Alexander Zinn
Wider die "Überidentifikation" mit den Opfern

Streitschrift für einen Paradigmenwechsel in der schwulen und lesbischen Geschichtsschreibung

Übersicht des Beitrags

Alexander Zinn setzt sich in seinem Aufsatz mit der Geschichtsschreibung zur Situation von Schwulen und Lesben im Nationalsozialismus auseinander und kritisiert eine von ihm konstatierte Neigung zur selektiven Wahrnehmung, die in einer Fokussierung auf Opferbiografien gründe. Diese Tendenz zeige sich besonders bei den Themenkomplexen "Jugendverführung" und "Lesbenverfolgung". Bezüglich der verfolgten Männer wird zwischen homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen und Kontakten zu Jugendlichen unterschieden. Polizei und Justiz seien je nach Straftatbestand vorgegangen, sodass die jeweils zugrundeliegenden Strafvorschriften berücksichtigt werden müssten. Bei einem Großteil der von Zinn dokumentierten Fälle lagen die erschwerenden Merkmale nach § 175a oder § 176 vor.

Zinn stellt zur Debatte, ob unsere Vorstellung vom Rosa–Winkel–Häftling als einem "gewöhnlichen Homosexuellen" fehlgehe, weil die Verfolgungsbehörden unter Homosexuellen im Allgemeinen "Jugendverführer" verstanden hätten. Ferner sei das bislang vorherrschende Narrativ über Denunziationsbereitschaft und Homophobie der Bevölkerung infrage zu stellen, da Anzeigen meist von betroffenen Kindern, Jugendlichen oder ihren Eltern erstattet worden seien.

Ferner bezweifelt Zinn die Vorstellung, es habe eine systematische Lesbenverfolgung stattgefunden, und kritisiert anderslautende Aussagen in der Literatur. So sei weibliche Homosexualität während der NS–Herrschaft kein "Verfolgungsgrund" gewesen; eher passten Begriffe wie "Stigmatisierung", "Diskriminierung" und "Toleranz". Zinn kritisiert den biografischen Fokus der bisherigen Literatur, der zu Fehlschlüssen verleite. Darüber hinaus präsentiert er einen neuen Aktenfund, wonach weibliche Homosexualität für Polizeibehörden durchaus von Relevanz gewesen sei, aber keine Verfolgungsmaßnahmen nach sich gezogen habe. Historisch sei von einer wesentlich komplexeren Realität lesbischer Frauen auszugehen, ohne dafür den Verfolgungsbegriff zu bemühen.




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