Hanna Hacker:
Frauen* und Freund_innen.

Lesarten "weiblicher Homosexualität" in Österreich, 1870–1938,
Wien: Zaglossus 2015, 504 S., 19,95 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Andreas Brunner, QWIEN

Erschienen in Invertito 18 (2016)

Seit ihrem Erscheinen 1987 entwickelte sich Die Ordnung der Frauen und Freundinnen [1], die Dissertation der Wiener Soziologin und Historikerin Hanna Hacker, zu einem Klassiker der lesbischen Geschichtsforschung und stellt bis heute die umfang- und materialreichste Studie zur Geschichte homosexueller Frauen in Österreich von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus dar. Fast dreißig Jahre nach der Erstausgabe erschien 2015 eine Neuausgabe unter dem Titel Frauen* und Freund_innen, in der die Autorin ihren Text einem kritischen Re-Reading unterzog.

Der Asterisk (*) und der Underscore (_) im Titel sowie der Verweis auf die "Lesarten" im Untertitel zeigen, dass Hacker ihren Text im Feld der Queer Studies neu verortet, dass es ihr "um die Frage nach queerem Überschreiben lesbischer Narrative geht und um eine Reflexion von Geschichtspolitiken feministischer Forschung […]" (S. 8). Das ursprüngliche Werk blieb dabei weitgehend unbearbeitet. [2] So blieb es im Text "bei ‚Frauen' statt ‚Frauen*' und ‚Frauen_'" (S. 9), wie die Autorin anmerkt, auch "bei teils sorglos erscheinenden Einsätzen etwa der Bezeichnungen ‚schwul' oder ‚Lesbe', wo der historische Sprachgebrauch ein anderer war" (S. 9).

Jedem der fünf Großkapitel ihrer Arbeit stellt die Autorin ein kurzes Kapitel zur "Relektüre" voran, in dem sie ihren ursprünglichen Forschungsansatz kritisch hinterfragt. Stand sie 1987 unter dem Zwang, ihren Forschungsgegenstand "lesbische Frauen" rechtfertigen zu müssen, lösen 2015 westliche, genderkritische Diskurse "das Zeichen ‚Lesbe/lesbisch' mehr und mehr auf" (S. 10). Die zahlreichen turns der letzten Jahrzehnte – "die queeren, postmodernen, postkolonialen, text- und bildanalytischen (und weiteren) Umbrüche in den Schlüsselkonzepten der Kultur- und Sozialwissenschaften" (S. 16) – waren 1987 ebenso wenig Thema wie die queertheoretische Vorstellung vom performativen Charakter von Geschlecht, das nur "gespielt" oder "dargestellt" wird, oder das "intersektionelle Paradigma". "Markierungen der Ungleichheit, der Diskriminierung oder Privilegierung wie Geschlecht, sexuelle Identifikation, ökonomische Situierung, ‚race', Dis/Ability, Alter und geopolitischer Ort überschneiden und durchkreuzen einander, überlagern und bedingen sich gegenseitig: Mit dieser Annahme machen ‚wir' uns heute gleichsam selbstverständlich an die Forschungsarbeit" (S. 18 f.). Diese Weiterentwicklung theoretischer Grundlagen sollte bei der Lektüre des Textes mitgelesen werden. Dieser hat – vor allem was die kritische Auswertung eines umfangreichen Quellenkorpus anbelangt, das von sexualwissenschaftlichen Schriften über zeitgenössische Publikationen der unterschiedlichen Communitys bis hin zu Belletristik, Film und Populärkultur reicht – bis heute eine singuläre Stellung.

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der "Systematisierung der konträren weiblichen Empfindung". Auch wenn es in den drei Jahrzehnten seit Erscheinen der Erstausgabe eine breite Diskussion über die Deutungsmacht der Sexualwissenschaften und eine Fülle (biografischer) Forschungen zu Karl Heinrich Ulrichs, Richard von Krafft-Ebing, Sigmund Freud oder Magnus Hirschfeld gegeben hat, hat die zentrale These Hackers, die sie aus einer kritischen Lektüre der Originalquellen entwickelt, ihre Gültigkeit: "Innerhalb des Zirkel definitionsmächtiger Männer begann ein Differenzierungsprozess", in dem sich homosexuelle Männer "variierende Definitionen der eigenen Identität" schufen, ohne damit aber eine "‚Gegen'-Identität, ‚Gegen'-Definitionen, ‚Gegen'-Öffentlichkeit" zu schaffen. Vielmehr "produzierten sie aufs Neue Herrschaftswissen und herrschaftliche Vermittlung ihrer Selbstwahrnehmung" (S. 48), etwa mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), das eine weitgehend männergeführte und -dominierte Organisation war. "Was die Systematisierung der weiblichen von der Systematisierung der männlichen Homosexualität wesentlich unterscheidet, ist zunächst die Tatsache, dass Männer sich selbst und Männer Frauen einer Klassifikation unterzogen, nicht aber die Definition von Frauen selbst ‚gleichrangig' in die Geschichtsschreibung einging" (S. 66).

Im Zuge der Entwicklung kam es zu einer "Verdichtung der konträrsexuellen Merkmale" (S. 76), was Hacker in einer ausführlichen Strukturanalyse von Fallbeispielen lesbischer Frauen in den Psychopathologien Krafft-Ebings oder Carl Westphals bis zu Freuds berühmtem Aufsatz über einen Fall von weiblicher Homosexualität [3] herausarbeitet. In einem verdichtenden Prozess wurde "die Erkenntnis männlicher Travestie auf Frauen übertragen" (S. 93) und die Figur der lesbischen Frau mit stereotypen Zuschreibungen angereichert: Das "Mannweib" verhielt sich schon in der Kindheit nicht geschlechtskonform, pflog männliche Hobbys, rauchte oder strebte nach Bildung.

