Kenneth J. Dover:
Greek Homosexuality

with Forewords by Stephen Halliwell, Mark Masterson and James Robson, London u. a.,
Bloomsbury Academic 2016, 246 S., ca. £ 30
 

sorry, no cover

 

Rezension von Rafał Matuszewski, Salzburg

Erschienen in Invertito 19 (2017)

Ivanovas berühmte — obgleich (und weil) missverstandene — Äußerung, wonach es keinen Sex in der Sowjetunion gebe, [1] erinnert gewissermaßen an die eifrigen Bemühungen der älteren Forschung, die Homoerotik der alten Griechen zu negieren, zu verschweigen oder zumindest abzuwerten. In der Welt der Philosophen und Dichter, der großartigen Architekturwerke und der Demokratie habe es keinen Platz für derart ausschweifende, niedere und verwerfliche körperliche Lüste gegeben: so zumindest ein in älteren, von Prüderie geprägten Überblicksdarstellungen der griechischen Geschichte meist gezeichnetes Bild. Sexualität, einer der grundlegenden Aspekte des menschlichen Lebens, galt in der Altertumswissenschaft genauso wie in der Geschichtsforschung zu anderen Zeiten lange als ein ungebührliches, triviales, einer wissenschaftlichen Behandlung nicht würdiges Thema. [2] Die Wenigen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts möglicherweise mit der Idee spielten, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, mussten damit rechnen, dadurch an den Rand akademischer Respektabilität verdrängt zu werden. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass eine der ersten umfangreicheren wissenschaftlichen Studien, die dem Sexualleben der alten Griechen, darunter der Päderastie, gewidmet waren, die zweibändige Sittengeschichte Griechenlands (1925/1926), nicht unter dem richtigen Namen ihres Verfassers Paul Brandt, sondern unter dem Pseudonym Hans Licht veröffentlicht wurde. Auch wenn es ungefähr zeitgleich andere Forscher wagten, das delikate Problem der Homoerotik aufzugreifen, zielten ihre Bemühungen meist darauf, die Bedeutung griechischer Päderastie beträchtlich herabzusetzen, indem man ihr einen angeblichen Initiationscharakter oder, wie in Erich Bethes These von der dorischen Knabenliebe, ein zeitlich und geographisch beschränktes Auftreten zuschrieb.

Auf eine sachlich fundierte und von den stark verwurzelten Vorurteilen befreite Untersuchung hat die Forschung relativ lange gewartet. Erst 1978 hat der damals in Oxford lehrende und gerade in jenem Jahr zum Präsidenten der British Academy gewählte Gräzist und Altertumsforscher Sir Kenneth Dover (1920—2010) eine Monographie vorgelegt, deren 1989 publizierte, überarbeitete und erweiterte Fassung schnell zum Standardwerk wurde und die 2016 im Bloomsbury-Verlag eine dritte Auflage erfahren hat. Diese Neuausgabe wurde durch zwei zusätzliche Beiträge bereichert: Der eine aus der Feder von Dovers Schüler Stephen Halliwell bietet einen wertvollen Blick hinter die Kulissen der Entstehung von Dovers Buch (S. vii-xiv). Dabei zeichnet Halliwell in groben Zügen das intellektuelle Porträt seines Lehrers nach und bespricht informativ dessen mäandrierenden Weg zum Schreiben der Greek Homosexuality, darunter seine Vorarbeiten zu diesem Thema, seine Meinungsentwicklungen und Deutungsänderungen sowie intellektuelle Einflüsse. Für die mit dem wissenschaftlichen Oeuvre und dem Lebensweg Dovers nicht vertrauten LeserInnen ist das Vorwort Halliwells hilfreich, um den zeitlichen und geistigen Kontext, in dem das Buch entstanden ist, kennenzulernen und dadurch besser zu verstehen, worin seine bahnbrechende Bedeutung liegt. Allseitige Beachtung fand Dovers Buch nämlich vor allem wegen seiner prüderiefreien Sachlichkeit, der intendierten Objektivität und des erstrebten Realitätsbezugs, darüber hinaus aufgrund der Nachvollziehbarkeit sowie der tatsachengestützten und quellenfundierten Darstellung des Phänomens der antiken Homoerotik. Der spezifische Zugang zum Thema war nicht zuletzt durch die offene Haltung des Verfassers begünstigt, über die er selbst im Vorwort folgendermaßen reflektiert: "I am fortunate in not experiencing moral shock or disgust at any genital act whatsoever, provided that it is welcome and agreeable to all the participants (whether they number one, two or more than two)." [3]

