Hugh Ryan
When Brooklyn was Queer

New York: St. Martin’s Press 2019, 320 S., $ 22
 

sorry, no cover

 

Rezension von Samuel Clowes Huneke, Washington DC

Erschienen in Invertito 22 (2020)

Seit George Chauncey im Jahr 1994 Gay New York veröffentlichte, sind Historiker*innen der Sexualität daran gewöhnt, die Zeit in den Vereinigten Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg als eine Ära der sexuellen Freiheit zu beschreiben. Chaunceys Meisterwerk zeigt, dass die Jahrzehnte zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des Weltkrieges weder von Schweigen noch von Ignoranz gekennzeichnet waren. Vielmehr stellten diese Jahre eine Art verlorene Glanzzeit der schwulen Subkultur dar.

Zu diesem Thema hat auch Hugh Ryan, ein Historiker und Kurator aus Brooklyn, im letzten Jahr ein Buch veröffentlicht. When Brooklyn was Queer unternimmt den Versuch, das Leben von schwulen, lesbischen, und Trans–Menschen in Brooklyn – dem New Yorker Bezirk gegenüber dem berühmteren Manhattan – zwischen dem Amerikanischen Bürgerkrieg und den Stonewall–Riots 1969 darzustellen. Obwohl dieses Werk auf den ersten Blick Chaunceys Gay New York sehr ähnelt, ist Hugh Ryans Projekt völlig anders, da es, wie schon der Titel zeigt, selbstbewusst "queer" ist.

Der Autor versucht, die queere Perspektive auf zwei Arten darzustellen. Erstens beschäftigt sich Ryan auch mit nicht–schwulen Personen. Das Buch schildert gleichermaßen das Leben von lesbischen Frauen, Trans–Männern und –Frauen und schwulen Männern. Auch race ist für Ryan eine Untersuchungskategorie. Er zeigt, dass die Erlebnisse von schwarzen und weißen Queers sich oft völlig unterschieden. Laut Ryan kann man die queere Geschichte leicht übersehen (oder gar verkennen), "wenn man alle die Umschreibungen, die Umgangssprache und die gesetzlichen Kategorien beachtet", auch wenn das Queere offensichtlich ist (S. 7). Deswegen benutze er den Sammelbegriff "queer".

Zweitens beschäftigt sich Ryan mit der Frage, wie das "queere Brooklyn" ausgelöscht wurde. Die Welt, die Ryan beschreibt, ist eine, in der sexuelle Identitäten noch nicht festgelegt waren, in der Heterosexuelle, Homosexuelle und Trans–Personen (die solche Bezeichnungen allerdings noch nicht verwendeten), zusammen lebten und liebten. Wie diese Welt verloren ging, ist die zentrale Frage des Buches. Laut Ryan ist dies eng mit dem Anstieg enger Sexualitätskonzepte und Geschlechts­identitäten verknüpft. Queere amerikanische Geschichte sei "in den Köpfen vieler Menschen, eine gerade Linie, ein stufenweiser Fortschritt, in dem jahrzehntelang aufgestauter Zorn schließlich in der Öffentlichkeit explodierte". Die Wahrheit sei jedoch "viel komplizierter", also eigentlich queerer (S. 223).

When Brooklyn was Queer ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit dem Dichter Walt Whitman. Der berühmte Autor von Leaves of Grass habe "aufreizende Hinweise" hinterlassen, "die auf die Existenz einer Subkultur weißer Arbeiter, die Männer liebten, hindeuten" (S. 21). Ryan beschäftigt sich mit vielen queeren Dichtern wie Hart Crane und Marianne Moore, die ebenfalls in Brooklyn wohnten. Sogar Klaus und Erika Mann tauchen auf, die Brooklyn in den 1930er Jahren besuchten.

Dank der Industrialisierung wuchs Brooklyn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wurde zur "zweiten Stadt des Imperiums" (S. 17). Insbesondere Brooklyns Häfen und Ufer waren Standorte der queeren Subkultur. Ryan erweckt diese Subkultur mit einer vielfältigen Besetzung wieder zum Leben. Die Prostituierte Loop–the–Loop war beispielsweise eine junge Trans–Frau aus Brooklyn, deren Geschichte von dem Sexualforscher Robert Wilson Shufeldt erforscht und 1917 veröffentlicht wurde. Sie beschrieb eine prächtige Subkultur des sexuellen Exzesses, die noch nicht von starren Kategorien geprägt war. Personen, die sich heute als heterosexuell, homosexuell oder trans* definieren würden, besuchten dieselben Lokale, die alle in den 1920er Jahren wegen des damaligen Alkoholverbots illegal waren.

