Martin Reichert:
Die Kapsel

Aids in der Bundesrepublik,
Berlin: Suhrkamp 2018, 272 S., € 25.
 

sorry, no cover

 

Rezension von Kevin–Niklas Breu, Oldenburg

Erschienen in Invertito 20 (2018)

Gut zwanzig Jahre nach Einführung der ersten effektiven Langzeittherapie für HIV–Positive im Jahre 1996 erscheint der Umgang mit dem einst tödlich verlaufenden Immunschwächesyndrom Aids weitgehend normalisiert. Fern und fremdartig wirken Berichte über eine vermeintliche "Lustseuche" (Der Spiegel, Nr. 22, 1981), deren Ausbreitung dem Lebensstil sogenannter gesellschaftlicher Randgruppen zugeschrieben wurde. Fern auch die Gegenwart von Ausgrenzung und Kriminalisierung, Krankheit und Tod, die das Leben mehrerer Generationen HIV–Positiver und ihrer Angehörigen seit Ausrufung der Epidemie im Jahre 1981 geprägt haben. In der hier besprochenen Publikation widmet sich der Historiker und Journalist Martin Reichert den Erinnerungen der ersten und zweiten Generation HIV–Positiver, die sich aufgrund anhaltender Traumata und Schuldgefühle einerseits und gesellschaftlichen Desinteresses andererseits zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hätten (S. 7f.).

Reicherts Fokus liegt explizit auf den Erfahrungen schwuler Männer. "Aids", so die Begründung des Autors, "wurde zu einem Teil ihrer Geschichte" und "ist wie der Paragraf 175 gleichsam eingeschrieben in ihre DNA." (S. 7) Gerade aber die vom Autor vorgenommene Gleichsetzung von Schwulen– und Aids–Geschichte verdeckt die gesellschaftliche Vielschichtigkeit der von der Immunschwächekrankheit Betroffenen. Zu ihnen gehören neben schwulen Männern etwa auch Hämophile, intravenöse DrogengebraucherInnen, SexarbeiterInnen, Gefangene und ImmigrantInnen. Befragt wurden konkret WissenschaftlerInnen, MedizinerInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und eine Politikerin. Zu den bekanntesten zählen etwa der Verleger Bruno Gmünder, der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker und die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth. Zusätzlich berücksichtigt Reichert eine Vielzahl von Quellen, die vor allem Presseartikel, wissenschaftliche Studien, Gesetzestexte und Veröffentlichungen der Deutschen Aidshilfe umfassen.

Der Aufbau des Werkes orientiert sich an den Entwicklungsphasen der bundesdeutschen Schwulenbewegung. Diese reichen von der Befreiungsbewegung der 1970er Jahre über die Gründung und Institutionalisierung der Aidshilfe–Bewegung in den 1980er Jahren und die Proteste von Aids–AktivistInnen Ende der 1980er bis in die Mitte der 1990er Jahre. Darüber hinaus werden die gegenwärtige Archivierung und Ausstellung von Beständen zu HIV/Aids ebenso wie aktuelle Trends in der Aids–Forschung und Präventionsarbeit berücksichtigt. In jedem der insgesamt fünf Kapitel setzt Reichert zudem thematische Schwerpunkte, die soziokulturelle genauso wie gesundheits– und sozialpolitische sowie wissenschaftliche Fragen zu HIV/Aids berühren. Reicherts Arbeit zeichnet sich vor allem durch gründliche Recherchen und eine hinreichende Kontextualisierung der ZeitzeugInneninterviews aus. Damit schlägt er eine wichtige Brücke zwischen einer "großen Erzählung" und den persönlichen Erinnerungen und Einsichten, die erst gemeinsam ein vollständiges Bild der Epidemie ergeben. Reichert verwendet große Mühe darauf, die im Rückblick widersprüchlich erscheinenden Reaktionen auf die HIV/Aids–Epidemie herauszuarbeiten.

In der Einführung erläutert Reichert treffend, dass HIV/Aids in der BRD als vermeintliche Homosexuellen– bzw. US–Krankheit in den ersten Jahren weder von PolitikerInnen noch von LSBT–AktivistInnen als Problem der öffentlichen Gesundheit ernst genommen worden sei. Dies habe sich erst 1984 nach dem Bekanntwerden der ersten Krankheitsfälle in Europa geändert. Den damit einhergehenden "Aids–Schock" in Europa begriffen viele Betroffene als Ende einer Zeit der von der 68er–Generation erkämpften sexuellen Freiheit, wie das Interview mit der Theatermalerin Maja Zogg und dem Schauspieler Udo Hartmann verdeutlicht (S. 21).

