Ariane Rüdiger:
"Es gibt noch viel zu tun".

Wie Lesben, Schwule, Bi-, Trans-, Intersexuelle und Queers um ihre Rechte kämpfen und dabei die Gesellschaft verändern,
Berlin: Querverlag 2016, 271 S., 16,90 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Luisa-C. Böck, Berlin

Erschienen in Invertito 18 (2016)

In Ariane Rüdigers 2016 erschienenem Interview-Band eröffnen der Leser*innenschaft 36 LBGTIQ-Protagonist*innen ihre persönlichen Schilderungen aus der Binnenperspektive der deutschen Emanzipationsbewegung auf das eigene Leben und Werk. Trotz positiver Zukunftsvisionen von einer befreiten Gesellschaft ohne Klassifikationssysteme warnen die wachsamen Vertreter*innen eindringlich davor, dass es keine Garantien für den erreichten Status quo gebe – nirgendwo. Daher besteht fast Einigkeit in den beiden Appellen "Politisiert euch!" und "Solidarisiert euch!". Eine moralische Verpflichtung zur Wehrhaftigkeit, aktiv für sich oder die Gruppe einzustehen, wird dennoch nicht postuliert. Die Interviewten verzichten darauf, Vorwürfe an die sexuellen Minderheiten zu richten, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht dem Kampf um Emanzipation verschrieben haben. Die einzelnen Lebensgeschichten demonstrieren, wie die gesellschaftliche Positionierung die freiwillige Entscheidung zum persönlichen Einsatz begünstigt. Ob zivilgesellschaftliches Engagement von Minderheiten zumutbar und möglich ist, könne nur der/die Akteur*in für sich selbst entscheiden.

Für den Lesenden fungieren Rüdigers Interviewpartner*innen als lebendige Beispiele für die Akzeptanz sexueller Vielfalt und auch als Meinungsbildner*innen. Sie gehören zu denen, die es sich leisten konnten, ihre andere Lebensweise gegen äußere Widerstände zu verteidigen. Sie stammen aus Deutschland, sind bis auf vier Fälle überwiegend westdeutscher Herkunft oder sind aus anderen Teilen der Welt (Iran, Polen, Russland, Griechenland) nach Deutschland gekommen. Bis auf sechs Personen verfügen sie über eine universitäre Ausbildung und stammen überwiegend aus einem bildungsnahen Milieu oder sind zumindest in abgesicherten ökonomischen Verhältnissen aufgewachsen.

Ariane Rüdiger stellt anhand des autobiografischen Materials ihrer Protagonist* innen ein gutes Stück Bewegungsgeschichte der LGBTIQ-Emanzipation zusammen. Was interessiert, sind persönliche Schicksale: Was bringt Einzelne dazu, eine zweite Wirklichkeit, eine Interessengemeinschaft aufzubauen und öffentlichen Raum einzunehmen? Offensichtlich kann das politische Erwachen Folge einer erlebten Diskriminierung sein, eine solche muss aber nicht zwangsläufig dazu führen. Neben der eigenen Betroffenheit – so lässt sich an Rüdigers Protagonist*innen ablesen – führen maßgeblich auch zufällige persönliche Kontakte zu gesellschaftskritischen Personen zu politischem Engagement. Zwar kann sowohl das unfreiwillige Einnehmen einer Außenseiterrolle als auch das unauffällige Sich-Einfügen in die vorherrschenden konventionellen Schablonen eine lehrreiche Wirkung entfalten, dennoch: Es scheint heute kein gemeinsames "Wir" der sexuell Diskriminierten (mehr) zu geben, so die Stimmen der Interviewten. Grenzen verlaufen vertikal und horizontal oder besser: intersektional.

Die Rede von erforderlichen Ressourcen für den Widerstand taucht immer wieder auf. Es geht um die eigenen Grenzen der Leistungsfähigkeit bei den wenigen Aktiven, die sich mühen, Hilfe nach innen zu leisten. Das Ziel des Empowerments der Nichtheteronormativen ist stets die Herstellung einer inklusiven Gesellschaft ohne falsch verstandene Toleranz.

