Homosexuality in Italian Literature, Society, and Culture, 1789—1919.

Hg. v. Lorenzo Benadusi, Paolo L. Bernardini, Elisa Bianco, Paola Guazzo,
Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2017, XVI, 270 S., £ 61,99
 

sorry, no cover

 

Rezension von Manfred Herzer, Berlin

Erschienen in Invertito 19 (2017)

Gen Italien:
Italienische Homosexualitäten im 19. Jahrhundert.
Eine Buchbesprechung

Dahin! Dahin / Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!
(Wilhelm Meisters theatralische Sendung, 4. Buch)

In der deutschen Italiensehnsucht war unübersehbar von Anfang an ein schwules Element, aber kaum ein lesbisches, enthalten. Der Einleitungstext zur vorliegenden Aufsatzsammlung über die italienische Homosexualität im 19. Jahrhundert, von einem gemischtgeschlechtlichen Herausgeberquartett verfasst, trägt demzufolge den Titel: "In the Shadow of J. J. Winckelmann"; das kritisch klingende Wort "Schatten" wird nicht weiter erklärt, könnte aber auf Winckelmanns schreckliches Ende anspielen: Er wurde 1768 in der unter Habsburger Herrschaft stehenden Hafenstadt Triest von einem Toskaner ermordet, dem spätere Autoren nachsagten, ein Stricher zu sein. Auch andere bekannte Deutsche werden in der Einleitung und den Aufsätzen genannt: Ein Jahrhundert später kommt "the gay couple par excellence" (S. 17), der Bildhauer Adolf Hildebrand und sein zehn Jahre älterer Freund, der Maler Hans von Marées, auf die italienische Bühne. Trotz Exzellenz wird das Künstlerpaar im Sammelband nur zweimal, und auch bloß wegen der prächtigen Fresken in der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel lobend erwähnt, welche die beiden im Jahr 1873 schufen. Offensichtlich liegt das am Fehlen jedweder Quellen zu homophilen oder homosexuellen Implikationen in dieser überaus produktiven Arbeitsgemeinschaft. ‒ Im Übrigen enthält die Einleitung nichts als Kurzabstracts der folgenden Beiträge.

Goethe wird erwähnt, nicht weil er seinem Freund Karl August von Sachsen-Weimar über die Männerliebe berichtete, die in den Straßen Roms von den Liebenden offen zur Schau gestellt wurde, sondern weil er auf seiner italienischen Reise nicht Capri besuchte (S. 134), ferner der Maler und Schriftsteller August Kopisch wegen der Entdeckung der Blauen Grotte. Kopisch hat dieses Ereignis erst viele Jahre später in einem Buch bekanntgegeben, so dass Hans Christian Andersen mit seinem Italienroman Der Improvisator einige Jahre vorher der Erste war, der auf das blaue Wunder Capris hinwies (S. 135).

Wenn von Karl Heinrich Ulrichs die Rede ist, irritiert das Bemühen, den emanzipatorischen Einzelkämpfer ins nationale Erbe Italiens zu holen: Ulrichs' "life and legacy is indissolubly bound to Italy, where he spent the final years of his troubled life" (S. 8); schließlich soll sein ganzes Leben "profoundly tied up with Italy" gewesen sein (S. 13). Diese merkwürdige Sichtweise entnahm das Herausgeberteam einer Arbeit des 2007 verstorbenen italienischen Schwulenhistorikers Massimo Consoli, die dieser 2005 der italienischen Übersetzung von Hubert Kennedys US-amerikanischer Ulrichs-Biographie als Einleitung voranstellte.

In erster Linie geht es in diesem Buch um die Homosexualität der italienischen Bevölkerung, die aber seit dem 19. Jahrhundert, zumindest was die Männer und Knaben betrifft, oft untrennbar mit den schwulen Touristen verbunden ist, die, meist wohlhabend oder gar reich, die männliche Jugend für käuflichen Sex benutzten.

