Homosexuellenverfolgung in Österreich

Geschichte und Nachgeschichte
zeitgeschichte 43 (2016), Heft 2,
Innsbruck: StudienVerlag, 64 S., € 18,50
 

sorry, no cover

 

Rezension von Hans-Peter Weingand, Graz

Erschienen in Invertito 19 (2017)

Den Anstoß, sich ganz dem titelgebenden Heftthema der Homosexuellenverfolgung in Österreich zu widmen, bot, so Elisa Heinrich im Editorial, das nicht runde "Jubiläum" der 45 Jahre zurückliegenden Kleinen Strafrechtsreform in Österreich 1971, die als "eine prägende Zäsur" die Aufhebung des Totalverbots der "Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts" mit sich brachte. Ziel des Heftes ist es, mit den Beiträgen von vier AutorInnen "aktuellste Ergebnisse für ein zeithistorisch kaum beforschtes Feld" vorzulegen.

Johann Karl Kirchknopfs Beitrag Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert ist derzeit der aktuellste und präziseste Überblick zu diesem Thema, da er ausgehend von der bis 1971 bestehenden Rechtslage auch einen Ausblick über die Gesetzeslage bis 2002 bzw. bis zur möglichen Tilgung solcher Vorstrafen 2015 liefert. Überlegungen zu den Motiven der unterschiedlichen Behandlung von "Unzucht" zwischen Männern und Frauen und die nähere Behandlung der Verfolgungspraxis des NS-Regimes sind alleine schon der Rechtsgeschichte Österreichs geschuldet. Denn hier wurde nicht der berüchtigte § 175 des deutschen Strafrechts eingeführt, sondern es blieb auch nach dem "Anschluss" 1938 beim österreichischen Recht mit der Strafdrohung auch gegen Frauen.

Neben dem Zusammenführen von Basisinformationen, wie der Rechtsentwicklung und der Verurteiltenstatistik, liegt eine Forschungsleistung von Kirchknopf darin, dass er über eine Bestimmung, die von 1852 bis 1971 in Kraft war, an der Spruchpraxis der Höchstgerichte die Rechtsprechung im Bereich "Unzucht" untersucht. Dies ist besonders interessant, da in Österreich sexuelle Handlungen mit Kindern, trotz eigenen Straftatbestands "Schändung", meist als "widernatürliche Unzucht" gewertet, abgeurteilt und statistisch erfasst wurden, wenn es um Männer und Knaben ging — eine enorme Verschlechterung für kindliche Opfer.

Die zweite Forschungsleistung liegt, mangels einer detaillierten Kriminalstatistik während der NS-Zeit, in der Analyse der Verfahren am Wiener Straflandesgericht durch Auswertung der Protokollbücher von 1932 bis 1971. Diese Daten zeigen nicht nur eine erhöhte Verfolgung während der NS-Herrschaft mit der Spitze 1939 und 1940. Sie zeigen für Wien auch eine Zunahme der Verfolgungsanträge gegen Frauen und zwar nicht nur — was angesichts der vielen Männer an der Front naheliegend wäre — im Verhältnis zu den Männern, sondern auch in absoluten Zahlen.

Ebenfalls zwei interessante Forschungsansätze liefern Roman Birke und Barbara Kraml im Beitrag Gleichzeitigkeit von Inklusion: Homosexualitäten zwischen Verfolgung und Normalisierung in Österreich 1971. Der Kern ihrer Ausführungen ist die Strafrechtsreform von 1971 und angesichts der parlamentarischen Diskurse und der vier neu geschaffenen Bestimmungen zu Homosexualität — erhöhtes Schutzalter bei Männern, Verbot der gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution und das Werbungs- und Verbindungsverbot — wird hier die Frage nach der "Normalisierung" gestellt: In welchem Kontext galten homosexuelle Menschen als gefährlich? Galt die Wahrnehmbarkeit der Existenz von Homosexualität als unerwünscht? Die Antwort liegt in der "kollektiven Gefährlichkeit", die man Männern weit mehr zuschrieb als Frauen und die in öffentlicher Agitation erblickt wurde, immer weniger aber im privaten Tun.