Es handelt sich bei den Interviews aber nicht ausschließlich um Narrative über die kreative und innovative Widerständigkeit der LGBTIQ-Menschen gegen eindimensionale Normalitätsverständnisse und unreflektierte gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten. Das Stereotyp der "gefühlvolleren Homos" wird lediglich einmal angesprochen. Homosexuelle sind nicht grundsätzlich die besseren Menschen – das sagen nicht wenige der Interviewten über die eigene Gruppe.

Längst nicht alle LGBTIQ gehen gegen eine Existenz als Opfer der Verhältnisse an, denn Widerstand ist voraussetzungsreich. Wie sehr das der Fall ist, zeigt stellvertretend für viele andere Intersexuelle die Geschichte Lucie Veiths. Als genetische XY-Frau ist sie ein Paradebeispiel für die missachtenden und unmenschlichen medizinischen Praktiken einer invasiven Standardisierung der Geschlechter. Lucie Veith stellt den Umgang mit Intersexuellen zu Recht in einen engen Zusammenhang mit Folter. Mit besonderer Eindrücklichkeit macht die Interviewte nachvollziehbar, wie sehr ein durchaus positives Selbstempfinden schnell durch eine gutgemeinte autoritäre Deutungs- sowie Verfügungsgewalt ins Wanken geraten kann. Der eigene Körper gehört der Medizin. Er wird einer traumatischen Beschauung unterworfen und gleichzeitig der Selbstbestimmung entzogen. Vermeintliche Hilfe mit der unterstellenden Annahme, dass sich das Andersartige selbst als sozial abweichend wahrnehmen und darunter leiden wird, gleicht institutionalisierter wie struktureller Gewalt. Lucie Veith bekommt ihr Geschlecht verordnet: Was nicht passt, wird passend gemacht. Viele nicht hetero-normative Personen sind psychischem und physischem Druck ausgesetzt – aber nicht in Folge des bloßen "So-Seins", sondern häufig als Folge einer starren, ignoranten und realitätsverleugnenden Zwei-Geschlechter-Ideologie.

Lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Minderheiten haben – auch dies ist ein Verdienst des Buches von Ariane Rüdiger – einer normierten Mehrheitsgesellschaft Grundlegendes zu vermitteln: Die Tradition einer Eindeutigkeit der geschlechtlichen Kategorien zieht massive Verletzungen Einzelner sowie letztlich die Gefahr einer geschlossenen und damit repressiven Gesellschaft nach sich. Angesichts der Existenz von 3.998 Differenzierungsvarianten im Geschlechter-Kontinuum zwischen männlich und weiblich (S. 27) stellen die von den Interviewten ins Gespräch gebrachten praktischen Diversity-Ansätze sowie der theoretische Queer-Diskurs adäquatere Herangehensweisen an die Mehrdeutigkeit und Vielfalt von Individuen dar. Ein Protagonist bringt es auf den Punkt: Das Problem sind fehlende Diskurse. Ein solches Informationsvakuum verhindert eine Aufklärung, die die starren Dualismen mit Gegendarstellungen brechen soll. Dieses Defizit an Informiertheit mindert Ariane Rüdiger mit der Veröffentlichung ihrer qualitativen Befragung. Individuelles Leben wird in Ansätzen transparent gemacht und die Rezipient*innen erhalten die Möglichkeit, Subjektivität nachzuvollziehen. Auch Selbstverfehlungen werden selbstkritisch eingestanden. Die Interviewten können zu potentiellen Sympathieträger*innen werden. Hoffentlich finden sich Lesende wie auch "besorgte Eltern" bei der Lektüre an dem Punkt wieder, wo sie sich fragen, was mensch überhaupt für ein Problem mit "diesen Menschen" haben könnte. Dann empfänden sie genauso wie die Betroffenen selbst: nicht nachvollziehbares Unverständnis für Ablehnung.

