Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser,

vor euch bzw. Ihnen liegt tatsächlich die 20. Ausgabe von Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Seit 1999 versuchen wir, die Forschungslandschaft mit Beiträgen zur Geschichte gleichgeschlechtlichen Lebens und punktuell auch trans- und intergeschlechtlichen Lebens zu bereichern. Rund 140 größere und kleinere Aufsätze, circa 160 Rezensionen und zahlreiche Vorstellungen von Archiven und Sammlungen haben wir in den letzten 20 Jahren veröffentlicht. In den ersten sieben Jahren erschien Invertito mit Schwerpunktthemen, dann ohne, jeweils dem Angebot der Artikel folgend, und seit Jahrbuch 19 wechselnd mit und ohne Themenfokus. Die Themen reichen zeitlich vom Mittelalter bis zur Aids-Krise der 1980er Jahre und räumlich von Nordeuropa bis Lateinamerika, wobei aber der deutschsprachige Raum in einem Großteil der Beiträge im Mittelpunkt steht. Damit hat Invertito zu einer Erweiterung der Forschung über gleichgeschlechtliches Begehren beigetragen. Denn noch immer sind die Publikationsmöglichkeiten für Forschungsergebnisse zu Themen, die im üblichen akademischen Betrieb zu wenig Beachtung finden, rar und durch den Run von Lehrenden auf Publikationspunkte für Veröffentlichungen zum Teil noch geringer geworden.

Manche Themen bzw. Zeiträume sind in Breite und Tiefe recht gut erforscht, wie etwa die Verfolgung männerbegehrender Männer in der NS-Zeit, andere sind noch sehr unterbelichtet, insbesondere die Zeiten vor der Moderne im deutschen Sprachraum. Aktuelle Debatten wie die über die Erinnerungskultur in Deutschland und anderen Ländern wurden und werden in Invertito ebenfalls aufgegriffen. Denn Invertito versteht sich auch als Forum für Debatten und als Plattform, auf der Kontroversen ausgetragen werden können. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass niemand unserem Aufruf zur Debatte über eine zukünftige inhaltliche, theoretische und methodische Positionierung von Invertito in der letzten Ausgabe gefolgt ist. Vielleicht besteht gegenwärtig kein Bedarf an der expliziten Klärung solcher Fragen.

Die Mehrzahl der publizierten Beiträge beschäftigt sich mit mannmännlichem Begehren bzw. mannmännlicher Erotik und Sexualität, denn nach wie vor ist die Zahl der Forschungsbeiträge zu frauenbegehrenden Frauen deutlich geringer, sodass ein ausgewogenes Verhältnis nur selten möglich war und ist. Heute wie damals gilt daher, dass wir uns über Beiträge über gleichgeschlechtliches Begehren von Frauen besonders freuen. Mit der Erweiterung der Theorieperspektiven und der internationalen Forschungslandschaft in den letzten Jahren sind die Beiträge auch bei uns etwas queerer geworden. Theoretische und methodische Debatten sind aber, ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft allgemein, nicht zentral, sondern prägen die meisten Beiträge eher, ohne dies hervorzuheben.

Ein Großteil der Beitragenden sind HistorikerInnen, die aber nicht beruflich über die Geschichte des gleichgeschlechtlichen Begehrens forschen, da im deutschsprachigen Raum nach wie vor fast niemand davon leben kann. Dass das Forschen und Publizieren nebenbei geschieht, ist einer der Gründe dafür, dass Invertito nicht immer pünktlich erscheinen kann. Ob eine Beschäftigung mit gleichgeschlechtlichem Begehren nach wie vor einer akademischen Karriere abträglich ist, wie etwa der Siegener Literaturwissenschaftler Wolfgang Popp (1935–2017) 2008 resignierend feststellte, können wir schwer einschätzen. Dass zum einen nur wenige Menschen zu unserem Themenbereich forschen und publizieren und zum anderen Professuren, die sich mit gleichgeschlechtlichem Begehren beschäftigen, wieder verschwinden, lässt dies vermuten. Jedoch gibt es bei genauerem Hinsehen derzeit unterschiedliche Entwicklungen, die sich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Einerseits ist es weiterhin so, dass manche sich erst trauen, mit Themen zur Geschichte gleichgeschlechtlichen Begehrens hervorzutreten, wenn sie eine sichere Stelle (mit anderem thematischem Zuschnitt) erreicht haben. Andererseits gibt es inzwischen durchaus akademische Karrieren, die auf Arbeiten zu lesbisch-schwulen oder queeren Themen aufbauen.