Zunächst aber geht es um "role playing", zwei Fälle von "cross-dressing", die die Historikerin Laura Schettini von der Universität Neapel als Beispiele für Geschlechtsrollenzweideutigkeit ("gender ambiguity") untersucht. Die Akten dazu fand sie im Staatsarchiv in Rom (Giuseppe B.) und im Archiv der psychiatrischen Klinik in Aversa, nahe bei Neapel (Salvatore M.). Der 1846 geborene B. wurde in den 1870er Jahren von der römischen Polizei immer wieder verhaftet und, weil er Sex mit einem Mann an einem öffentlichen Ort hatte, für 18 Monate ins Gefängnis gesperrt (S. 30); seltsamerweise heißt es zwei Seiten später, B. "was never punished for homosexuality" (S. 37). Gewiss wurde weder B. noch sonst irgendjemand wegen "homosexuality" bestraft, sondern allein wegen einschlägiger Praktiken, die zu der Zeit in Rom Straftaten waren, wenn sie öffentliches Ärgernis erregten. Schettini sieht B. als den ersten Fall von Transvestitismus, über den sie in der italienischen Tagespresse zahlreiche Berichte fand. In den folgenden Jahrzehnten erschienen immer mehr transvestitische Männer und Frauen in Sensationsreportagen italienischer Zeitungen, was nach Schettinis Einschätzung "a ‘tradition of transvestitism’ formed in Italy" zur Folge hatte und Männer wie Frauen inspirierte, "to manipulate their gender and social identities" (S. 36). Salvatore M. wurde 1932 von einem Gericht seiner Heimatstadt in die örtliche psychiatrische Klinik für geistesgestörte Straftäter eingewiesen, weil er wegen Transvestitentum und der Möglichkeit, er könnte junge Männer verführen, zur "socially dangerous person" erklärt worden war (S. 37). Nach anderthalb Jahren, im Oktober 1933, wurde er entlassen. Sein weiteres Schicksal wird ebenso wenig mitgeteilt wie im Fall B. Hingegen werden Überlegungen zu den Unterschieden und Ähnlichkeiten beider mehr als 50 Jahre auseinanderliegender Fälle angestellt.

Während die Misshandlungen B.s durch die staatlichen Organe in der frisch gegründeten italienischen Monarchie stattfanden, ereignete sich das Martyrium des Transvestiten M. zur Blütezeit des Mussolini-Faschismus. Beider Männer Schicksale erscheinen sehr ähnlich und unterscheiden sich vor allem durch den Typ der Strafanstalt: B. war im normalen Gefängnis, M. in einer Art psychiatrischem Maßregelvollzug. Schettini erklärt die Differenz auf überraschende Weise. Die positivistischen Naturwissenschaften ("positivist science") identifiziert sie als hauptverantwortlich für den gesellschaftlichen Wandel von der bürgerlichen Monarchie zur bürgerlichen Diktatur (S. 39). Diese wissenschaftskritische Attitüde ist neben der schwärmerischen Verehrung für Michel Foucault in den meisten Beiträgen spürbar. Wenn in der Einleitung sogar eine Verbindung zwischen der technisch-wissenschaftlichen Revolution und dem NS-Massenmord an den europäischen Juden hergestellt wird, ‒ "this paves the way to Auschwitz" (S. 15), "it is the beginning of the Shoah" (S. 28) ‒ dann haben wir es hier, paradox formuliert, mit einem unreflektierten Echo der extrem kulturpessimistischen Schrift von Adorno und Horkheimer zu tun, der Dialektik der Aufklärung, 1943/44, als der Hitler-Faschismus noch nicht besiegt war, im amerikanischen Exil verfasst.

Charlotte Ross, Dozentin für "Italian Studies" an einer englischen Universität, identifiziert diesen negativ bewerteten Positivismus in ihrem Beitrag zu den Ansichten des Sexualwissenschaftlers Paolo Mantegazza über die lesbische Liebe mit dem Mantegazza-Zeitgenossen und Erfinder der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso. Diesem wird als Zweck seiner Forschung das Alleinstellungsmerkmal zugeschrieben, "to control and repress any form of sexuality aside from reproductive intercourse within the sanctity of (heterosexual) marriage" (S. 50). Während der Fall Lombroso für Ross klar liegt, sieht sie bei Mantegazza eine Ambivalenz: Auch seine Hauptsorge galt zwar der "preservation of heterosexual marriage", er war aber weitgehend frei von Lombrosos "panicking about the apparently viral spread of tribadism" (S. 63). Zu welch entsetzlichen Maßnahmen er 1885 infolge seiner Lesbenpanik griff, referiert Ross aus dem Aufsatz Del tribadismo nei manicomi (Vom Lesbianismus in der Psychiatrie), in dem Lombroso die Klitorisbeschneidung (Kauterisation) als Versuch beschreibt, Insassinnen des psychiatrischen Krankenhauses in Pavia von ihrer Neigung zur Frauenliebe zu "heilen" (S. 49). [1] Der an zehn Frauen vorgenommene Zwangseingriff blieb jedoch in allen Fällen ohne die gewünschte Wirkung, so dass er anscheinend nicht wiederholt wurde. Mit Mantegazza und Lombroso, den beiden italienischen Sexologie-Koryphäen des 19. Jahrhunderts, hat Magnus Hirschfeld bei seinem ersten Italienaufenthalt 1894 Freundschaft geschlossen. Als beide schon gestorben waren, erinnerte Hirschfeld sich an sie und an ihr spezielles Wissen zur Homosexualität:

"Als ich Lombroso in Turin und den alten Mantegazza in Florenz sprach, war ich erstaunt, wie geringe Erfahrungen und Kenntnisse über die männliche und die weibliche Homosexualität sie bei ihrem fundamentalen Wissen auf benachbarten Gebieten gesammelt hatten. Einzig und allein Pasquale Penta, der leider 1904, nur 45 Jahre alt, als Professor der Psychologie und Kriminalanthropologie in Neapel starb, hat dem Problem die verdiente Aufmerksamkeit gewidmet." [2] Penta wird im vorliegenden Sammelband nicht einmal erwähnt!

Die an der Universität Genua "Gender History" lehrende Maya De Leo untersucht einige italienische Romane mit unterschiedlichem literarischem Niveau, in denen lesbische Charaktere fast stets als Vampirinnen ("female vampires") vorkommen, die ihren weiblichen und männlichen Sexualpartnern das Blut und sonstige Lebenskräfte aussaugen. De Leo vermutet, dass die Frauen, die diese Romane lasen, darin Hilfestellung bei der "construction of individual and collective identities" (S. 74) fanden und sie sieht ihren Text als einen Beitrag zur Archäologie des Wissens über Sexualitäten im modernen Italien (S. 81). Die Sache mit den "identities" ist für einen nicht-italienischen schwulen Mann ähnlich schwer vorstellbar wie irgendwelche Identitätskonstruktionen bei der Lektüre von Karl Heinrich Ulrichs' 1884 in Italien verfasster herzergreifender schwuler Vampir-Geschichte Manor. [3]

Der Mailänder Privatgelehrte und Journalist Giovanni Dall'Orto bietet unter dem etwas dunklen Titel What Fairies Have to Tell our Stories [4] eine Kritik oder sogar: Dekonstruktion der Vorstellung des "modern homosexual", die angelsächsische Soziologen in den 1970er Jahren erfanden und die Dall'Orto als einen der tief verwurzelten Mythen gegenwärtiger Homo-Geschichtsschreibung entlarven will. Dieser moderne Homosexuelle soll erstmals im 19. Jahrhundert von Ärzten und Psychiatern konstruiert worden sein. Dall'Ortos stärkstes Argument gegen dieses Konzept findet er in Eve Kosofsky Sedgwicks Bemerkung über die moderne Definition von Homo/Heterosexualität. [5] Diese sei gekennzeichnet von einer Koexistenz unterschiedlicher Modelle und ist in Dall'Ortos kosmopolitischer Perspektive mit einem überall vorherrschenden identitären Einheitsmodell moderner Homosexualität nicht vereinbar. Als Beispiel für koexistierende Mannigfaltigkeiten stellt er sein Konzept einer "Mediterranean homosexuality" vor, das zuerst in den agrarisch geprägten Gesellschaften rund ums Mittelmeer erforscht, bald aber auch in der zweiten Einwanderergeneration aus dem Maghreb in französischen Großstädten (S. 88) sowie in mehreren lateinamerikanischen Staaten (S. 85) nachgewiesen worden sei.

Die britische Soziologin Mary McIntosh ist mit ihrem bedeutenden Aufsatz The Homosexual Role von 1968 eine weitere Zeugin für Dall'Ortos Anklage gegen das hegemoniale Konzept einer homosexuellen Identität (S. 84). McIntosh schlug mit ihrer rollentheoretischen Beschreibung der Homosexuellen eine soziologische Alternative zu der damals üblichen Sicht auf die Homosexualität vor. Homosexualität sollte nicht länger als eine "condition" aufgefasst werden (etwas Ähnliches wie Foucaults berühmte schwule "Spezies" [6]). Einen Wechsel der Blickrichtung stellte sie zur Diskussion: Nicht mehr der Innenwelt der Homosexuellen, sondern den Erwartungen der anderen beim kommunikativen Handeln mit vermeintlichen oder realen Homosexuellen gilt das Erkenntnisinteresse der Soziologin. [7] McIntosh sieht die Entwicklung einer homosexuellen Rolle in England am Ende des 17. Jahrhunderts beginnen. Bis in ihre Gegenwart hinein konstatiert sie viel homosexuelles Verhalten "outside the recognized role", ferner sei "the polarization between the heterosexual man and the homosexual man […] far from complete". [8]

