Raimund Wolfert:
Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik.

Kurt Hiller, Hans Giese und das Frankfurter Wissenschaftlich-humanitäre Komitee,
(= Hirschfeld-Lectures, Bd. 8), Göttingen: Wallstein Verlag 2015,
72 S., 10 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln †

Erschienen in Invertito 18 (2016)

2012 begann die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Berlin) die Vortrags- und Schriftenreihe Hirschfeld Lectures. Es ging und geht dabei ebenso um Anstöße für die historische Forschung wie um aktuelle Fragestellungen bezogen auf Verfolgung, Diskriminierung und Alltag von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Transsexuellen, intersexuellen und queeren Personen (LSBTTIQ). Gemeinsam mit dem Wallstein Verlag (Göttingen) werden die Vorträge in der Reihe Hirschfeld-Lectures veröffentlicht. Erschienen sind bisher elf Hefte.

Die Geschichte der Homosexualitäten in der Bundesrepublik vor 1989 war lange eines der wenig beachteten Themen der wissenschaftlichen Forschung. Das hat sich in den letzten Jahren zum Glück geändert. Invertito publizierte 1999 ein Themenheft Homosexualitäten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1969, 1994 erschien in Köln Himmel und Hölle. Das Leben der Kölner Homosexuellen 1945–1969, auf lokaler Ebene ein erster Versuch, das Schicksal der homosexuellen Männer in den ersten Nachkriegsjahrzehnten dem Vergessen zu entziehen. Lesbische Frauen spielen in dem Band nur eine untergeordnete Rolle, das gilt auch für den hier besprochenen Text von Raimund Wolfert. Im Waldschlösschen bei Göttingen fanden Fachtagungen statt, deren Arbeitsergebnisse in bisher fünf Bänden der Reihe Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945 vom Männerschwarm Verlag (Hamburg) veröffentlicht worden sind. Diese Tagungen beschäftigten sich u. a. auch mit der Aufarbeitung der lesbischen und schwulen Aspekte der DDR-Geschichte. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Erforschung und Dokumentation der homosexuellen Geschichte in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik und der DDR im akademischen und nicht-akademischen Bereich an Bedeutung gewinnt.

Die bundesdeutschen Strafurteile aus dieser Zeit wurden aufgehoben und eine Entschädigung der bis 1994 verfolgten und verurteilten homosexuellen Männer ist geplant. Es gibt Hinweise darauf, dass auch einzelne, wenige Frauen nach § 175 verurteilt wurden; die Erforschung dieses Themas steht aber erst ganz am Anfang. Viele der angeklagten oder/und verurteilten Männer und viele der Aktivisten und Aktivistinnen der damaligen Bewegung sind inzwischen verstorben, ihr Erbe ist in den meisten Fällen vernichtet. Noch mehr von ihnen können inzwischen aus gesundheitlichen bzw. Altersgründen nicht mehr befragt werden.

Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die Arcus-Stiftung Köln und lokale Geschichtsinitiativen (u. a. in Köln, München und Hannover) dokumentierten und dokumentieren (endlich) in teils aufwendigen Interview-Projekten die Schicksale und die Erfahrungen der Betroffenen.

Jenseits dieser notwendigen Bemühungen zur Sicherung der mündlichen Zeitzeugnisse ist es sinnvoll, die schriftlichen Quellen der Zeit zu erschließen und auszuwerten. In diesen Zusammenhang gehört der vorliegende schmale Band. Sein Autor, Raimund Wolfert, der sich nicht zum ersten Mal mit der homosexuellen Geschichte der 1950er und 1960er Jahre beschäftigt, hatte die Gelegenheit, den Briefwechsel zwischen Kurt Hiller und einigen vorwiegend Frankfurter Bewegungs-Aktivisten der frühen Nachkriegsjahre zu sichten und auszuwerten. Es geht um knapp 50 der über 30.000 Briefe von und an Kurt Hiller, die im Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft (Neuss) erhalten geblieben sind. Kurt Hiller war einer der wenigen aus der Leitung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), der die NS-Zeit überlebt hatte. Die Frankfurter Aktivisten traten 1949/50 an Hiller heran, der noch in London im Exil lebte, um von seinen Erfahrungen und seiner Mitarbeit zu profitieren. Zu ihnen gehörten der Kaufmann Hermann Weber (1882–1955) und neben anderen der junge Arzt Hans Giese (1920–1970), der zu einem der wichtigsten, wenn auch in seinen Positionen nicht unumstrittenen Sexualwissenschaftler der BRD wurde. Sein Nachlass liegt im Bundesarchiv, ist aber der Forschung noch nicht zugänglich.