Es stellt sich auch die Frage, ob und inwiefern die Geschichte gleichgeschlechtlichen Begehrens ein Forschungsfeld sui generis darstellt und inwiefern sie inzwischen verstärkt Teil anderer Forschungsfelder geworden ist. Kann es sein, dass lesbisch-schwule Geschichtsforschung inzwischen häufig entweder stattfindet, wenn es ein spezielles politisches Interesse gibt – in Deutschland vor allem in Bezug auf die faschistische und postfaschistische Verfolgungsgeschichte – oder wenn das Thema an ein anderes Forschungsfeld, das gerade starkes Interesse erfährt, andocken kann, beispielsweise Gender Studies, politische Kulturgeschichte oder postcolonial studies? Falls dem so ist: Wie ist dies zu bewerten? Überspitzt gefragt: Wie sinnvoll sind heute noch Strukturen, die speziell der Erforschung gleichgeschlechtlicher Erotik, Sexualität usw. gewidmet sind? Es steht außer Frage, dass das ursprünglich notwendig war als Teil emanzipatorischer Politik, um der Marginalisierung und Diskriminierung auch im Wissenschaftsbereich etwas entgegenzusetzen und überhaupt sichtbar zu werden. Aber inwiefern trifft das heute noch zu? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Einerseits ist es gut und horizonterweiternd, wenn lesbisch-schwule Forschung in größere Zusammenhänge eingebettet wird. Andererseits könnte dies vielleicht dazu führen, dass das Thema "Homosexualitäten" verschwimmt und, auf andere Art als früher, wieder "unsichtbar" wird. Gibt es nicht wichtige Themen, die ohne ein spezifisches lesbisch-schwules – oder queeres – (identitäres) Interesse gar nicht betrachtet würden, etwa die Geschichte der Homosexuellenbewegung?

Solche Fragen stellen sich nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der derzeit sehr widersprüchlichen gesellschaftspolitischen Situation "queerer" Menschen im weitesten Sinne. Einerseits gibt es weiterhin Tendenzen zu mehr Akzeptanz: von der "Ehe für alle", wenn man diese als Indikator für Akzeptanz ansehen möchte, über Repräsentationen im populärkulturellen Mainstream bis hin zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur dritten Geschlechtsoption. Andererseits werden Homophobie und Sexismus wieder zunehmend offener und vehementer geäußert und stoßen in- und außerhalb des politischen Raumes auf beunruhigende Zustimmung. In welche Richtung sich das alles entwickeln wird, kann zurzeit wohl niemand voraussehen. Es ist offensichtlich kein Zufall, dass in letzter Zeit in Deutschland auffallend viele Bücher – meist Sammelbände – erscheinen, die sich mit politischen Grundfragen von aktueller Homophobie, "queerer" Sichtbarkeit, Emanzipations- und Identitätspolitik usw. auseinandersetzen. Sicherlich wird all dies nicht ohne Auswirkungen auf inhaltliche und strukturelle Fragen künftiger historischer Forschungen bleiben.