Im zweiten Vorwort zu dieser Neuausgabe befassen sich Mark Masterson und James Robson genauer mit dem Inhalt des Buches und mit dessen Rezeption (S. xv-xxvii). Der Fokus ihres Beitrags liegt folglich auf der kritischen Erläuterung der von Dover angewandten Fragestellung und Herangehensweise sowie der konzisen Darlegung der theoretischen und methodischen Entwicklungen, Debatten und Kontroversen, welche Dovers Monographie in fachkundigen sowie fachfremden Kreisen ausgelöst hat. Der Forschungsstand zum Thema "griechische Homoerotik" hat sich seit dem Erscheinen der Greek Homosexuality — etwa bezüglich des angeblich rituellen und initiatorischen Charakters der griechischen Päderastie, ihrer Sozialwahrnehmung und Einschätzung in der demokratischen Gesellschaft Athens des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts, weiter bezüglich der weiblichen Homosexualität in der griechischen Antike sowie der Auslegung der ikonographischen Darstellungen — entscheidend verändert, sodass sich eine der Neuausgabe dieses Werkes beigefügte bündige Zusammenfassung der gegenwärtigen Forschungslage als notwendig und sinnvoll erweist. Allerdings muss hier bemerkt werden, dass der von Masterson und Robson präsentierte Überblick über den status quaestionis ein wenig oberflächlich wirkt und dass eine gründlichere Recherche und Einbeziehung der neueren Literatur wünschenswert gewesen wäre. [4]

Der kanonische Status des Buches von Dover — der für seine Arbeit außer den schriftlichen Quellen auch attische Vasenbilder heranzieht — ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es ein bestimmtes wissenschaftliches Paradigma verfestigt hat. Diesem zufolge bestand die soziale Praxis der Päderastie modellhaft darin, dass sich ein älterer, reifer Mann (erastes) um einen unreifen, in der Regel noch flaumlosen Jüngling (eromenos) liebevoll kümmerte. Kennzeichnend für eine derartige Beziehung sei ihr erzieherischer Charakter gewesen, der die Päderastie zu einer gesellschaftlich akzeptablen Praxis gemacht habe. Sexuelle Befriedigung sei zwar im Prinzip möglich gewesen, allerdings angeblich nur für den älteren, beim Sex eine aktive Rolle spielenden Partner; der passive Knabe habe hingegen nur seine Schenkel zur Verfügung stellen und am Sex kein Vergnügen empfinden sollen. Schenkelverkehr sei Dover zufolge, der so die Respektabilität der Griechen zu retten versuchte, viel populärer gewesen als der von vielen seiner Zeitgenossen als entehrend angesehene Analverkehr. Die Hervorhebung der Dichotomien alt/jung, dominant/untergeben, aktiv/passiv ist seit dem Erscheinen von Dovers Buch und der darauffolgenden Einbeziehung dieser Kategorien durch Michel Foucault in dessen Konzeption von Macht und Sexualität zu einem festen Bestandteil des Modells griechischer Päderastie geworden. Seitdem analysierte man die griechische Homoerotik jahrelang beinahe ausschließlich unter dem Blickwinkel der (asymmetrischen) sexuellen Rollen und der Altersunterschiede bei Liebeskontakten. All das geriet erst in den letzten Jahrzehnten — in erster Linie dank der grundlegenden Arbeiten von James Davidson — zunehmend in die Kritik. [5] Insbesondere die umfangreiche Untersuchung der griechischen Vasenmalerei hat zu dem Schluss geführt, dass der körperliche Verkehr auch zwischen gleichaltrigen Partnern nicht selten vorkam. [6]

Die Probleme mit Dovers Buch beginnen bereits beim Titel: Das Griechische verfügt über kein Äquivalent zum modernen Begriff "Homosexualität" und die griechischen Autoren haben sich über die körperliche Liebe zweier gleichgeschlechtlicher Partner relativ wenig geäußert. Was eine päderastische Beziehung ausmachte, war das Gefühl der Liebe — eros. Es wäre deswegen vielleicht sinnvoller gewesen, von Homoerotik anstatt von Homosexualität zu sprechen. Darüber hinaus hat Dover der weiblichen Homoerotik [7] in seinem Werk relativ wenig Platz eingeräumt.

Dover, der älteren Forschern gewissermaßen darin folgte, Päderastie als eine Art pädagogisches Verhältnis zu sehen, und der das Modell von einem aktiven reifen erastes und einem passiven unreifen eromenos "kanonisiert" hat, beginnt sein Buch mit der Analyse eines Falles, der dem von ihm postulierten Modell in gewissem Sinne widerspricht. Dabei handelt es sich um den Fall eines athenischen Politikers namens Timarchos, der weder die Rolle als älterer, erziehender Liebender noch als junger Geliebter erfüllte. Es wurde ihm hingegen vor Gericht vorgeworfen, sich in jungen Jahren prostituiert zu haben. Der junge Timarchos soll seinem politischen Gegner zufolge aufgrund der vermeintlich in seiner Natur liegenden Tendenz zur Zügellosigkeit und Ausschweifung selbst nach Liebhabern gesucht und aus derartigen Kontakten sogar materiellen Nutzen gezogen haben. Zwar geht sein Ankläger in der Gerichtsrede gegen Timarchos kurz auf die akzeptable Form von Liebe (eros dikaios) ein, dennoch lässt seine viel ausführlichere Darlegung der Verhaltens- und Lebensweise des Timarchos erkennen, dass in Athen zum einen erotische Kontakte auch zwischen Altersgenossen nicht ganz unbekannt waren und dass jene zum anderen nicht unbedingt auf die Pubertätszeit beschränkt waren. Ohnehin zeigen sowohl der Fall des Timarchos, dessen Analyse einen Großteil der Monographie Dovers einnimmt, als auch andere Quellen wie etwa Platons Gastmahl, dass das Phänomen der griechischen Homoerotik differenzierter zu betrachten ist, als dies der Autor von Greek Homosexuality getan hat.

