Klänge des Verschweigens.

Ein detektivischer Musikfilm von Klaus Stanjek.
90 Minuten, FSK 12, DVD bei good!movies, 12 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Alexander Zinn, Berlin

Erschienen in Invertito 18 (2016)

Die filmische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung ist bekanntermaßen noch rudimentärer als die wissenschaftliche. Neben der 1991 gedrehten NDR-Dokumentation Wir hatten ein großes ‚A' am Bein und dem im Jahr 2000 veröffentlichten Klassiker Paragraph 175 von Rob Epstein und Jeffrey Friedman fallen einem nicht mehr als eine Handvoll weiterer Dokumentationen ein, wobei es sich vor allem um biografische Interviews und Kurzporträts handelt. Umso mehr Aufmerksamkeit sollte ein neuer Film erregen, der bereits 2013 in die Kinos kam und nun auch auf DVD erschienen ist: Klänge des Verschweigens von Klaus Stanjek.

Dass der 1948 geborene Stanjek, von 1993 bis 2014 Professor für Dokumentarregie an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen, rund 25 Jahre brauchte, um den Film fertigzustellen, hing jedoch nicht nur mit dem geringen öffentlichen Interesse an dem Thema zusammen. Es waren auch die persönlichen und familiären Implikationen, die Stanjeks Projekt zu einem so langwierigen machten. Auch in diesem Fall ist das Private politisch: Denn die Schwierigkeiten, die Stanjek zu überwinden hatte, sind durchaus symptomatisch für den Umgang mit der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung.

Das fängt schon damit an, dass Stanjek erst 1988 erfährt, sein Onkel, der Tenor und Pianist Wilhelm Heckmann, sei schwul oder bisexuell und habe deswegen acht Jahre in NS-Konzentrationslagern gesessen. Stanjek fällt aus allen Wolken. Denn der humorvolle Onkel, der bei Stanjeks Familie lebte, soweit er nicht als Unterhaltungsmusiker durch Deutschland tourte, ist für ihn eine wichtige Bezugsperson. Wie konnte es sein, dass die gesamte Familie einschließlich des Onkels selbst dessen Verfolgungserfahrungen über vierzig Jahre verschwieg? Diese Frage steht am Beginn von Stanjeks Projekt, doch eine Antwort lässt sich auch 1988 nicht finden. Denn weder der Onkel noch die meisten Verwandten sind bereit, über das Familiengeheimnis zu sprechen, schon gar nicht vor der Kamera. Erst der Tod des Onkels im Jahr 1995 ermöglicht es Stanjek schließlich, den unbekannten Seiten seines "Geheimnisonkels" nachzuspüren.

Stanjek begibt sich auf eine langwierige Entdeckungsreise mit einigen Überraschungen, Enttäuschungen und Unterbrechungen. Gerade deswegen hat es der "detektivische Musikfilm", der nach und nach entsteht, in sich. Er dokumentiert die Mühen und Hindernisse, die mit der Rekonstruktion einer Verfolgtenbiografie verbunden sind. So finden sich zu Heckmann nur wenige Dokumente. Belegen lässt sich zwar, dass er von 1937 bis zur Befreiung 1945 in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen inhaftiert war. Ebenso, dass der Haftgrund Homosexualität war und er den "Rosa Winkel" tragen musste. Die Umstände seiner Verhaftung bleiben aber unklar. Auf eine Verurteilung nach § 175 finden sich keine Hinweise, anscheinend wurde er ohne einschlägige Vorstrafe ins KZ verbracht, was im Jahr 1937 ein für einen Homosexuellen eher ungewöhnliches Verfolgtenschicksal ist.

Spätestens hier öffnet sich der Raum für Spekulationen, denen Stanjek in seinem sehr persönlich gehaltenen Film unerschrocken nachgeht. Ohne Umschweife thematisiert er das von Mutter und Tanten in die Welt gesetzte Gerücht, der Onkel habe eine Vorliebe für kleine Jungs gehabt, ja, er habe einen Hitlerjungen verführt, den Sohn eines prominenten Nazis, und sei deswegen ohne Prozess direkt ins KZ gekommen. Dem Zuschauer läuft es kalt den Rücken herunter ob dieses Tabubruchs. Sofort drängt sich die Frage auf: Müssen wir uns mit solchen Klischees wirklich auseinandersetzen? Stanjek, der eine sehr emotionale Beziehung zu seinem Onkel hatte, macht es. Er befragt sich selbst, rekonstruiert mit animierten Szenen die kindlichen Spiele mit seinem Onkel, gemeinsam in einem Bett. Und er fragt sich: War das eventuell mehr? Habe ich etwas verdrängt?