An Universitäten gibt es heute kaum mehr Personen, die über die Geschichte gleichgeschlechtlichen Begehrens forschen und publizieren, als vor 20 Jahren. Obwohl die Zahl der geschlechtergeschichtlichen Untersuchungen insgesamt gestiegen ist und manche nicht einschlägige Untersuchung auch Geschlecht berücksichtigt, ist die Erkenntnis, dass auch Geschlecht und Begehren zentrale Kategorien bei der Analyse von historischen Phänomenen sind, nur punktuell in den akademischen Mainstream eingeflossen. Dies gilt für die deutschsprachige Forschungslandschaft noch stärker als für die englischsprachige. Nur wenn ein Zugriff auf Forschungsgelder winkt, ist das Interesse an Universitätsinstituten breiter geworden. Umgekehrt gibt es durch ein größer gewordenes politisches Interesse hier und da manchmal Forschungsgelder, etwa die Förderung der Aufarbeitung von LSBTIQ-Verfolgung und -Lebenswelten in der NS-Zeit – zum Teil in Verbindung mit der Zeit nach 1945, wie jüngst in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen. Diese Forschungsmittel stehen unter anderem im Kontext der politischen Debatten um die Rehabilitierung der Männer, die nach § 175 StGB verurteilt wurden – in der NS-Zeit, aber auch nach 1945. Zudem wurde in den Projekten in Rheinland-Pfalz und Hessen der Blick darauf gewagt, wo und wie staatliche Diskriminierungen gegenüber gleichgeschlechtlich begehrenden Frauen aufzuspüren sind. Die genannten Untersuchungen sind aber nur zeitlich begrenzte Projekte und keine dauerhaften Strukturen; die Forschungsprojekte über Hessen und Rheinland-Pfalz waren außeruniversitär. Ansonsten gibt es an den Universitäten Forschungsmöglichkeiten im Rahmen von Gender Studies oder in den vielfältigen Kulturwissenschaften. Ob die Forschung insgesamt eine Ausweitung erfährt, lässt sich schwer einschätzen, da es keine verfügbaren Zahlen gibt. Zur Ausweitung von Finanzierungsmöglichkeiten hat nicht zuletzt die Gründung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld beigetragen, für deren Errichtung auch der FHG mitgekämpft hat. Auch gibt es Signale einer Etablierung wie etwa 2014 die erste Sektion zur lesbisch-schwulen Geschichte auf einem Deutschen Historikertag. Dennoch dürfte kein Zweifel bestehen, dass die Erforschung der Geschichte der Homosexualitäten nach wie vor ein Nischenthema ist, dessen Bearbeitung fast immer den so genannten "Betroffenen" obliegt und daher quasi mit einem Selbst-Outing verbunden ist – Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die Welt, auch die wissenschaftliche Welt, ist in den letzten Jahren digitaler geworden. Eine Onlineplattform haben wir von Anfang an, auf der Abstracts aller Artikel auf Deutsch und Englisch sowie alle Rezensionen zu finden sind, womit wir mit zu den Ersten gehörten, die dies anboten. Seit Heft 13 von 2011 gibt es Invertito auch als PDF-Datei, was nicht der letzte Schritt hin zu einer digitalen Verfügbarkeit des ganzen Jahrbuches und einzelner Beiträge gewesen sein wird.

Invertito versteht sich ausdrücklich als Plattform, auf der interessante Beiträge von qualifizierten ForscherInnen veröffentlicht werden können, unabhängig von akademischen Titeln, universitärer Anbindung oder Zugang zu Personen mit entsprechendem Status, Lebensalter oder Geschlecht.

Invertito lädt nach wie vor etablierte WissenschaftlerInnen und Hochschullehrende ebenso zur Mitarbeit ein wie Studierende, gerade erst Examinierte und semiprofessionelle sowie nicht akademische ForscherInnen. Alle Texte sollen sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen genügen als auch für interessierte Nicht-WissenschaftlerInnen lesbar sein.

Nach wie vor wird Invertito vom Fachverband Homosexualität und Geschichte ohne SponsorInnen oder Werbeeinnahmen herausgegeben und hat Angebote einer universitären Anbindung ausgeschlagen. Dies hat uns unsere Unabhängigkeit erhalten, nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch. Denn die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass eine Anbindung an einen an einer Hochschule Lehrenden nicht automatisch eine dauerhafte Absicherung bedeutet, wie wir durch das Ende des Forums Homosexualität und Literatur nach der Emeritierung Wolfgang Popps schmerzlich erfahren mussten. Andererseits wäre es wünschenswert, wenn jemand für die Betreuung, die Erstellung und den Satz der Zeitschrift bezahlt würde. Die gegenwärtige Redaktion freut sich über tatkräftige Unterstützung.

In dieser Ausgabe schildert Hans-Peter Weingand, anknüpfend an einen Artikel aus unserer allerersten Ausgabe, ein Beispiel für Intergeschlechtlichkeit. Im Jahre 1601 brachte der Soldat Daniel Burghammer ein Kind zur Welt. Er soll sich halb Mann, halb Frau genannt haben. Weingand untersucht, wie die damaligen Medien über das ungewöhnliche Ereignis berichteten und welche Einschätzungen zu Geschlechtszugehörigkeit, Empfängnis und zum Neugeborenen abgegeben wurden.

