Angela Steidele:
Anne Lister

Eine erotische Biographie
Berlin: Matthes und Seitz 2017, 328 S. geb., € 28
 

sorry, no cover

 

Rezension von Birgit Bosold, Berlin

Erschienen in Invertito 19 (2017)

"Lesbische Unsichtbarkeit" oder besser das Bemühen darum, wie lesbische Frauen in den LGBTTI*Q-Communitys sichtbarer werden könnten, scheint gerade das Thema der Stunde zu sein. Der im Querverlag erschienene Band Lesben raus erscheint bereits in der zweiten Auflage, und der Berliner Senat wird 2018 sogar einen Preis für lesbische Sichtbarkeit verleihen. Eine reibt sich zwar verwundert die Augen, warum erst mehr als 20 Jahre nach dem evidenten Schulterschluss zwischen Lesben- und Schwulenbewegung auffällt, dass die lesbisch-schwule Geschwisterlichkeit reine Rhetorik ist, warum wir eigentlich über "Sichtbarkeit" sprechen statt über Macht und Geld und warum das gerade jetzt auf die Tagesordnung kommt, nachdem die Anerkennungspolitik, die Jahrzehnte die Agenda bestimmte, mit der Ehe für alle mehr oder weniger am Ziel angelangt ist — geschenkt! Das ist jetzt nicht Thema.

Vielmehr geht es hier darum, die großartige Arbeit von Angela Steidele zu würdigen, die mit Anne Lister. Eine erotische Biographie ihr fünftes Buch vorlegt und damit einmal mehr einen eindrucksvollen Beitrag zu eben dieser "Sichtbarkeit" frauenliebender Frauen in Kultur und Geschichte geleistet hat. Lange vor den aktuellen Debatten führte sie schon in ihrer 2003 erschienenen Dissertation Als wenn Du mein Geliebter wärest. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750—1850 in vorbildlicher Weise vor, dass und wie ihre Spuren entdeckt und gesichert werden können: Etwa mit ihrem so scharf- wie eigensinnigen queerreading jenes berühmten Dokuments romantischer Frauenfreundschaft — Bettine von Arnims Günderode — zeigt sie, wie die Rekonstruktion des Phänomens gleichgeschlechtlichen Begehrens vor der Erfindung des Konzeptes der "Homosexualität", mit dem wir es seit etwa 150 Jahren beschreiben, gelingen kann. Ihre Arbeit belegt einmal mehr, dass es spezifischer Suchbewegungen bedarf und die vielbeklagte lesbische Unsichtbarkeit auch darin begründet sein mag, dass "der Homosexuelle" eine exklusiv männliche Figur ist. Bei seiner Erfindung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so stellten u. a. jüngst Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß zu Recht fest, tauchen Frauen nur als "Randnotiz" und als "Vergleichsgröße" auf.

Dass sie nicht nur wissenschaftliche Texte verfassen kann, sondern wissenschaftlich fundiert Geschichte und Geschichten so darstellen kann, dass die Lektüre zum Vergnügen gerät, beweisen Steideles seitdem erschienene Bücher, mit denen sie sich als Schriftstellerin einen Namen gemacht hat: 2004 schilderte sie in ihrem Buch In Männerkleidern "das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel", die als Mann lebte und 1721 als letzte Frau wegen Sodomie hingerichtet wurde. 2010 folgte die spannende Rekonstruktion des Lebens und der Liebe zweier faszinierender Intellektueller des 19. Jahrhunderts, der Archäologin Sybille Mertens und der Schriftstellerin Adele Schopenhauer. 2015 schließlich gab sie ihr literarisches Debut: Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II. ist ein Experiment, das die Geschichte der Catharina Linck in einem fiktiven Briefwechsel zwischen König Ludwig II. von Bayern und seinem Arzt Franz Carl Müller sozusagen durch die Brille des 19. Jahrhunderts Revue passieren lässt. Sie erhielt dafür 2015 den Bayerischen Buchpreis.

Und nun also Anne Lister (1791—1840), genauer jene 24 in Kalbsleder gebundenen Kladden, die in winziger Schrift eng beschrieben ihre Schreiberin überdauert haben. John Lister, Erbe des Lister'schen Anwesens Shibden Hall, entdeckte sie Ende des 19. Jahrhunderts, ,Jahrzehnte nach ihrem Tod, und entzifferte mit Hilfe eines befreundeten Antiquars diejenigen Passagen, die in einer Geheimschrift geschrieben waren. Dieser riet ihm, die Hefte zu vernichten, zu abscheulich waren ihm die krass expliziten Beschreibungen des ausschweifenden lesbischen Sexlebens, das Anne Lister nicht nur geführt, sondern auch buchhalterisch exakt aufgezeichnet hatte. Zum Glück für die Nachwelt folgte John Lister dem Rat seines Freundes nicht, sondern versteckte die Tagebücher so, dass sie wiedergefunden werden konnten, als das Anwesen später in den Besitz der Gemeinde Halifax fiel. 2011 nahm die UNESCO die Tagebücher Anne Listers in das Weltdokumentenerbe auf, und da repräsentieren sie nun einträchtig mit honorigen Dokumenten wie der Magna Carta oder der Gutenbergbibel als bislang einziges Zeugnis "queeren" Lebens das kollektive Gedächtnis der Menschheit. Bis zu dieser Anerkennung aber sollte es dauern: Noch bis 1980 mussten alle, die die Tagebücher lesen wollten, sich verpflichten, "unpassende Auszüge nicht zu veröffentlichen".