In dieser Übergangsphase habe auch ein zunehmendes Unwohlsein mit bestehenden Rollenbildern gewurzelt. Dies zeigt der Autor im ersten Teil anhand der teils bis heute nachwirkenden widersprüchlichen Wahrnehmung von Ledermännern als bewundernswerte Avantgarde einerseits und als hedonistischer schwuler Jetset andererseits. So behauptet der Journalist Jan Feddersen, man habe "sehr wohl erkennen [können], ob jemand infiziert war" (S. 56). Reichert kommentiert diese Aussage zwar nicht unmittelbar, kontextualisiert sie jedoch mit Verweis auf das breit dargestellte ambivalente Verhältnis der westdeutschen Schwulenbewegung zur US–amerikanischen. Die bei linken LSBT–AktivistInnen vorherrschende Abneigung, mit VertreterInnen des Staates zusammenzuarbeiten, habe in nicht unerheblichem Maße auch die Entstehungsphase der Deutschen Aidshilfe begleitet. Diese wurde als Dachverband unter anderem von der Krankenschwester Sabine Lange und dem Verleger Bruno Gmünder 1983 in Berlin gegründet. Bereits in den ersten Jahren wurde das Projekt vom Berliner Gesundheitssenator finanziell gefördert, ab 1987 auch vom Bundesministerium (S. 44, S. 49).

Dieser, wie Reichert den Frankfurter Rechtsprofessor Günter Frankenberg zitiert, "verlegene Triumph des Pragmatismus" (S. 73), der sich im Primat des Präventionsgedankens niederschlug, sei keineswegs politisch vorgegeben gewesen. Im Gegenteil, dies hebt Reichert im zweiten Teil hervor, verlief der Graben zwischen BefürworterInnen eines gemeinnützig getragenen Aufklärungsprogramms und UnterstützerInnen staatlich geregelter Seuchenschutzmaßnahmen quer durch die Unionsparteien. Die beiden Lösungsansätze, die jeweils mit der Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth und dem bayerischen Staatssekretär des Inneren Peter Gauweiler verbunden waren, hätten sich dabei keineswegs ausgeschlossen. Dies verdeutlicht Reichert treffend mit einem Exkurs zum sozialdemokratischen Schweden (S. 91–95). Ferner problematisiert er Süssmuths vermeintlich weniger repressiven Kurs, der im Zeichen des aufkommenden neoliberalen Denkens in der Politik gestanden habe. Der Leitgedanke, dass die Förderung einer bewussten Lebensführung durch nichtstaatliche Akteure maßgeblich zur Gesundheit beitrage, finde sich etwa in der 1986 von der WHO verabschiedeten Ottawa–Charta. Die damit einhergehende Aufwertung von Familie, Nachbarschaftsvereinen und gemeinnützigen Community–Organisationen als Health–Promoter habe dabei jedoch nicht das grundsätzliche Interventionsrecht des Staates ausgeschlossen. So sei die Präventionsarbeit der Aidshilfe trotz einiger Vorbehalte an die Vorgabe geknüpft gewesen, HIV–Tests als Präventionsmittel anzubieten. "Uneinsichtige", die riskierten andere zu infizieren, seien zudem auch außerhalb Bayerns, in dem ab 1987 ein am Bundesseuchengesetz orientierter Maßnahmenkatalog griff, strafrechtlich verfolgt worden. Reichert zitiert in diesem Zusammenhang die SPD–Abgeordnete Irmgard Karwatzki, die 1983 in einer Bundestagsdebatte zum Thema HIV/Aids betonte, das 1961 verabschiedete Bundesseuchengesetz schwebe "wie ein Damoklesschwert über den Aids–Debatten" (S. 29).

Ähnlich wie im Falle des HIV–Tests hätten aber auch die vom Bundesgesundheitsministerium finanzierten Befragungen über Sexual– und Schutzverhalten schwuler Männer in der Kritik von LSBT–AktivistInnen gestanden. Neben datenschutzrechtlichen Vorbehalten hätten einige auch die Bewerbung von Kondomen zur HIV–Prävention als problematisch angesehen, da diese allgemeiner Sorglosigkeit Vorschub leiste. Befürworter sexueller Selbstbestimmung, wie die Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch und Martin Dannecker, hätten jedoch nach Möglichkeiten gesucht, sexuelle Lust angesichts persönlicher Verluste, gesellschaftlicher Stigmatisierung und negativer Selbstzuschreibungen zu bewahren. Das Bestreben, das Ideal sexueller Freiheit in eine neue Zeit zu übertragen, zeigt Reichert nicht nur anhand der von der 68er–Revolte maßgeblich beeinflussten Generation von WissenschaftlerInnen auf. Auch Fachleute wie der Kommunikationsberater Hans Hütt seien daran interessiert gewesen, neue sexuelle Verhaltensnormen wie die des Safer Sex zu etablieren (S. 120).