Das Erziehungsgeschehen in einer schweizerischen Zwangserziehungsanstalt während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Gegenstand des Aufsatzes von Kevin Heiniger. Gleichgeschlechtliche sexuelle Betätigung der männlichen Jugendlichen wurde streng geahndet. Wenn sie sich schon nicht verschweigen ließ, dann versuchte man die Jungen umzuerziehen und zog Psychiater zu Rate. Auch nach der gesamtschweizerischen Entkriminalisierung der Erwachsenenhomosexualität wurde weiterhin repressiv vorgegangen.

Kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende begannen die politischen Skandale um die als abnorm hingestellte Entourage von Kaiser Wilhelm II. Annalena Willer schildert, wie deutsche Karikaturisten das Homosexuelle in satirischen Wochenzeitschriften im Zeitraum zwischen 1890 und 1914 darstellten. Man war nicht zimperlich darin, mit stereotypen Darstellungen das gleichgeschlechtliche Begehren bei Männern und Frauen der Lächerlichkeit preiszugeben.

Die nationalsozialistische Homophobie zerstörte die zuvor entstandenen emanzipativen Strukturen und vertrieb deren Protagonisten in die Emigration. Selbst hier wurden sie nur bei persönlicher Zurückhaltung geduldet, wie Hans Soetaert an einem bewegenden Vorgang aus Paris zeigt. Magnus Hirschfeld verlor die Begleitung eines wichtigen Weggefährten, als Karl Giese nur deswegen Frankreich verlassen musste, weil er in einem Badehaus bei verbotenen Aktivitäten aufgefallen war. Nicht zuletzt deswegen, so lässt sich spekulieren, fanden beide Aktivisten wenige Jahre später den frühen Tod.

Auch nach dem Ende des NS-Regimes war noch kein befreites Leben in der Gleichgeschlechtlichkeit möglich. Im liberalen Amsterdam hatte sich aus der Zeit der deutschen Besetzung ein Refugium für Geflüchtete erhalten, das Castrum Peregrini, begründet und geleitet von Wolfgang Frommel. Den historischen Wurzeln dieser inzwischen unter Beschuss geratenen Einrichtung widmet Marita Keilson-Lauritz ihren durchaus auch persönlichen Besprechungsaufsatz.

Zu den vorwärtsdrängenden Ereignissen der queeren Bewegung gehören die Proteste in Kalifornien zu Beginn der 1990er Jahre. Damals versuchten die Gefängnisverwaltungen, HIV-positive Inhaftierte gezielt zu segregieren und ihnen die notwendigen Therapien zu verweigern. Kevin-Niklas Breu diskutiert die Frage, ob angesichts des Anti-Aids-Aktivismus von einer allgemeinen Entpolitisierung sozialer Bewegungen nach 1968 die Rede sein kann. Angeprangert wurden die vermeintlich bestehenden repressiven und antidemokratischen Tendenzen des postmodernen Verwaltungsstaates.

In Deutschland gehören Polittunten zu den zentralen Figuren in den neueren queeren Bewegungen. Baby Jane machte im westlichen Berlin von sich reden. Patsy l'Amour laLove alias Patrick Henze berichtet aus einem Interview mit Baby Jane, wie diese rückblickend Differenz, Selbstbewusstsein und Emanzipation in der Schwulenbewegung der 1970er Jahre darstellte und welche Chance sie schwuler Emanzipation und Selbstermächtigung gab.

Das Jahrbuch enthält schließlich eine längere Reihe von Rezensionen zu auf unserem Themenfeld jüngst erschienenen Büchern. Die nächste Ausgabe des Jahrbuches, also Invertito 21, wird sich wieder schwerpunktmäßig mit Nationalsozialismus und Homosexuellenverfolgungen befassen. Das Thema einer weiteren Schwerpunktausgabe könnten Homosexualitäten in der DDR sein. Über Textangebote hierzu, aber auch zu anderen Themen freuen wir uns.

Die Redaktion




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