Dall'Ortos Argumentation springt nun zu einigen homosexuellen Opfern der faschistischen Leggi razziali (Rassengesetze) von 1939, die auf Sizilien wegen "Päderastie" verurteilt wurden, aber einen Freispruch verlangten, weil sie ‒ bewiesen durch ihre Ehen und Vaterschaften ‒ "richtige Männer" seien. Aus den Justizakten geht als Grund für ihre Verurteilung hervor, dass sie sich "passiv" hatten penetrieren lassen. Der penetrierende Partner wurde nie verfolgt und verurteilt (S. 85f.). In der Vorstellung dieser Männer, Verfolgte wie strafrechtliche Verfolger, gab es das Konzept des Homosexuellen nicht. Sie haben, ähnlich wie die Engländer im späten 17. Jahrhundert, dem heute als homosexuell verstandenen Verhalten keine "Identität" zugeordnet, eher eine Art Geschlechterrolle (S. 88).

Abermals drängt sich ein Vergleich zwischen dem England des späten 17. und dem Süditalien des frühen 20. Jahrhunderts auf, zwischen der Subkultur der effeminierten Londoner Schwulen (molly, nancy-boy, madge-cull) [9] und den süditalienischen Tunten (femmenella, S. 91). In einer Schrift des Kriminalanthropologen Abele De Blasio fand Dall'Orto den Bericht über eine Razzia in einem neapolitanischen Schwulenbordell im Jahr 1904, bei der 20 "passive pederasts" gefangen genommen und dann zu "several years of jail" verurteilt wurden (S. 95). Der Kriminalanthropologe schildert detailliert das Interieur des Bordells und erzählt von schwulen Hochzeitsfeiern: "Ein Schrank enthielt sehr luxuriöse Herrengarderobe, die bei parodistischen Hochzeitsfeiern verwendet wurde. Diese wurden veranstaltet, wenn sich die Jungen auf ihre erste fleischliche Vereinigung ("carnal conjunction") vorbereiteten. Die scheue Maid legte ein langes Brautkleid an und schmückte sich mit Juwelen und Orangenblüten." (S.  95) Die Kunden, die die transvestitischen Jünglinge penetrieren wollten ("l'elemento attivo"), wurden offensichtlich nicht verfolgt (S. 94), was Dall'Orto wiederum im Sinne seiner These deutet, dass es damals in Süditalien keine moderne homosexuelle Identität, sondern stattdessen in der männlichen Bevölkerung lediglich Männer- und passive Päderastenrollen gab. Zu den Frauen äußert er sich bedauerlicherweise genauso wenig wie Mary McIntosh.

Ferner ist auf folgende zusammenhängende Mängel in Dall'Ortos Konstruktion hinzuweisen: Der gesellschaftliche Wandel, der in landwirtschaftlich geprägten Regionen wie Sizilien langsamer verläuft als in den städtischen Zentren der großen Industrie, bleibt unberücksichtigt. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschlechtsrollen schließt unterschiedliche Tempi und Entwicklungsrichtungen der vorhandenen Rollensätze ein. Die mediterrane Rolle könnte mit zunehmender Industrialisierung und Verstädterung zunehmend obsoleter und die "moderne" mehr und mehr dominierend geworden sein. [10] Die Tatsache konfliktreicher Gleichzeitigkeit mehrerer homosexueller Rollenmodelle könnte auch zur Erklärung der modernen angelsächsischen gay-liberation-Bewegung herangezogen werden. Neue Rollen der stolzen Schwulen und der ähnlich stolzen Lesben ‒ gay and lesbian pride ‒ konfligierten im angelsächsischen Sprachraum mit den veraltenden Rollen moderner Homosexueller und Homophiler (S. 84).