Persönlichkeiten wie Shufeldt konstituieren die zweite Hälfte von Ryans Geschichte. Obwohl das Buch die ehemalige queere Subkultur Brooklyns preist, will Ryan auch erklären, wie sie zu Ende ging. Sexualforscher, die, wie Michel Foucault einst beschrieben hat, die sogenannte Wahrheit der sexuellen Identität enthüllen wollten, sind für Ryans Geschichte eine Art Gegner, eben weil der Wahrheitsdrang unvereinbar mit einer solchen queeren Subkultur war.

Eine prominente Figur dieser Seite der Geschichte war eine lesbische Frau namens Jan Gay, eine Anhängerin Magnus Hirschfelds. Um ihre Forschungen zur Homosexualität veröffentlichen zu können, sorgte sie 1935 federführend für die Gründung des Committee for the Study of Sex Variants (CSSV). 1941 wurde die Arbeit des Komitees als Sex Variants veröffentlicht, allerdings wurde die Arbeit der queeren MitarbeiterInnen wie Gay von den studierten Autoren in der Studie nicht kenntlich gemacht oder generell abgelehnt. Dieses frühe Werk der Sexologie in den Vereinigten Staaten trug dazu bei, die Homosexualität als eine eindeutige Identität zu konstituieren, und war ein Leitbild für Alfred Kinseys spätere Forschungen.

Wegen des steigenden Interesses und Wissens über Sexualität nahmen die Bemühungen der Gesellschaft und des Staates zu, Sexualität zu kontrollieren und zu regeln. Das Committee of Fourteen war beispielsweise 1905 als privater Temperenzverband gegründet worden. Es interessierte sich aber zunehmend für sexuelle Delikte und erwirkte u. a., dass gleichgeschlechtliche Handlungen 1923 zum ersten Mal in New York kriminalisiert wurden. Anfang der 1930er Jahre endete zudem die Prohibition. Als Alkohol plötzlich wieder legal war und Kneipen wieder öffneten, versuchte man, insbesondere die Polizei, die heterosexuelle Welt neu zu konstituieren, getrennt von der queeren Subkultur.

Die 1940er Jahre waren, laut Ryan, einen Wendepunkt. Wie Allan Bérubé beschreibt auch Ryan, wie der Zweite Weltkrieg eine Art Öffentlichkeit für queere Menschen schuf. Am Beispiel von Christian William Miller, "einem der wunderschönsten Männer im Manhattan der 1940er Jahre", der während des Krieges zur Küstenwache einrückte, zeigt Ryan, wie der Krieg eine Art Befreiung für homosexuelle Männer und Frauen brachte (S. 203). Als Proband für Alfred Kinsey, dessen Bericht zur männlichen Homosexualität von 1948 das wissenschaftliche und das allgemeine Verständnis der Sexualität auf den Kopf stellte, war Miller zudem Liebhaber der Berühmten und Reichen der Stadt, wie Tennessee Williams, für den er mal einen "Gang–Bang" organisierte.

Nach 1945 aber gab es eine schnelle Gegenreaktion. Robert Moses, der Stadtplaner für New York City, der, laut seinem Biographen Robert Caro, für den "Fall Manhattans" verantwortlich ist, zeigte sich gegenüber dem ärmeren Teil Brooklyns, in dem auch queere Menschen zusammenkamen, feindselig. In einer Stadt, die Moses für die wohlhabenden Schichten umbauen wollte, gab es keinen Platz für die Anliegen dieser Menschen. Die queere Subkultur von Coney Island, einem beliebten Badestrand in Brooklyn, wurde teilweise zerstört und die Ufer von Brooklyn wurden planiert. Nach dem Krieg sei schwules Leben "immer isolierter, inselartiger und auch in mancherlei Weise gefährlicher" geworden, "wenn auch größer, sprachfähiger und schließlich politisch mächtiger" (S. 223). Es gab keine gemischten Kneipen mehr und queere Individuen wurden zunehmend von Identität bestimmt.

Hugh Ryans When Brooklyn was Queer ist ein schön geschriebenes Buch und ein Muster dafür, wie queere Geschichte erzählt werden sollte. Obwohl die dargestellte Geschichte zunächst eine Tragödie ist, eine Geschichte der Ausradierung queerer Kulturen, beschließt Ryan sein Buch mit einer Hoffnung: "Ich freue mich auf eine Zukunft, in der wir auch eine Vergangenheit haben, und ich freue mich darauf, sie mit euch zu schaffen" (S. 275).