Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser,

für diese Ausgabe konnten wir seit längerer Zeit wieder einmal einen Schwerpunkt benennen: Americana. Aus der Geschichte der Neuen Welt. Wir haben die dazu passenden vier Aufsätze nicht gesucht, sondern sie wurden zufällig eingereicht. Sie decken zeitlich, geographisch und thematisch ein weites Spektrum ab:

Florian Wieser berichtet über "Neuspanien", das heutige Mexiko, errichtet im 16. und frühen 17. Jahrhundert als Kolonie auf dem Gebiet des sogenannten Aztekenreichs. Die Denkweisen der autochthonen und der erobernden Gruppen divergierten so sehr, dass aus den vorhandenen Quellen kaum zu erfahren ist, welche Sexualpraktiken dort geübt wurden. Die mannmännlichen Ereignisse wurden von den Eroberern umstandslos dem Sodomiekonzept zugeordnet und zur Abqualifikation der indigenen Gesellschaften benutzt; eine kriminalrechtliche Verfolgung und religiöse Verdammung schloss sich daran an. Leitend war ein Konzept vom idealen Mann.

Die folgenden drei Aufsätze blicken auf unterschiedliche Aspekte des schwulen Lebens in den USA der 1960er bis 1980er Jahre: Ben Miller zeigt in seinem Beitrag, wie Harry Hay (1912–2002), ein wichtiger Wegbereiter der US-amerikanischen Homophilen- und Homosexuellen-Bewegungen, durch marxistische Theorie beeinflusst wurde, insbesondere durch Friedrich Engels„ Konzept des matriarchalen, primitiven Kommunismus. Von besonderer Bedeutung für Hays Theoriebildung war der Berdache der Native Americans.

Ulrich Linke untersucht die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Al Carmines„ Musical The Faggot von 1973, dem ersten homo-emanzipatorisch gedachten Musical. Er stellt damit ein Werk vor, das sowohl von der Geschichtswissenschaft als auch von der Musik- und Theaterwissenschaft bisher kaum beachtet worden ist.

Reinaldo Arenas verließ unter Schwierigkeiten das von Fidel Castro geprägte Kuba, wie er in einem vielgelesenen und verfilmten Buch beschrieben hat. Wie es ihm in den Vereinigten Staaten erging, schildert Kevin Breu.

Ergänzt werden die Schwerpunktbeiträge durch drei weitere Beiträge zur Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit und in der frühen BRD: Matthias Gemählich beleuchtet die bisher nicht untersuchte Verfolgung homosexueller Männer in Nürnberg und zeigt, dass die Verfolgung einerseits ähnlich verlief wie in anderen Städten des Reiches, andererseits aber eine besondere Radikalität der Verfolgung in einer der "Führerstädte" zu konstatieren ist, da Sondergerichte besonders harte Strafen aussprachen. Einen Blick auf Polen wirft Georg Gostomczyk und schildert kritisch, wie sich dieses Land mit der NS-Verfolgung der Homosexuellen schwertut. Invertito plante, Bohdan Piętkas Aufsatz aus dem Jahr 2014 über die "Häftlinge mit dem rosa Winkel im KZ Auschwitz" abzudrucken, aber Georg Gostomczyk sträubten sich die Haare, als er an die Übersetzung ging. In seinem persönlich gehaltenen Beitrag erklärt er, warum. Karl-Heinz Steinle berichtet über eines der neuen Forschungsprojekte zur Homosexuellenverfolgung in Nachkriegsdeutschland zwischen 1949 und 1969. Gefördert von jeweils einem Bundesland, auf dessen Region die Recherchen sich beziehen, werden hier endlich die Verhältnisse „auf der Fläche„ statt bloß in den Metropolen geklärt. In seinem Artikel geht es um Baden-Württemberg.

Zum Tode von Wolfgang Popp sichtet Gerhard Härle dessen Lebensleistung. Popp hatte in den 1980er und 1990er Jahren die kleine Universität Siegen zu einem Schwerpunkt literarhistorischer Forschung und Publizistik über gleichgeschlechtliches Begehren gemacht. Bis heute gibt es dafür keinen Ersatz und vielen Jüngeren sagt nicht einmal der Name Wolfgang Popp etwas. Die Geschichtsschreibung der Homo- und LSBT*I-Studien wird ihn nicht vergessen. Auch diese Ausgabe enthält selbstverständlich Rezensionen neuerer Publikationen.

Vor fast 20 Jahren, 1999, erschien die erste Ausgabe von Invertito. Zwar können wir wegen der seit einigen Jahren jeweils verspäteten Veröffentlichung des Jahrbuches noch keine Jubiläumsausgabe feiern, dennoch bietet der anstehende runde Geburtstag bereits jetzt Anlass zu intensiven Diskussionen: insbesondere um die Ausrichtung und die Positionierung des Jahrbuches im breiten, nicht nur akademischen Bereich der Forschungen zur Geschichte der Homosexualitäten und damit verbunden mit der Frage, welches Zielpublikum wir mit der Zeitschrift ansprechen wollen.

Eine solche Diskussion bezieht zwangsläufig die Frage nach dem Stand der Historiographie der Homosexualitäten ein: Genügt die Nische, die sie sich im Kontext der Geschlechter- und Emotionsgeschichte erkämpft hat, oder soll sie sich wie diese verstärkt um die Wahrnehmung im "Hauptstrom" der Geschichtswissenschaften bemühen? Was ist ihr Verhältnis zu den Queer Studies, die sich als politische Wissenschaft verstehen und gesellschaftliche Veränderungen einfordern? Wie weit soll sie sich methodisch wie inhaltlich auf die eigenen "bewährten" Traditionen stützen oder sich in der ganzen Bandbreite der zur Verfügung stehenden geschichts- sowie literatur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen auch neuen Themen und Forschungszweigen öffnen und damit vielleicht auch das Risiko eingehen, selbst an Profil und an Identifikations- und Orientierungspotential zu verlieren? Wie weit können neue Ansätze, etwa die Gedächtnisforschung und die Theorie der Ko-Erinnerung, für die Geschichte der Homosexualitäten fruchtbar sein?

Zu dieser Diskussion sind alle LeserInnen herzlich eingeladen, sich in welcher Form auch immer (als kurzes Statement, als kleiner oder großer Beitrag, als Information an die Redaktion oder zur Veröffentlichung bestimmt) zu beteiligen. Wir freuen uns über Zuschriften zum Thema, wie immer aber auch über informative und orientierende Rezensionen und Forschungsbeiträge.

Die Erweiterung der Redaktion hat zum Teil zu einer Arbeitsentlastung geführt. Ab dieser Ausgabe nennen wir jeweils nur diejenigen, die an der Ausgabe mitgewirkt haben. Wir hoffen mit Invertito 20 wieder in den richtigen zeitlichen Rhythmus zurückzufinden.

Die Redaktion




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