Barbara Pozzo, Juraprofessorin an einer Universität in Varese, will in ihrem Beitrag die juristische Sicht auf die italienische männliche Homosexualität im 19. Jahrhundert darstellen, was ihr eher nicht gelingt. Sie beschreibt zunächst den großen aufklärerischen Einfluss, den Dei delitti e delle pene, das 1764 erstmals erschienene Buch des Mailänder Juristen Cesare Beccaria, auf das Strafrechtsdenken in Europa nahm. Es trug dazu bei, dass seit 1889 im 20 Jahre vorher gegründeten Königreich Italien ein Strafrecht nach Vorbild des napoleonischen Code pénal galt, in dem Homosexualität nicht erwähnt wurde. Vor 1870 gab es in den diversen italienischen Kleinstaaten unterschiedliche Rechte bis hin zu dem Extrem in der Toskana, der Lombardei und in Venetien, wo Schwule und Lesben nach österreichischem Recht zu maximal fünf Jahren schwerem Kerker verurteilt werden konnten, wenn man sie bei gleichgeschlechtlichem Sex ertappte. Über diese Rechtspraxis erfährt man bei Pozzo ebenso wenig wie über die ‒ oben erwähnte ‒ Anwendung des polizeilichen Ordnungsrechts auf Schwule und die Grausamkeit gegen schwule Soldaten in den diversen Militärstrafrechten. Stattdessen werden die feinen Unterschiede zwischen diversen Rechtsauffassungen zu den italienischen Schwulenstrafrechten des 19. Jahrhunderts minutiös nachgezeichnet. Problematisch ist, dass Pozzo die Zitate aus der italienischen Fachliteratur ‒ etwa ein Textdrittel ‒ stets in ihrer Muttersprache wiedergibt.

Die beiden folgenden Beiträge behandeln die Entdeckung von Capri und Taormina als touristische Traumziele wohlhabender transalpiner Schwuler. Capris Karriere begann 1823, nachdem der schwule deutsche Malerdichter August Kopisch dort, wie erwähnt, die "Blaue Grotte" entdeckt hatte (S. 135). Die sizilianische Kleinstadt Taormina wurde populär, nachdem 1878 der pommersche Photographen Wilhelm von Gloeden seinen Wohnsitz dorthin verlegt hatte und seine Fotos von nackten jungen Sizilianern in alle Welt verkaufte (S. 154).

Während Eugenio Zito mehrmals eine auf Capri vorhandene "amazons' community" (S. 144) erwähnt (von der man leider kaum mehr erfährt als, dass sie einst existiert haben soll), scheint es unter den touristischen Massen in Taormina überhaupt keine Amazonen oder Lesben gegeben zu haben. Nach Faschismus und Krieg sollen sich die jungen Sizilianer seit den 1950er Jahren umorientiert haben, weg vom schwulen Sexmarkt, hin zur finanziell ebenfalls einträglichen Verführung liebesbedürftiger heterosexueller Touristinnen (S. 182).

Indes berichtet der Kulturwissenschaftler Mario Bolognari interessante Einzelheiten darüber, wie die alteingesessenen Bewohner Taorminas die offensichtliche Zunahme von teils lebenslangen Sex-Beziehungen zwischen den jungen Söhnen der Stadt und älteren reichen Ausländern nach 1878 verarbeiteten. Eine "rule of silence", eine Art Sprechverbot über schwulen Sex, herrschte in Sizilien noch im ganzen 20. Jahrhundert (S. 171). Auf dieser Grundlage entwickelte sich eine Doppelmoral, eine "moral duplicity" (S. 180), bei der es vor allem um die Ehre ("honor") der Familie und der schwulen Einheimischen ging (S. 172, S. 178), die etwa so funktionierte: Wenn auch jeder wusste, was für schändliche und sündige Sachen die reichen Touristen und der seltsame Photograph Gloeden mit den jungen Einheimischen anstellten, so war das vor allem deshalb hinnehmbar, weil es stets ohne Skandal und diskret im Verborgenen geschah. Ferner galt es als vorteilhaft für die jungen Frauen, weil die Gefahr vorehelicher Entjungferung und Schwängerung verringert wurde, wenn die jungen Männer anderweitig beschäftigt waren. Schließlich profitierte das ganze Gemeinwesen, wenn die Ausländer ihr Geld, wofür auch immer, in dem armen und verelendeten Städtchen ausgaben; die Tourismusindustrie inklusive Sextourismus wurde als bedeutender Wirtschaftsfaktor in ein moralisch mildes Licht getaucht (S. 181 f.).