Steidele lässt ihre Protagonistin im Wesentlichen selber sprechen. Aus dem ausufernden Konvolut von vier Millionen Wörtern klug ausgewählt und arrangiert und ebenso subtil wie aufschlussreich kommentiert, setzt sich aus den O-Tönen Anne Listers und Steideles eigener elegant eingeflochtener Stimme ein dichtes und spannend zu lesendes Lebensbild dieses "lesbischen Casanovas" zusammen. So erfahren wir nicht nur genaueste und ausführlichst beschriebene Einzelheiten über Sexpraktiken zwischen Frauen, sondern dank der versierten Kommentatorin auch, wie die Zeitgenoss_innen des 19. Jahrhunderts überhaupt über Sex sprachen. Der "Kuss" — die Chiffre der Zeit für Sex — hat entsprechend viele Auftritte: kurze Erfolgsmeldungen wie "zwei gute Küsse gleichzeitig" oder als eine eifersüchtige Liebhaberin besorgt fragt, ob Anne mit der Nebenbuhlerin wirklich nicht "zum Äußersten gegangen" sei, worauf Anne ihr "Ehrenwort" gibt, "alles getan zu haben außer wirklich zu ‘kuüssen’". Ihr eigenes Wort für das weibliche Lustorgan war "queer", was aber nichts mit dem damals wie heute gebräuchlichen englischen Wort für "seltsam" zu tun hat, sondern eine Verballhornung des Wortes quim oder queme ist. Ganz Literaturhistorikerin, übersetzt es Steidele nicht mit der im Deutschen drastisch klingenden Entsprechung "Fotze", sondern formschön nach Goethes Venezianischen Epigrammen mit dem Diminutiv "Fötzchen". Gleichwohl ist es natürlich ein schöner Zug der Geschichte, dass Annes Terminus heute als Dachmarke der Regenbogengemeinde fungiert.

Neben einem extensiven Einblick in das exzessive Sexleben Anne Listers erfahren wir viel über das Leben der englischen upper-middle class in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In eine niedere Adelsfamilie geboren, hatte Lister Geldsorgen auf hohem Niveau, was sie veranlasste, nach einer gutbetuchten Lebensgefährtin zu suchen, die ihr einen aus ihrer Sicht angemessenen Lebensstil sicherte. Wir begleiten die ebenso reiselustige wie bildungshungrige Lister, die Griechisch und Latein lernte, u. a. auch um die antike Pornographie lesen zu können, auf ihren Reisen, die sie bis ins heutige Georgien führten, erfahren, wie umständlich und auch wie abenteuerlich das damals war, bewundern mit ihr die frühen Errungenschaften der beginnenden Industrialisierung — Dampfboot und Eisenbahn — und sind schließlich auch Zeug_innen der politischen Umbrüche der Zeit, etwa der Julirevolution 1830, die Lister dazu zwang, aus dem geliebten Paris, wo sie mehrere Male für Wochen oder auch Monate lebte, in die englische Provinz zurückzukehren. Die bestenfalls wirkungslosen, schlimmstenfalls mörderischen Methoden der zeitgenössischen Medizin illustriert die Behandlung einer Geschlechtskrankheit — vermutlich Trichomonaden —, der sich Lister in Paris unterzog. Heute wäre diese Infektion, die nur für Frauen mit Beschwerden verbunden ist und sich durch Schleimhautkontakt, also z. B. durch Oralverkehr, überträgt, mit Antibiotika in wenigen Tagen geheilt. Damals aber zog sich die ebenso quälende wie erfolglose Behandlung mit hochgiftigem Quecksilber über Monate hin.

Politisch eine Tory, wie sie im Buch steht, kaltblütige Herzensbrecherin und perfide Heiratsschwindlerin — zur Heldin eignet sich Anne Lister nicht. Ganz im Gegensatz zu Angela Steidele: Sie verdient mit ihrem neuen Buch einmal mehr einen Ehrenplatz im Zentralkomitee für lesbische Sichtbarkeit. Chapeau!