Andreas Kraß:
Ein Herz und eine Seele.

Geschichte der Männerfreundschaft,
Frankfurt am Main: S. Fischer Wissenschaft 2016, 480 S., € 26
 

sorry, no cover

 

Rezension von Christian Mühling, Würzburg

Erschienen in Invertito 19 (2017)

Liebe ist seit jeher ein zentrales Thema der Literatur und somit auch der Literaturwissenschaft. Eng verwandt mit der Liebe ist die Freundschaft, die der Berliner Literaturwissenschaftler Andreas Kraß zum Gegenstand seiner Studie Ein Herz und eine Seele. Geschichte der Männerfreundschaft gemacht hat. Die Arbeit ist in vielfältiger Hinsicht anregend für die historische Forschung und soll dementsprechend in erster Linie aus Sicht eines Historikers besprochen werden. Gerade die Freundschaft zwischen Männern bietet sich als Forschungsobjekt für die Geschichtswissenschaft an, denn die vormodernen Gesellschaften Europas waren zutiefst patriarchalisch verfasst und die Freundschaft zwischen Männern in ihnen ein grundlegendes Strukturelement.

Theoretischer Ausgangspunkt von Andreas Kraß ist Niklas Luhmanns Theorie der Liebe als Passion, die der Autor entsprechend seiner Quellengrundlage modifiziert. Sowohl Luhmann als auch Kraß verwenden primär literarische Quellen. Luhmann untersuchte vornehmlich die französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, während Kraß seine Studie auf einen Zeitraum zwischen Antike und 20. Jahrhundert ausweitet. Zu Recht meldet Kraß Zweifel am historischen Verlaufsmodell Luhmanns an und spricht stattdessen von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Diskurs der Männerfreundschaft. Dementsprechend skizziert er vier statt zwei Stadien des Freundschaftsdiskurses. Während Luhmann das Verhältnis von Intimität und Politik ins Zentrum seiner Theoriebildung stellte, weitet Kraß seine Untersuchung auf die Interdependenzen zwischen Freundschaft, Politik, Religion, Kunst und Wissenschaft aus.

Der Autor arbeitet das Thema der Intimität und Emotionalität zwischen Männern literaturwissenschaftlich auf. Dabei verfolgt er einen kultur- und alltagsgeschichtlichen Ansatz. Ziel ist die Dekonstruktion oder Entmythologisierung der Männerfreundschaft, die oftmals als Freundschaft heterosexueller Männer verstanden wird, in der gleichgeschlechtliche Zuneigung keinen Platz habe. Männerfreundschaft laviere aber vielmehr beständig zwischen affektiver Freundschaft und homosozialem Begehren. In der Antike sei Freundschaft noch die beherrschende soziale Kategorie gewesen, während Liebe sich meist auf den Geschlechtsakt beschränkt habe. Vom Mittelalter bis zur Moderne seien Liebe und Freundschaft immer stärker in Konkurrenz zueinander geraten. Dabei könne man nicht pauschal Freundschaft mit homosozialer und Liebe mit heterosozialer Intimität gleichsetzen. Kraß entwirft zudem keine Genealogie des Verhältnisses von Freundschaft und Liebe, denn in diesem Punkt bestehe eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Damit verfolgt der Autor mit seiner Geschichte der Männerfreundschaft auch die Geschichte homosozialer Intimität, die in Deutschland bisher nur marginale Betrachtung erfahren hat.

Der Begriff der Intimität lässt sich allgemeingültig nur schwer fassen und definieren, so dass Kraß eine klare Definition schuldig bleibt. Er widmet sich vielmehr der Frage, welche Affekte zwischen Männern als schicklich und welche als Tabu erschienen. Es geht Kraß auch um die Frage, wie sich die Grenzen männlicher Soziabilität entwickelten und veränderten. Im Mittelalter sei passionierte Freundschaft, aus deren Liebe Leid erwächst, als gesellschaftlich statthaft erschienen. Männliche Freundschaft sei deshalb vielfach als Passionsgeschichte dargestellt worden. Hier und in der gesamten abendländischen Kulturgeschichte habe affektive Freundschaft bis weit ins 20. Jahrhundert keine erotische Komponente enthalten müssen. Das Ideal der Wesensgleichheit und Brüderlichkeit habe den Ausschluss von Erotik verstärken können, ohne dass es gelungen sei, aus dem Freundschaftsdiskurs eine erotische Komponente der Männerfreundschaft konsequent auszuschließen. Homosexualität ist dementsprechend zu keiner Zeit das zentrale Thema, bleibt aber bei Kraß wie die Liebe als Gegenpol zur Männerfreundschaft ex negativo stets präsent. Der Geschlechtsverkehr zwischen Männern sei streng limitiert oder verboten gewesen, was das antike Modell der Päderastie, die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorstellung der Sodomie und das moderne Konzept der Homosexualität bis ins späte 20. Jahrhundert zeigten.