Obwohl es über den eigentlichen Betrachtungszeitraum des Buches hinausgeht, wird in beiden Artikeln über Schwulenverfolgungen in den 1930er Jahren berichtet. Auf Capri veranstalteten die Faschisten "a crusade against the omosex community of the island" (S. 153) und in Taormina "intervened on two occasions in support of public decency, in 1933 and 1939" die Polizei (S. 164). Einzelheiten werden auch diesmal nicht mitgeteilt.

Der umfangreichste Aufsatz hat nur indirekt mit Italien zu tun. Anhand von veröffentlichten Tagebüchern und Liebesbriefen [11] wird die dramatische Liebesgeschichte zwischen den beiden britischen Romanautorinnen Vita Sackville-West und Violet Trefusis von der Psychologin und Literaturwissenschaftlerin Ilaria E. M. Borjigid nacherzählt und neu interpretiert. Dass ihr Beitrag zur Italien-Thematik gehört, rechtfertigt sie mit dem Hinweis, "Italy had an unmistakable influence" (S. 186) auf die beiden Ladys aus der englischen Oberschicht ‒ eine ähnlich problematische Begründung wie bei der italienischen Eingemeindung von Karl Heinrich Ulrichs. Befremdlich ist, dass Borjigid alle italienischen Ortsnamen in den Papieren der beiden englischen Lesben re-italianisiert, also Firenze und Venezia statt Florence und Venice usw. Alles andere wäre ihrer Ansicht nach im Sinne von Italiens "linguistic and cultural identity" "ridiculous" (S. 187).

Violet erklärt Vita erstmals im Jahr 1908 ihre Liebe, was der psychologisch gebildeten Autorin Anlass zu einer ersten Diagnose bietet: Es soll sich um eine "psychologically sadomasochistic relationship" gehandelt haben (S. 187), die schließlich im Fall Vitas als "pathologically" im Fall Vitas etikettiert wird (S. 219). Durch Besinnung auf Dinge wie "her true self", "her true desires" und "the genuine feeling" habe Vitas sadistische Dynamik geheilt ("healed") werden können (S. 227). Violet ist das doppelt unschuldige Opfer der kranken Vita und der eigenen Mama; die alte Frau Trefusis soll "extremely controlling" und ähnlich wie Vitas Mutter "imperious and power-hungry" gewesen sein und so die Tochter seelisch geschädigt haben (S. 201). Sackville-West habe sich immer wieder dem Verlangen Trefusis' nach einer exklusiven Zweierbeziehung entzogen (S. 222), weil sie neben Violet auch ihren Gatten und ihre beiden Kinder geliebt habe. Die Autorin ist sich nicht sicher, ob Vitas Leben am Ende der Sex-Beziehung zu Violet ruiniert war. Deren Leben war hingegen zweifelsfrei "ruined" (S. 219). Das ruinöse Dasein ging aber für beide Frauen noch viele Jahre weiter, Vita starb 1962 in England, Violet 1972 in Florenz, wo sie seit 1947 gewohnt hatte.

Die grotesken, tragikomischen Züge dieser Amour fou werden keineswegs ausgeblendet; Briefzitate, in denen Violet immer wieder mit Selbstmord droht, falls Vita sich nicht dem Willen ihrer Freundin fügen würde (S. 196 u.ö.), wirken beim ersten Mal schockierend. Wenn sie aber fast unablässig wiederholt werden, spürt man den Unernst darin und verliert viel Mitgefühl, das man anfangs für die unglücklich Liebende empfunden hat. Ähnlich scheint Sackville-West die Briefe ihrer Freundin gelesen zu haben, denn die Erpressungsversuche verfehlten jedes Mal ihr Ziel und ließen sie unbeeindruckt. Noch bizarrer muss Violets Mitteilung wirken, sie habe aus Verzweiflung über Vitas Uneinsichtigkeit in der Spielbank von Monte Carlo 10.000 Francs verspielt (S. 214). Vita wusste natürlich von dem immensen Reichtum ihrer Freundin und ignorierte die Berichte über derartige Verzweiflungstaten (S. 216).

Einmal, wenn die Autorin von Vitas "two selves" spricht, hofft der Leser auf Unterbrechung des rigiden Identitätsdenkens, das nahezu alle Aufsätze prägt. Er wird sogleich enttäuscht, wenn er erfährt, dass auch Vita mit einer gusseisernen Identität ausgestattet ist und nicht an ihren beiden Selbst leidet, sondern an dem im Stil der italienischen Oper formulierten "inner clash between heart and mind" (S. 209).