Trotz seiner Schwächen stellt das Werk Dovers einen Meilenstein auf dem Weg zur Erforschung griechischer Homoerotik dar, und obwohl die umfassende und tiefgreifende Forschung der letzten Jahre das Bild der antiken Sexualität (darunter auch der weiblichen Homosexualität) weitgehend verändert hat, bildet die Monographie von Kenneth Dover weiterhin eine durchaus wertvolle und empfehlenswerte Einstiegslektüre für alle an gleichgeschlechtlichem Begehren in der griechischen Antike Interessierten.

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[1] Die Äußerung fiel während der amerikanisch-sowjetischen Telebrücke (Leningrad-Boston-Space-Bridge) vom 17. Juli 1986; Lalo, Alexei: Libertinage in Russian Culture and Literature: A Bio-History of Sexualities at the Threshold of Modernity, Leiden: Brill 2011, S. 31, Anm. 9.

 

[2] Einen informativen Überblick über die Forschungsgeschichte zur griechischen Homosexualität bietet Lengauer, Włodzimierz: Od haniebnego występku do gender studies. Badania nad grecką paiderastia w XX wieku, in: Przegląd Historyczny 98 (2007), Heft 3, S. 315-328 (polnisch mit englischer Zusammenfassung). Siehe ferner Halperin, David M.: One hundred years of Homosexuality and other Essays on Greek Love, New York: Routledge 1990, S. 1-9; S. 54-71.

 

[3] "Ich habe das Glück, keinen moralischen Schock oder Abscheu bei irgendeiner genitalen Handlung zu empfinden, vorausgesetzt, dass sie allen Teilnehmern willkommen und angenehm ist (egal, ob sie nun einer, zwei oder mehr als zwei sind)". Dover, Kenneth J.: Greek Homosexuality, London (u.a.): Bloomsbury Academic 2016, S. xxx.

 

[4] Etwa Kilmer, Martin F.: Greek Erotica, London: Duckworth 1993. Ogden, Daniel: Homosexuality and Warfare in Ancient Greece, in: Lloyd, Alan B. (Hg.): Battle in Antiquity, London: Duckworth 1996, S. 107-168. Chankowski, Andrzej S.: Οίφειν: Remarques sur les inscriptions rupestres de Théra et sur la théorie de la pédérastie initiatique en Grèce ancienne, in: Derda, Tomasz / Urbanik, Jakub / Węcowski, Marek (Hg.): Εύεργεσίας χάριν. Studies presented to Benedetto Bravo and Ewa Wipszycka by their disciples, Warschau: Fundacja im. Rafała Taubenschlaga 2002, S. 3-35. Vattuone, Riccardo: Il mostro e il sapiente. Studi sull'erotica greca, Bologna: Pàtron 2004. Scanlon, Thomas F.: The Dispersion of Pederasty and the Athletic Revolution in Sixth-Century BC Greece, in: Journal of Homosexuality 49 (2005), Heft 3/4, S. 63-85. Hupperts, Charles: Boeotian Swine: Homosexuality in Boeotia, in: Journal of Homosexuality 49 (2005), Heft 3/4, S. 173-192. Lengauer, Włodzimierz: Eros among citizens, in: Palamedes 1 (2006), S. 67-83. Matuszewski, Rafał: Eros and sophrosyne. Morality, social behaviour and paiderastia in 4th-century B. C. Athens, Warschau: Instytut Historyczny UW 2011. Hubbard, Thomas K. (Hg.): A Companion to Greek and Roman Sexualities, Chichester: Wiley Blackwell 2014.

 

[5] Davidson, James: Dover, Foucault and Greek Homosexuality: Penetration and the Truth of Sex, in: Past and Present 170 (2001), S. 3-51. Davidson, James: The Greeks and Greek Love: a Radical Reappraisal of Homosexuality in Ancient Greece, London: Weidenfeld and Nicolson 2007. Für eine ausführliche Besprechung siehe Lengauer, Włodzimierz: Love, Pleasure and Sexuality. James Davidson on Greek Love, in: Palamedes 4 (2009), S. 153-165.

 

[6] Zur Ikonographie siehe Lear, Andrew / Cantarella, Eva: Images of Pederasty: Boys Were Their Gods, London: Routledge 2008. Vgl. ferner Parker, Holt N.: Vaseworld: Depiction and Description of Sex at Athens, in: Blondell, Ruby / Ormand, Kirk (Hg.): Ancient Sex: New Essays, Columbus: The Ohio State University Press 2015, S. 23-142.

 

[7] Dazu jetzt Boehringer, Sandra: L'homosexualité féminine dans l'Antiquité grecque et romaine, Paris: Les Belles Lettres 2007.