Kraß setzt rund 20 literarische Texte zur Männerfreundschaft in Verbindung zu zeitgenössischen normativen Quellen. Dabei beschränkt er sich sowohl bei der literarischen als auch der normativen Betrachtung im Wesentlichen auf Texte der kanonischen Höhenkammliteratur. Die Hauptteile sind chronologisch gegliedert und behandeln nacheinander die Epochen der Antike, des Mittelalters, der Frühen Neuzeit und der Moderne. Er kommt für die einzelnen Epochen zu folgenden Ergebnissen: In der Antike habe der Typus der Waffenbrüderschaft den Freundschaftsdiskurs dominiert. Freundschaft sei ein Element der Politik gewesen, das moralisch aufgeladen worden sei. Hierin hätten philosophischer und literarischer Diskurs der Antike übereingestimmt. Im Mittelalter sei Freundschaft zunehmend sakralisiert worden. Freundschaft sei mehrheitlich als Dreierbeziehung zwischen Freunden und Gott dargestellt worden. In der Freundschaft hätten sich literarische Protagonisten mit Gott vereinigt. Daraus habe eine Emotionalisierung der Freundschaft resultiert. In der Frühen Neuzeit sei das geteilte Liebesleid zum literarischen Paradigma von Freundschaft geworden. Die Kunst habe großen Einfluss auf den Freundschaftsdiskurs gewonnen. Künstlerische Modelle hätten in der Frühen Neuzeit zu einer Individualisierung der Freundschaft geführt. In der Moderne schließlich sei eine Verbindung von Wissenschaft und Freundschaft hergestellt worden. Auf diesem Wege sei es zu einer Psychologisierung der Freundschaft gekommen. Hier erst seien Freundschaft im Mehrheitsdiskurs zu einem homosozialen und Liebe zu einem heterosozialen Phänomen erklärt worden. Übergänge und Akzentuierungen der einzelnen Freundschaftsmodelle seien schon in den jeweils vorhergehenden Epochen angelegt gewesen.

Kraß' Studie birgt wie die meisten Untersuchungen en longue durée eine große Gefahr im Hinblick auf methodische Probleme, die nicht immer explizit angesprochen und aufgelöst werden. Für den Historiker bleiben zunächst die Epocheneinteilung und Epochengrenzen erklärungsbedürftig. Ferner ist nach nationalen Differenzierungen dieser Epocheneinteilung innerhalb Europas und Nordamerikas zu fragen. Es stellt sich stets die Frage, ob die gewählten Beispiele repräsentativ für den gesamten abendländischen Kulturraum sind oder ob hier stärkere regionale Differenzierungen hätten erfolgen müssen.

Ein weiteres Problem stellt aus der Perspektive eines Historikers die Quellenauswahl dar, die aufgrund des sehr langen Betrachtungszeitraums und der akribischen Arbeitsweise des Autors unweigerlich exemplarisch ausfallen musste. Der Fokus auf kanonische Texte erscheint deshalb zur Operationalisierung notwendig, wirft aber die Frage nach der Auswahl solch exemplarischer Texte auf. Für die Vormoderne besteht hier innerhalb der Literaturwissenschaft wohl ein breiter Konsens, der hier keiner weiteren Erklärung bedarf, aber in der entfalteten Moderne ist der kanonische Charakter von literarischen Texten zunehmend umstritten. Die Kanonisierung von Texten selbst ist wiederum eine originär historische Fragestellung und darf kritisch hinterfragt werden.

Zusammenfassungen der einzelnen Hauptkapitel und ein abschließendes Fazit der Gesamtbetrachtung wären wünschenswert gewesen und hätten die Rezeption der Forschungsergebnisse von Andreas Kraß für einzelne Epochen und en longue durée sicherlich erleichtert. Ein Fazit hätte zudem Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Epochen und die Rezeptionsgeschichte literarischer Topoi stärker in den Blick nehmen können. Die genannten Anregungen mindern jedoch keinesfalls die wichtigen Erträge der Arbeit im Einzelnen.

Der große methodische Mehrwert in Ein Herz und eine Seele liegt darin, dass Kraß sich konsequent weigert, Queerness und Homosexualität zu behandeln, wo seine Quellen diese nicht eindeutig beinhalten. Auf diese Weise vermeidet er anachronistische Rückprojektionen oder politische Instrumentalisierungen der Geschichte, wie sie vielfach in der älteren Schwulengeschichte zu finden sind. In diesem Sinne erweist sich seine literaturgeschichtliche Studie als vorbildlich für kommende historische Untersuchungen homosozialer Beziehungen in der Vormoderne. Der Autor hat ein alltägliches und bedeutendes gesellschaftliches Phänomen zum Thema gewählt und damit für die historische Forschung sichtbar gemacht. Kraß' Ansatz bietet aber auch für die Geschichtswissenschaft einiges kritisches Potential, das es verdient hätte, operationalisiert zu werden.

Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist nun, die Quellengrundlage auszuweiten. Es stellt sich die Frage nach der Darstellung der Männerfreundschaft jenseits der Höhenkammliteratur, in Selbstzeugnissen, privaten Korrespondenzen und Staatsakten. Hier erst können Aussagen über die tatsächliche historische Bedeutung von Männerfreundschaften getroffen werden. Eine solche im besten Sinne positivistische Forschung kann in Zusammenarbeit mit der Kulturgeschichte völlig neue Perspektiven auf Praktiken und Diskurse von Männerfreundschaften im Abendland eröffnen. Andreas Kraß hat hierfür einen wichtigen Grundstein gelegt.