Das Schlusskapitel stellt der Historiker und Mitherausgeber Lorenzo Benadusi unter den Titel The Disappearance of the &losquo;Third Sex’. Damit will er den Wandel der Männerbilder in der italienischen Armee des Ersten Weltkriegs beleuchten. Dieser Weltkrieg sei ein "turning point" gewesen für die "ideas of masculinity and the way in which homoerotic relationships were understood", zudem produzierte der Krieg eine zunehmend harsche und intolerante Homophobie (S. 231). Dennoch gab es Ambivalenz, besonders in Italien: Während beispielsweise die "Prussian army" seit der Eulenburg-Affäre angeblich durch einen "excess of virility and militarism" unter den Armeen Europas hervorstach (S. 240), habe es in Italien so etwas ‒ er nennt es "the violent, exasperated, and misogynistic Jünger-style camaraderie" ‒ nur selten gegeben, stattdessen: "affection, tenderness and intimacy […] intermixed with strength, brutality and coarseness" (S. 238). Diese spekulative Differentialdiagnose ohne empirische Basis, stattdessen mit einem Hauch von skurrilem Nationalstolz gewürzt, wird überboten von seltsamen Behauptungen über Magnus Hirschfeld: Er habe geglaubt, der Krieg fördere Pseudo-Homosexualität bei heterosexuellen Soldaten, schwäche "the repressive power of bourgeois sexual morality" und wirke "largely positive with regard to homosexuality" (S. 242). Zudem habe sich Hirschfeld gegen ein gängiges Stereotyp gewandt, demzufolge Homosexualität und Effeminiertheit zwangsläufig verbunden seien und das der in Deutschland verbreiteten Vorstellung vom third sex zugrunde gelegen habe (S. 242). In Deutschland hätte der Weltkrieg das Ende dieses third-sex-Stereotyps und die schnelle Entwicklung einer homosexuellen Emanzipationsbewegung vorbereitet. Von der Schwulenbewegung im wilhelminischen Deutschland weiß Benadusi ebenso wenig wie von den Aktivitäten Aldo Mielis zur Etablierung einer solchen Bewegung im Nachkriegs-Italien. [12] Virile Schwule hätten weiterhin als normal gegolten und seien von den femminelle des 19. Jahrhunderts streng unterschieden worden. Er meint, in Italien sei weiterhin nach der Formel "Actions, rather than identity, still established one's homosexuality" (S. 244) verfolgt und verurteilt worden. Dass Schwulen- und Lesbenstrafrecht niemals "identity" verfolgte, stets nur "actions", war demnach in Italien nicht anders als im Rest der Welt. ‒ Zu all diesen ziemlich haarsträubenden Benadusis'schen Thesen wäre gewiss viel zu sagen.

Interessanter ist die Entdeckung einer Druckschrift von Leone Lattes, einem Turiner Lombroso-Schüler und Gerichtsmediziner, aus dem Jahr 1917 sowie Benadusis Recherchen im zentralen Staatsarchiv in Rom. Es handelt sich bei Lattes' Buch um die erste bekannte Untersuchung über schwule Soldaten in der italienischen Armee und zur Anwendung des Militärstrafrechts auf "atti di libidine contro natura" (S. 244-247). Lattes hielt alle Schwulen, wie feminin auch immer, für kriegsdiensttauglich. Die für die Armee maßgebliche Unterscheidung verlief zwischen angeborenen und irgendwie verführten Schwulen, also nach dem alten Schema Krafft-Ebings. Seine Psychopathia sexualis lag seit 1889 in italienischer Übersetzung vor. Soldaten, die man der Homosexualität verdächtigte, mussten nicht an der Front, sondern in speziellen Strafkompanien dienen. Wen man aber beim schwulen Sex ertappte, der kam vors Kriegsgericht. Die Höchststrafe betrug drei Jahre Gefängnis, wenn Gewalt im Spiel oder es zu einem öffentlichen Skandal gekommen war (S. 246). Aus seinen Archivrecherchen teilt Benadusi den Fall eines Soldaten mit, der seinen Vorgesetzten angegriffen hatte, weil dieser sich an der ständigen Verhöhnung des Soldaten wegen vermeintlicher oder tatsächlicher passiver Päderastie beteiligt hatte; der zweite Fall betrifft einen Offizier, über den man weder etwas zu den inkriminierten Taten noch zum Ausgang des Verfahrens erfährt (S. 246f.). Benadusis Endergebnis: Der Krieg hat zwar neue Wege "for reconfiguring gender roles" eröffnet, nach Kriegsende wurde das jedoch kassiert, um "the hegemonic model of masculinity" zu stärken; die Ächtung der Homosexuellen blieb weiterhin stabil (S. 247).

