conference" vorgestellt, die im Juni 2019 (zum sechsten Mal seit 2006) in Berlin stattfand, nicht zufällig im Haus der Kulturen der Welt, genau dort, wo einst Hirschfelds Institut stand. Dass dieses Gästebuch die Nazi–Zeit überlebte, ist ein kleines Wunder und vielleicht weniger die Folge einer Reihe von Zufällen, wie Marita Keilson–Lauritz in ihrer Einleitung schreibt. Aber diese Publikation sollte uns vor allem auch daran erinnern, dass der größte Teil von Hirschfelds Nachlass verloren gegangen ist oder noch nicht wiedergefunden wurde. Beide Möglichkeiten erklären sich aus der Angst vor den Nazis. Nach der Plünderung von Hirschfelds Institut waren Hirschfeld und seine nahen FreundInnen und MitarbeiterInnen sehr diskret und vorsichtig bezüglich der Aufbewahrungsorte dessen, was ihnen noch geblieben war oder was sie von den Nazis zurückkaufen konnten. Und genau diese Diskretion, die sie alle mit ins Grab nahmen, verhindert heute das Lokalisieren dieser Dokumente und Bücher und erschwert die Erforschung ihrer (Nicht–)Überlieferungsgeschichte. So bleibt zu hoffen, dass die Vorstellung von Magnus Hirschfelds Exil–Gästebuch bei dieser Tagung auch eine gute Gelegenheit war, die Verletzlichkeit des LSBTI*–Erbes, das heute in Archiven, Bibliotheken und Museen bewahrt wird, in eine Perspektive von Vorsicht und Vorsorge zu stellen.

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[1] Nunmehr erschienen als: Bergemann, Hans / Dose, Ralf / Keilson–Lauritz, Marita: Magnus Hirschfelds Exil–Gästebuch. Nachträge und Korrekturen, in: Mitteilungen der Magnus–Hirschfeld–Gesellschaft, Nr. 65/66, Dezember 2020, S. 47–58. Der Text erscheint in Kürze, ergänzt durch weitere Korrekturen, als Broschüre, die bei der Magnus–Hirschfeld–Gesellschaft bestellt werden kann.