Manfred Herzer:
Magnus Hirschfeld und seine Zeit

Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2017, 455 S., € 59,95
 

sorry, no cover

 

Rezension von Wolfgang Burgdorf, München

Erschienen in Invertito 19 (2017)

Manfred Herzers neue Biographie Magnus Hirschfelds (1868—1935) ist chronologisch in fünf Teile gegliedert. Die Phasen bilden die Jahre von der Geburt bis 1895, als Hirschfeld seine erste Hausarztpraxis in Magdeburg-Neustadt eröffnete, und weiter bis 1913. Die großen homosexuellen Skandale der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von Oscar Wilde bis zur Eulenburg-Affäre werden geschildert. Bereits am 15. Mai 1897 kam es zur Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. Hier wird auch der spannende Zusammenhang zwischen der entstehenden Sexualwissenschaft und der Eugenik behandelt. Wie im gesamten Buch sind in diesem Teil die vielfältigen Erklärungsmodelle für gleichgeschlechtliche Veranlagung von Interesse, die heute überwiegend abstrus erscheinen.

Der dritte Teil behandelt die Zeit des Ersten Weltkrieges. In jener Zeit entwickelte Hirschfeld das deskriptive Modell der sexuellen Zwischenstufen: Alle Menschen seien "intersexuelle Varianten". Diesen Begriff benutzte Hirschfeld schon 1920. Zunehmend emanzipierte sich Hirschfeld von seinem ursprünglichen Begriff des Dritten Geschlechts zugunsten einer Auflösung des binären Geschlechtermodells (S. 120). Der vierte Teil reicht bis 1930 und beginnt mit der Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft. Der Weltreise ohne Rückkehr (1931 bis 1935) ist der letzte Abschnitt gewidmet. Es handelte sich dabei um eine Vortragsreise, die Hirschfeld zum zweiten Mal in die USA und darüber hinaus nach Japan, China, Indonesien, Indien, Ägypten und Palästina führte. Es war der Höhepunkt der internationalen Anerkennung des Pioniers der Sexologie, während in Deutschland gleichzeitig die Nazis sein Werk, insbesondere das 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft, zu vernichten suchten. Hirschfeld ist somit ein Beispiel für Intersektionalität, denn der Hass der Nazis, christlicher Fundamentalisten und anderer richtete sich nicht nur gegen den erfolgreichen Juden und den Mann, der Männer liebte, sondern auch gegen die entstehende Sexualwissenschaft. Dieses Schicksal teilte er, trotz seiner ungleich besseren Einkommenssituation, mit dem "Negermädchen", das ihm in Chicago vorgestellt wurde, hinter dem sich ein männlicher Prostituierter verbarg (S. 42).

Manfred Herzer, 1982 Mitbegründer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, veröffentlichte 1992 im Campus-Verlag die erste Biographie Hirschfelds. 2001 wurde diese Pionierstudie überarbeitet und ergänzt in der Bibliothek rosa Winkel neu aufgelegt. Herzers neues Werk, noch einmal über 200 Seiten umfangreicher, erscheint rechtzeitig zu Hirschfelds 150. Geburtstag 2018. Es ist erstaunlich, dass Hirschfeld, der Spross einer liberalen bürgerlichen jüdischen Familie, erst so spät einen Biographen gefunden hat, ist seine Bedeutung als einer der Begründer der Sexualwissenschaft und "Mutter der Schwulenbewegung" (S. 1) doch unübersehbar. Herzer hat in seiner neuen Hirschfeld-Biographie neuere Forschungsergebnisse berücksichtigt und die thematische durch eine chronologische Ordnung ersetzt.

Hirschfelds Vater, ebenfalls Arzt und Initiator der städtischen Wasserleitung und Kanalisation, wurde nach seinem Tod 1886 ein Denkmal vom Magistrat der Stadt Kolberg errichtet, welches die Nazis 1933 zerstörten. Hirschfeld selbst hat in seiner Jugend keinen Antisemitismus erfahren, später aber umso mehr.

Dass Hirschfeld sich selbst mittels eines Konversationslexikons aufklärte (S. 24), zeigt, wie sehr Sexualität im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts selbst in einem Arzthaushalt tabuisiert war. Auch während stundenlanger Spaziergänge mit seinem besten Freund am Ostseestrand wurde dieser Gegenstand nie berührt. Wäre es nach der so genannten Sittlichkeitsbewegung gegangen, die von den beiden christlichen Großkirchen gesteuert wurde und bald zu Hirschfelds Hauptgegner wurde, wäre das auch so geblieben.

Einer seiner Lehrer, Rudolf Virchow, gehörte 1869 zur wissenschaftlichen Deputation des Medizinalwesens, die dem preußischen König empfahl, künftig "Unzucht zwischen Menschen und Thieren" sowie zwischen "Personen männlichen Geschlechts" nicht länger zu kriminalisieren, sondern straffrei zu stellen. Gemäß dem Votum des preußischen Justizministers Heinrich von Mühler vom 17. April 1869 setzte man sich "im Interesse der öffentlichen Moral" über die Empfehlung hinweg. Das war die Geburtsstunde des § 175. Hier verwechselt Herzer die preußischen Könige Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. (S. 38). Dass auch die Entkriminalisierung von Sex mit Tieren gefordert wurde, der heute zunehmend kriminalisiert wird, zeigt, wie zeitgebunden solche Entscheidungen sind. Die Entkriminalisierung von Sex zwischen Männern wurde zu Hirschfelds Lebensthema.