Der Appendix, in dem es laut Preface um die Frage geht, ob Pinocchio, der holzgeschnitzte Held des weltberühmten italienischen Kinderbuchs, von seinem Schöpfer Carlo Collodi homosexuell gemeint gewesen sei (S. XIV), ist leider nur auf Italienisch verfügbar. Bedauerlich ist, dass in der umfangreichen Vitensammlung der contributors deren Geburtsjahre verschwiegen werden.

Trotz mancher schwerer Mängel bietet die vorliegende Aufsatzsammlung viele nützliche Informationen über italienische Homosexualitäten von der Französischen Revolution bis in die faschistischen 1930er Jahre. Nach einem 2013 erschienenen Sammelwerk über die Geschichte des Selbstmords in Italien im gleichen Zeitraum ist dieses Buch ein weiteres Ergebnis des Forschungsprojekts, das die Universität von Como zu "‘marginal’ or apparently less substantial subjects in Italian history of the long nineteenth century" (S. 4) durchführt. Übrigens erfährt man auch die wahre Bedeutung des Wortes invertito: "Or else, does the idea of the ‘Latin lover’, a truly heterosexual performer, originate from the reaction to the identification of the homosexual as ‘inverted’ ‘invertito’, born and bred by Italian sociology?" (S. 7) Eine Lesbe wäre demnach una invertita?

Der Beitrag von Giovanni Dall'Orto, den ich für den anregendsten und brauchbarsten des ganzen Buches halte, wird übrigens in deutscher Übersetzung in Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte Nr. 52 im Juli 2018 erscheinen.

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[1] Ich danke Siegfried Tornow und Ulfa von den Steinen für ihre deutsch-italienische Übersetzungshilfe. ‒ Ross' Aussage, Lombroso habe neben Klitorisbeschneidung auch Eierstocksektionen zur Heilung der lesbischen Liebe vorgenommen, lässt sich in der von ihr vorgelegten Quelle nicht finden. In späteren, nach wie vor lesbophoben Äußerungen kommt Lombroso nie wieder auf seine desaströsen Menschenversuche der 1880er Jahre zurück.

 

[2] Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin: Verlag Louis Marcus 1914, S. 576. Zu Lombroso und Penta: Dall'Orto, Giovanni: Italienische Forschungen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Lautmann, Rüdiger (Hg.): Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M. / New York: Campus 1993, S. 75-81.

 

[3] Ulrichs, Karl Heinrich: Matrosengeschichten, Leipzig: Fischer 1885.

 

[4] Mein Übersetzungsversuch: Was die Schwuchteln zu unseren Erzählungen beitragen können.

 

[5] In ihrer einflussreichen Epistemology of the Closet von 1990.

 

[6] Die Spezies-Stelle aus Band 1 von Histoire de la sexualité wird gleich zweimal zitiert (S. 139, S. 229) und anfangs ist von der Sorge des Herausgeberteams die Rede, dass Foucaults "pioneering works nowadays run the risk of being ignored" (S. 8).

 

[7] McIntosh, Mary: The Homosexual Role, in: Social Problems, 16 (1968), S. 182-192, S. 184. Sie definiert dort "role in terms of expectations (which may or may not be fulfilled)".

 

[8] McIntosh 1968, S. 182.

 

[9] McIntosh 1968, S. 188.

 

[10] Am Beispiel der neueren Verfolgung von palästinensischen Schwulen durch die Regierung im Gazastreifen zeigt Arno Schmitt die repressiven Folgen einer solchen Entwicklung für die Betroffenen: Schmitt, Arno: Sex mit Männern ohne schwul zu sein, in: Capri 51 (Dezember 2017), S. 144-164.

 

[11] Deutschsprachig liegen zwei Darstellungen dieses lesbischen Liebesromans vor: Glendinning, Victoria: Vita Sackville-West. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz, Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1990. Nicolson, Nigel: Portrait einer Ehe. Harold Nicolson und Vita Sackville-West. Übersetzer: Peter de Mendelssohn, München: Kindler 1974.

 

[12] Frevert, Pierre E.: Aldo Mieli (1879—1950), in: Sigusch, Volkmar / Grau, Günter (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt a. M. / New York: Campus 2009, S. 499-503, S. 500.