Doch so befremdlich diese Frage auf den ersten Blick wirken mag, so richtig ist es, sie zu stellen. Denn sie führt ins Zentrum des Films: Zu der Frage, wieso das "Geheimnis" des Onkels, von dem merkwürdigerweise fast alle wussten, so lange verschwiegen wurde. Mit seiner schonungslosen Interview- und Kameraführung gelingt es Stanjek schließlich, der Verwandtschaft mehr zu entlocken, als ihr lieb ist. Und das Fortwirken der Stereotype, mit denen die Nationalsozialisten Homosexuelle zu Volks- und Staatsfeinden stilisierten, zu entlarven. Der "homosexuelle Kinderschänder", so zeigt sich bald, ist vor allem ein Fantasiebild, evoziert durch die Propaganda, die die Verfolgungsmaßnahmen begleitete und für die nicht nur Stanjeks Mutter als BDM-Führerin äußerst anfällig war. Über Jahrzehnte verhindert der schlimme Verdacht jegliche Kommunikation über die langen Leidensjahre des Onkels. Ein Problem, zu dem auch Heckmann beiträgt, indem er beharrlich schweigt und sich auch den Fragen des Neffen verweigert. Und so bleibt lange nichts als ein "wissendes Beschweigen", das nicht nur das Familienleben der Heckmanns/Stanjeks prägt, sondern typisch erscheint für das gesellschaftliche Klima der frühen Bundesrepublik, ja womöglich typisch für einen Umgang mit dem "Tabu" Homosexualität, den viele Familien bis heute pflegen.

Klänge des Verschweigens ist zwar auch ein Film über die Lebensgeschichte Willi Heckmanns, der wie so viele Verfolgte nach 1945 heiratete, um sich als ordentlicher Bürger zu erweisen und der Schande der Verfolgung zu entkommen. Ihm setzt Stanjek ein berührendes Denkmal. In erster Linie ist es aber ein Film über die Tabuisierung der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik nach 1945, bei der sich auch einige Parallelen zu anderen Verfolgtengruppen zeigen. Denn das familiäre Verschweigen der Verfolgung ist kein unbekanntes Phänomen. Aus Familien jüdischer Opfer gibt es ähnliche Erfahrungsberichte. Erst recht gilt dies für die Angehörigen der sogenannten "vergessenen" Verfolgtengruppen, der Sinti und Roma, Zwangssterilisierten, "Asozialen" etc. Stanjek jedoch kommt das Verdienst zu, als erster Angehöriger eines Homosexuellen das Schweigen gebrochen und die Strukturen und Motive der Tabuisierung dekonstruiert zu haben. Was zum Vorschein kommt, sind langlebige Stereotype, die davon zeugen, dass wir mit der NS-Zeit noch lange nicht abgeschlossen haben.

Davon zeugt leider auch der Umgang der öffentlich-rechtlichen Medien und der Filmförderung des Bundes und der Länder mit dem Projekt. Trotz seiner Expertise gelang es Stanjek in all den Jahren nicht, Fördermittel zu akquirieren. Erst kurz vor Fertigstellung bequemte sich der WDR dazu, einen kleinen Betrag beizusteuern. Woraus man allerdings keine Verpflichtung ableiten wollte, den Film auch zu zeigen. Erst im Dezember 2015 wurde er, ganz (un-)verschämt, um 1.45 Uhr im Nachtprogramm ausgestrahlt. In die Mediathek des WDR hat man ihn nicht übernommen. Und so ist auch dieser Film bislang einer geblieben, der im Wesentlichen nur die schwul-lesbische Community erreicht. Inzwischen lief er auf zahlreichen Filmfestivals, wo er einige Preise gewann, aber auch in Filmmuseen und Kommunikationszentren. Es bleibt zu hoffen, dass er noch ein breiteres Publikum erreicht.