1893 reiste Hirschfeld erstmals in die USA. Dabei fiel ihm die Ähnlichkeit gleichgeschlechtlicher Aktivitäten in den Cruisinggebieten im New Yorker Central Park und im Berliner Tiergarten sowie die Gleichförmigkeit der einschlägigen Zeichnungen und Inschriften auf Pissoirs an von ihm bereisten Orten von Chicago über Tanger und Constanza bis Berlin auf (S. 42). Ein bislang nicht thematisierter Aspekt der Globalisierung.

1897 gründete Hirschfeld das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, dessen Ziel es war, den § 175 des Strafgesetzbuches, der gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellte, abzuschaffen. Im Vorwort des Gründungsmanifestes berichtet Hirschfeld vom Selbstmord eines ehemaligen Patienten.

Noch 1897 wurde eine entsprechende Petition an die Mitglieder des Reichstages und des Bundesrats übergeben. Dies wurde dann nach jeder Reichstagswahl wiederholt. Hirschfeld und sein Komitee beschritten damit einen Weg, den schon sein akademischer Lehrer Virchow und Karl Heinrich Ulrichs erfolglos beschritten hatten. Sie versuchten auf die Legislative einzuwirken.

Zu den Unterzeichnern der Petition von 1897 gehörte neben dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten, August Bebel, auch Richard von Krafft-Ebing, ein weiterer Pionier der Sexualwissenschaft (S. 73), der die Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlicher Sexualität jedoch durch Pathologisierung von Homosexuellen zu erreichen hoffte. Damit hätte die Diskurshoheit über das Thema künftig bei den Medizinern gelegen. Um diese Herrschaft über den einschlägigen Diskurs bemühten sich auch die Vertreter der aufblühenden Psychoanalyse. Obwohl sie untereinander von Beginn an Zweifel an der Heilbarkeit der Homosexualität äußerten und "Heterosexualisierungserfolge" ausblieben, versprachen sie diese jedoch öffentlich (S. 151), nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen.

Spannend ist die Entdeckung, dass die Hormontherapie zur Geschlechtsangleichung von den Patienten selbst erfunden wurde. Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden angebliche "Männlichkeits"- bzw. "Weiblichkeitsdefizite" mit Testogan bzw. Thelygan behandelt. Schon bald spritzte sich ein Transvestit selbst Thelygan und förderte so die Verweiblichung seines Äußeren (S. 285).

Eher befremdlich erscheint heute der Vergleich der gleichgeschlechtlichen Veranlagung mit der Hasenscharte. Wodurch die Betroffenen unter einem "doppelten Fluch, dem der Natur und dem des Gesetzes", standen. Sie litten zwar demnach unter einem natürlichen Defekt, waren aber nicht im eigentlichen Sinne krank. 1896 war dies dennoch ein argumentativer Fortschritt, um Entkriminalisierung und Entpathologisierung zu begründen.

Bei allen Verdiensten Hirschfelds bleibt festzuhalten, dass es ihm nie gelang, sich vollständig von der Vorstellung zu lösen, Homosexualität sei eine Krankheit. Auch einige andere Aspekte irritieren heute. So entblößte sich der alte Hirschfeld mindestens einmal vor einem jugendlichen Patienten (S. 235). Auch sein späterer Lebensgefährte Karl Giese war erst 15, als er Hirschfeld zum ersten Mal begegnete. Aber es wäre nach Meinung des Rezensenten vermessen, heutige Maßstäbe an die Zeit und das Verhalten Hirschfelds anzulegen. Das heutige Arzt-Patienten-Verhältnis entstand erst.

Es ist erschütternd zu sehen, wie allgegenwärtig der Selbstmord von Betroffenen in Hirschfelds Zeit war, und es gehört zu den größten Verdiensten Hirschfelds, dass dies heute nicht mehr so ist. Damals war "der Weg über Leichen" die gängige Metapher für die Denunziation politischer Gegner als homosexuell.

Hervorzuheben an der Darstellung Herzers ist, dass er auch Aspekte thematisiert, die heute irritieren. Dazu gehören Hirschfelds Kriegsbegeisterung 1914, seine Sympathie für den österreichischen Biologen Eugen Steinach, der ab 1917 behauptete, homosexuelle Männer könnten mittels Hodentransplantation "geheilt" werden, Hirschfelds Beteiligung am Vertrieb des Potenzmittels Titus-Perlen, sein Biologismus und seine Affinität zur Eugenik, bei gleichzeitiger Ablehnung des Rassismus (eine Wortschöpfung Hirschfelds), seine Kategorisierung der "Zwischenstufen" und die Theorie der angeborenen Homosexualität, die ungewollt der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik entgegenkam. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass einer der prominentesten Hirschfeld-Kritiker, Michel Foucault, bei Herzer weder im Literaturverzeichnis noch im Register auftaucht. Das gilt auch für Rainer von der Marwitz, der Hirschfeld schon 1974 in diesem Sinne kritisierte. Diese rezeptionsgeschichtliche Kontroverse fehlt in Herzers Darstellung.

Dessen ungeachtet verdanken wir Manfred Herzer erneut eine beeindruckende Darstellung des außerordentlichen Lebenswerkes von Magnus Hirschfeld und seiner Zeit, seiner Mitstreiter und Gegner sowie ihrer Programmatik. Herzers Hirschfeld-Biographie von 1992 bzw. 2001 erscheint nun wie eine Vorstudie zu diesem großen, lesenswerten Werk.