Von den Freundschaftsdiskursen im 19. Jahrhundert, wie sie Lillian Faderman [4] rekonstruierte, spannt Hanna Hacker im zweiten Kapitel Bindungen der Frauen den Bogen zu Frauenbeziehungen, wie sie in der Frauenbewegung repräsentiert wurden. Unabhängige Frauenräume – Organisationen für Frauenbildung, -wohlfahrt oder -politik, etwa beim Kampf ums allgemeine Wahlrecht für Frauen – schufen neue Begegnungsmöglichkeiten, auch wenn Hanna Hacker einen Abschnitt über die Beziehungen zwischen Lesben- und Frauenbewegungsgeschichte mit "Brisante Verhältnisse" überschreibt. Denn: "Die Abgrenzungen zu homosexuellen Formen der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung, die die Frauenbewegung unausgesprochen, aber auch unübersehbar vornahm, gingen nicht mit einer personellen ‚Getrenntheit' einher" (S. 212), wie an zahlreichen biografischen Beispielen – z. B. Anita Augspurg, Käthe Schirmacher oder Irma von Troll-Borostyáni – gezeigt wird. "Mitte der 1920er Jahre äußerten sich schließlich auch in Österreich Frauen, deren lesbisches Selbstverständnis genügend ‚Eigentlichkeit' aufwies, um sich in ein internationales gegenkulturelles Kontaktnetz von Frauen mit ähnlichem Selbstverständnis einzubinden" (S. 244).

In einem kurzen dritten Kapitel Weltkrieger – Kriegsbräute stellt Hacker den Homosexuellenorganisationen, die sich in vaterländischer Treue "auf die Suche nach Bestätigung für den soldatischen Mut homosexueller Männer" (S. 267) machten, die Biografien von zwei Österreicherinnen gegenüber: Alice Schalek, deren zynisch-militante Haltung als Kriegsberichterstatterin Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit verhöhnte, und die Malerin Stephanie Hollenstein, die in Männeruniform an der Front kämpfte. Dass Hollenstein später zur glühenden Nationalsozialistin wurde, ist Hacker leider keine Anmerkung wert. Was auch auf ein grundsätzliches Problem verweist, wenn eine fast dreißig Jahre alte Arbeit wieder veröffentlicht wird. In den den einzelnen Kapiteln vorangestellten Relektüren konzentriert sich Hanna Hacker auf die Weiterentwicklung theoretischer Grundlagen, in die Präsentation des umfangreichen Quellenmaterials und dessen Interpretation fließen hingegen neue Erkenntnisse der in den letzten Jahren große Fortschritte erzielenden historischen Geschlechter- und LSBT-Geschichtsschreibung nur in wenigen markanten Fällen ein. Daher muss man Frauen* und Freund_innen als historisches Werk lesen, das den Forschungsstand und die Forschungspositionen der 1980er Jahre repräsentiert.

Die Analyse der 1920er und 1930er Jahre im vierten Kapitel Chiffriertes Bewusstsein: Kommunikationsnetze der lesbischen Kultur zeigt, dass "lesbische Kultur, die lesbische Öffentlichkeit, die lesbische ‚Gemeinschaft', die Sichtbarkeit von Frauen, die sich selbst als lesbisch definierten" (S. 287), Teil des großstädtischen Lebens wurden. Zu den "Chiffren des Eigensinns" zählt Hacker die Aneignung kultureller Codes. So erhält das von der Frauenbewegung angeprangerte "Fräulein" in der lesbischen Kultur eine eigene Bedeutung, wie auch die auf großbürgerliche Distinktion bedachte "Dame" eine lesbische Umwertung erfuhr. Auf Basis belletristischer Texte oder populärkultureller Darstellungen (besonders Film und Tanz) rekonstruiert Hacker ein lesbisches Leben, das etwa mit der Aneignung und erotischen Aufladung männlicher Kleidung durch Stars wie Marlene Dietrich weit in den Mainstream hineinwirkte.

Im abschließenden Kapitel Außenräume – Frauen – Männer werden die "Politiken der verschiedenen Flügel der Frauenbewegung" und "neue Diskurse der (sozialdemokratisch dominierten) Sexualreformbewegung" (S. 396) thematisiert, und dabei wird auch auf die rassistischen, antisemitischen oder eugenischen Aussagen vieler Akteur_innen verwiesen.

Die Wiederveröffentlichung von Hanna Hackers Frauen* und Freund_innen macht einen Meilenstein der lesbischen Geschichtsforschung wieder leicht zugänglich und könnte auch nach dreißig Jahren aufgrund des reichhaltigen Quellenmaterials, das die Autorin oft nur skizzenhaft darstellen kann, noch eine Vielzahl von Detailforschungen anregen.

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[1] Hacker, Hanna: Die Ordnung der Frauen und Freundinnen. Studien zur "weiblichen Homosexualität" am Beispiel Österreich, 1870–1938, Weinheim/Basel: Beltz 1987.

 

[2] Im Detail sind Änderungen im Text nicht ausgewiesen: "Um- und Neuformulierungen legen vor allem Gewicht auf mehr ‚Vorsichtigkeit', auf Umsicht. Sie bestehen in der Relativierung und Entschärfung ursprünglich apodiktischer Aussagen; in der Änderung von Ausdrücken, die nicht mehr politisch tragbar sind; […] und in einigen wenigen Streichungen" (Hacker 2015, S. 9).

 

[3] Freud, Sigmund: Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 6 (1920), Heft 1, S. 1-24.

 

[4] Faderman, Lillian: Surpassing the Love of Men. Romantic Friendship and Love between Women from the Renaissance to the Present, New York: Morrow 1981.