Der zweite Ansatz ist eine Vollerhebung der Strafakten im Wiener Landesgericht für die erste Jahreshälfte 1971 (ermittelt wurde gegen 106 Personen), um die "Gerichtspraxis kurz vor der Entkriminalisierung" zu untersuchen. Derartige Untersuchungen gab es bisher in Österreich fast ausschließlich zu Verfahren aus der NS-Zeit. Nun ist es wenig überraschend, dass sich "die Anfang der 1970er deutlich erkennbare Normalisierung von Homosexualität" in den Strafakten nicht widerspiegelt: "Die Gerichte handelten dabei streng nach den gesetzlichen Vorgaben." Aufschlussreich ist jedoch, dass sich aus den Akten die Praxis der Wiener Polizei, in öffentlichen WC-Anlagen Streifungen durchzuführen, deutlich niederschlägt. Groß ist der Anteil jener Fälle, bei denen "Schändung" vorlag, es aber wegen Gleichgeschlechtlichkeit zu einer Anklage wegen "Unzucht wider die Natur" kam. Der Anteil an nicht konsensualen sexuellen Handlungen, die auch heute strafbar wären, ist groß: In jenen Fällen, in denen es zu Verurteilungen kam, waren fast zur Hälfte Minderjährige (unter 21) beteiligt, von denen 40% noch nicht 14 Jahre alt waren.

Elisa Heinrich legt in ihrem Beitrag Marginalisierte Erinnerung. Auseinandersetzungen um homosexuelle NS-Opfer im Nachkriegsösterreich den Schwerpunkt auf "LGBT-AktivistInnen als politische AkteurInnen". Eingeleitet von Basisinformationen zur Verfolgung homosexueller Menschen während der NS-Zeit und der zunächst juristisch verweigerten Wiedergutmachung spannt sie den Bogen von der Konstituierung der "Bewegung" in den späten 1970er Jahren bis hin zur "queeren" Mahnmal-Debatte der Stadt Wien im Jahr 2015. Dazwischen lag das Bestreben, auf die Existenz homosexueller NS-Opfer hinzuweisen, so durch Aktionen in den 1980er Jahren, 1984 auch durch den Winkel aus Marmor in der Gedenkstätte Mauthausen — weltweit der erste seiner Art — der seither Treffpunkt für Erinnerungsarbeit ist. Es folgten Rosa-Winkel-Aktionen, die ersten Erfolge in den 1990er Jahren durch die Einbeziehung dieser Opfergruppe in den Nationalfonds und die Ausschreibung eines Mahnmales durch die Stadt Wien 2005. Zudem wurde durch vermehrtes Wissen, durch Publikationen und Ausstellungen schließlich auch in Österreich weit über die Community hinaus das Bewusstsein geschaffen, dass Homosexuelle zu den Opfern des NS-Regimes zählen.

Heinrich konstatiert für Österreich das anfängliche Fehlen eines generellen erinnerungspolitischen Überblicks. Den hat sie nun selbst geliefert — Chapeau! —, weshalb die folgenden Überlegungen als Forschungsanstöße zu verstehen sind: Was geschah und geschieht außerhalb von Wien, wie kam es zum guten Forschungsstand in Oberösterreich im Rahmen offizieller Landes-Historiographie und wie zur Berücksichtigung homosexueller NS-Opfer bei den Stolperstein-Verlegungen in Salzburg und Graz? Welche Rolle spielten die traditionellen Opferverbände und die Sozialministerium-Bürokratie bei der Verweigerung des Opferstatus über Jahrzehnte?

Manuela Bauer schließt das Heft mit einer Übersicht über die Forschungsprojekte des Vereins QWIEN 2014/15 ab: Namentliche Erfassung der homosexuellen und transgender NS-Opfer in Wien und Die Strafverfolgung homosexueller Handlungen durch die NS-Militärgerichtsbarkeit in Wien 1938—1945. Aktuelles ist www.qwien.at zu entnehmen.

Den letzten Heftschwerpunkt "Homosexualitäten" gab es in Österreich im Heft 3/1998 der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, auch 2018 wird ein Heft mit diesem Titel erscheinen. Traurig wäre, wenn mangels Forschung eine solche Schwerpunktsetzung erst wieder in 20 Jahren möglich wäre.