Im dritten Teil beschreibt Reichert dezidiert die maßgeblich von WissenschaftlerInnen und Aids–AktivistInnen vorangetriebene Suche nach einer Therapieform, die den 1987 eingeführten und lange Zeit einzigen legalen Wirkstoff AZT ersetzen sollte. Dieser reduzierte nur zeitweilig die Viruslast im Körper und setzte vielen Betroffenen insbesondere aufgrund der anfangs noch zu hohen Dosis schwer zu. Reichert verweist hier zu Recht auf die Erfolge und den Vorbildcharakter der US–amerikanischen ACT–UP–Gruppen, die auf verschiedenen Ebenen weichenstellende Veränderungen in der staatlich regulierten Medikamentenforschung und –zulassung erzielten (S. 133f.). So stießen sie etwa die Gründung von sogenannten buyers clubs zur legalen Einfuhr (noch) nicht zugelassener Medikamente und Nahrungsmittelzusätze an, drängten erfolgreich auf die Beschleunigung von Zulassungsverfahren sowie auf die Mitgestaltung von Medikamentenstudien. Darüber hinaus erwähnt Reichert aber auch den Trend gegen die Medikalisierung von Menschen mit HIV/Aids, der parallel zu den wissenschaftlichen Erfolgen in den 1990er und 2000er Jahren verlief. Sehr anschaulich beschreibt er, wie das "chemische Regime" in Form von "Medikamentencocktails" und "Pillenweckern" das Leben von Menschen mit HIV/Aids bestimmte (S. 137f.). Die Frage der Einhaltung therapeutischer Vorgaben sei in der Praxis jedoch höchst unterschiedlich geregelt worden. Dass dies zum Teil bis heute der Fall ist, zeigt Reichert am eindrucksvollsten im Interview mit dem Mediziner Horst Wesselmann, der in Berlin eine Schwerpunktpraxis leitet. Hier gewinnen die LeserInnen Einsichten in die Lebenswirklichkeiten von Frauen, ImmigrantInnen und DrogengebraucherInnen, die aufgrund unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen eigene Bewältigungsstrategien mit der Krankheit entwickelt haben. Bedauerlicherweise räumt Reichert den Biografien dieser Menschen nicht mehr Platz ein.

In den beiden letzten Kapiteln widmet sich Reichert den Entwicklungen nach 1997. Im vierten Teil beleuchtet er die langfristigen Folgen der neoliberalen Gesundheitspolitik vor dem Hintergrund eines zunehmenden Gesundheits– und Körperkultes: Junge, glatt rasierte Körper, wie sie häufig auch in Präventionskampagnen und in der Pharmawerbung benutzt wurden, hätten dabei Menschen mit eingefallenen Gesichtern und Fettverteilungsstörungen gegenübergestanden. Lange Zeit seien diese Erscheinungen häufige Nebenwirkungen der Aids–Medikamente gewesen. Die Frage der richtigen Repräsentation lässt Reichert von den TeilnehmerInnen der 2016 abgehaltenen Konferenz "Positive Begegnungen" diskutieren (S. 178 – 181). Mit der Frage nach der Aufarbeitung von HIV/Aids setzt sich Reichert exemplarisch auch anhand des Berliner Aids–Archives und deutsch–deutscher Biografien auseinander. Im fünften Teil wiederum schildert er anhand persönlicher Begegnungen mit HIV–positiven Männern in unterschiedlichen Settings, darunter ein Positiven–Treffen in der Akademie Waldschlösschen und eine Bareback–Party in Berlin, welche unterschiedlichen Bewältigungsstrategien Langzeitpositive entwickelt haben. Diese reichen von der Vernetzung mit Gleichgesinnten bis hin zur kontrollierten Überschreitung gängiger Präventionsregeln.

Reicherts Studie stellt einen wichtigen Anfang zur Aufarbeitung der Kulturgeschichte von HIV/Aids dar. Reichert nimmt sich in zweierlei Hinsicht einer wichtigen Aufgabe an: Zum einen zeigt er die Tragweite der Epidemie auf, die die gesellschaftliche Entwicklung in der BRD auf allen Ebenen, von der politischen Öffentlichkeit bis in den vermeintlich privaten Bereich von Sexualität und Partnerschaft, maßgeblich beeinflusste. Zum anderen leistet er einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Präventionsdebatten, in denen Grundfragen zu individueller Verantwortung, sozialer Anerkennung und sexueller Selbstbestimmung wieder neu gestellt werden. Als problematisch erweist sich der Blick auf Aids als Geschichte schwuler Männer. Reichert ignoriert hier die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Stigmatisierung von ImmigrantInnen, geistig Kranken, Drogenabhängigen und Gefangenen als vermeintliche InfektionsträgerInnen in medizinischen und politischen Diskursen. Insbesondere die persönlichen Schicksale dieser Betroffenengruppen bleiben notgedrungen marginal. Bei seinen InterviewpartnerInnen handelt es sich zum größten Teil um weiße schwule Männer mit Universitätsabschluss. Trotz dieser bewussten Einschränkung bei der Auswahl der Befragten vermag es Reichert, die Parallelen in deren Lebensverläufen herauszuarbeiten, die nahezu alle in unterschiedlichem Maße von vorzeitigem Karriereende, sozialem Rückzug, dem Abschied vom Partner und dem Schweigen der Herkunftsfamilie geprägt sind. Ebenso gut versteht es der Autor, bestimmte Einstellungen zu HIV/Aids–Prävention und –Behandlung in öffentlichen politischen, medizinischen und gesellschaftlichen Debatten der 1980er und 1990er Jahre zu verorten und diese damit als nachhaltige diskursive Denkmuster zu entlarven. Alles in allem legt Reichert ein gut recherchiertes und überdies kurzweilig geschriebenes Buch über die HIV/Aids–Epidemie in der BRD vor, das in jeder Hinsicht eine Pionierarbeit darstellt.