Die theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen zu gesamtgesellschaftlichen Kontroversen um Gewalt und Sexualität, Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, Pädophilie, SM etc. kommen im Ansatz zur Sprache und vermitteln ein erstes Verständnis für deren Komplexität. Das Buch erzeugt Interesse, sich mit einer Vielzahl der in den Interviews angeschnittenen Problematiken und gesellschaftspolitischen Ereignissen (Peter Gauweiler, Franz Josef Strauß) auseinanderzusetzen. Es liefert Stoff für analytische Betrachtungen, etwa der "Queeren Theorie" oder der Institution "Ehe". Aus der LGBTIQ-Richtung kommend, werden im Zuge der Diskussion um die Homo-Ehe neue kritische Sichtweisen auf die traditionelle Selbstverständlichkeit in den Diskurs eingebracht. Die Interviews verdeutlichen die Notwendigkeit eines globalen gesellschaftspolitischen Einsatzes für die unveräußerlichen Rechte auf den eigenen Körper und die eigene Sexualität – insbesondere im Lichte dessen, dass immer noch in sieben Nationen bei Homosexualität die Todesstrafe droht und diese als Fluchtgrund oft verschwiegen wird.

Ein wichtiger Aspekt, auf den sich viele der interviewten Protagonist*innen beziehen, ist die Generationenfrage. Zum einen spielt sich Szene heutzutage anders ab als noch vor 40 oder vor 20 Jahren. Durch bequeme Kontaktmöglichkeiten über die Medien werden Szene-Räume und Gruppenidentität anders gestiftet. Die Erfahrung, ein "Sicherheitsrisiko" für den Staat darzustellen, ist der jungen Generation aufgrund der verbesserten rechtlichen Stellung Homosexueller nicht mehr vertraut. Dennoch kann von gleichem Recht wohl kaum die Rede sein, so lange nicht alle Lebensgemeinschaftsmodelle soziale Absicherung erfahren.

Die Interviewten stufen die Sicherheit betroffener junger Personen heutzutage eher ökonomisch als sozial gefährdet ein. Es heißt, die jungen LGBTIQs hielten nicht so große Stücke auf Separatismus. Diese "fehlenden Communitys" werden mit einem geringeren Interesse und Bedarf an einem sozialen Schutzraum erklärt. Es sei heute sowieso unkompliziert, sich unter den Mainstream zu mischen. Vermehrt sei beobachtbar, dass Identitätspolitik unter anderen Vorzeichen geschehe: "queer", sprich anti-identitär ohne Festlegung. Eine verschärfte neokapitalistische Arbeitsökonomie und individualistischer Konkurrenzdruck vereinnahmen auch LGBTIQ zunehmend, so dass für solidarisches Gruppenbewusstsein junger LGBTIQs weniger Kapazität bleibt.

In diesem Sinne entwerfen die Protagonisten für LGBTIQ eine globale Gesellschaftsvision: soziale Umverteilung von Reichtum und Machtverhältnissen bis hin zum solidarischen Ökofeminismus. Jegliche Form der Unterdrückung, besonders der "patriarchale Müll" (S.144), sei wegzuräumen, um gesellschaftlichem Rückschritt, z. B. den gewaltsamen Auseinandersetzungen um Anerkennung und Ressourcen, den ideellen Boden zu entziehen. Herrschende soziale Gerechtigkeit würde auch LGBTIQ-Identitätspolitik obsolet machen, so die Idee.

Für Novizen des LGBTIQ-Faches sind die Fußnoten mit kursorischem Basiswissen für das Verständnis der Interviewbezüge durchaus bereichernd. Wertvoll ist Rüdigers Veröffentlichung auch durch die zahlreichen intertextuellen Hinweise auf Literat*innen, Künstler*innen, Werke, Einrichtungen, Organisationen, Materialien, Personen usw.

Die Autorin tut gut daran, den Pionieren der LGBTIQ-Szene und nicht den medialen "Anne Wills und Hape Kerkelings" das Wort zu geben. Mit ihren persönlichen Deutungen der Zeichen der Zeit sowie ihren visionären Hoffnungen liefern die LGBTIQ-Vertreter*innen der Leser*innenschaft eine niederschwellige wie anstoßende Lektüre.