Ziel der Frankfurter Gruppe war die Wiedererrichtung einer Bewegung zur Abschaffung oder doch wenigstens zur Revision des § 175 StGB. Mit dieser Zielsetzung war Hiller durchaus einverstanden, auch wenn er wohl anfangs die Zeit für noch nicht reif für eine neue Bewegung zu halten schien. Vorhergehende organisatorische Ansätze in Hamburg und Berlin hatte er als "Dilet-Tantentum" abgetan. Gegenüber den Bemühungen in Frankfurt nahm er nicht von vornherein eine ablehnende Position ein, riet aber von jedem überstürzten Vorgehen ab. Eine Rolle spielte dabei wohl auch, dass Hiller daran dachte, das WhK nicht deutsch, sondern international neu zu begründen.

1949 bildete sich in Frankfurt eine erste Organisation für Homosexuelle nach dem II. Weltkrieg, der Verein für die Pflege einer humanitären Lebensgestaltung (VhL). Am ersten Clubabend nahmen 250 Personen teil. Als Hiller erfuhr, dass zum Programm des Abends auch musikalische Darbietungen, Deklamationen und Tanz gehört hatten, beschied er Weber kurz mit dem Satz: "Bewegung und Amüsiererei müssen, im Interesse der Bewegung, aufs rigoroseste auseinandergehalten werden" (Brief an Weber, 12.8.1949).

Es waren also ungünstige Umstände, unter denen dann Hans Giese Hiller informierte, er habe in der Tradition Hirschfelds ein Institut für Sexualforschung gegründet und beabsichtige den Wiederaufbau des WhK. Nach längeren Diskussionen über Namensgebung und Zielsetzung wurde das WhK tatsächlich gegründet (7.10.1949), wenig später auch die WhK-Gruppe Groß-Berlin. Die Initiative zu diesen Aktionen lag weitgehend bei Giese und seinen Mitstreitern, Hiller hatte auf die Einbeziehung Berlins gedrungen und beharrte darauf, dass "die ideologische Front des Komitees gegen früher verbreitert werde" (Brief an Giese, 3.10.1949).

Zum Bruch zwischen Hiller und dem neuen WhK kam es, als das WhK in einem Rundschreiben über seine Absicht informierte, in einer Denkschrift an das Bundesjustizministerium die Wiedereinführung der alten Fassung des § 175 StGB zu fordern. Die Diskussion in der Weimarer Republik, insbesondere der von Hiller maßgeblich mitverantwortete "Gegenentwurf" des Kartells für die Reform des Sexualstrafrechts, der die Streichung des § 175 forderte, war der WhK-Führung offensichtlich unbekannt. In der Schweizer Zeitschrift Der Kreis (Nr. 1, 1950) betonte Hiller, wenn die neue deutsche Homosexuellenbewegung die Wiedereinführung des alten § 175 fordere, müsse er sich von ihr zurückziehen und sie rücksichtslos bekämpfen. Giese verstand, trug Hiller die Leitung des WhK an und wollte ihm offensichtlich auch weitgehenden inhaltlichen Einfluss überlassen, vergeblich. Hiller brach die Verbindung ab.

Wolfert beschreibt die organisatorischen Entwicklungen und inhaltlichen Auseinandersetzungen im Detail, ausführlicher als sie hier wiedergegeben werden können. Außer in Frankfurt gab es damals auch in Hamburg und Berlin, wie oben schon erwähnt, Ansätze zum Wiederaufbau einer Homosexuellenbewegung. Auch darauf geht Wolfert ein, wenn auch kurz. Er stellt die handelnden Personen vor (neben den genannten insbesondere aus Hamburg Paul Hugo Biederich, 1907–1968) und erörtert die persönlichen und politisch-gesellschaftlichen Gründe, weshalb in der frühen Bundesrepublik alle Bestrebungen zur Aufhebung bzw. Reform des § 175 und zur Emanzipation der Homophilen bzw. Homosexuellen scheiterten bzw. scheitern mussten. Gieses Unerfahrenheit und Hillers fehlende Bereitschaft zu inhaltlichen Kompromissen und aktiver Beteiligung spielten dabei keine unerhebliche Rolle. Betont werden muss aber auch, dass die Adenauer-Zeit in vieler Hinsicht eine "bleierne Zeit" war; in Bezug auf die Emanzipation der gleichgeschlechtlich Begehrenden und Liebenden tat sich damals jedoch mehr als den Schwulen und Lesben der neu entstehenden Bewegung nach der ersten Reform des § 175 im Jahr 1969 bzw. der Nach-Stonewall-Generation bewusst war. Solange dieser Paragraf in der NS-Fassung in Kraft war, gehörte sehr viel Mut dazu, sich für seine Entschärfung oder gar Abschaffung einzusetzen. Diesen Mut besaßen in Frankfurt, Berlin, Hamburg und einigen anderen deutschen Städten nur wenige. An sie zu erinnern und gleichzeitig an eine wichtige Etappe aus den Anfängen der bundesrepublikanischen Homosexuellenbewegung, dazu liefert Wolferts schmaler Band einen wichtigen Beitrag.