Corinne Rufli:
Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert

Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen,
Baden: Verlag Hier und Jetzt 2015, 256 S., 35 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Katrin Küchler, Basel

Erschienen in Invertito 17 (2015)

Was gibt es passenderes als ein Buch, ein gebundenes und sorgfältig gestaltetes Buch, schlicht ein haptisches Erlebnis, um frauenliebenden Frauen der "Schweigenden Generation" [1] eine Stimme zu geben? Oral History lässt sich auch mit Audiofiles oder Videostreams im virtuellen Raum darstellen [2] – Corinne Rufli hat sich für den gedruckten Text entschieden, der zwar auch als E-Book vorliegt, der aber in seiner Materialität als Buch aus dem Badener Verlag Hier und Jetzt noch mehr überzeugt.

Bücher sind der Ort imaginierter lesbischer Kultur und Gemeinschaft und Coming-out-Begleiter von Generationen. [3] Wie hoch der Stellenwert des Buches für die Selbstvergewisserung lesbischer Frauen in der Mitte des letzten Jahrhunderts war, hat Lee Lynch (Jahrgang 1945) geschildert, die "in der Bibliothek auf Aufriss" [4] ging, um "abartige Bücher" [5] aufzuspüren. Fündig wurde sie auch bei den Protagonistinnen in lesbischen Groschenromanen, die in den USA zwischen 1949 und 1969 als Genre ihre Hochblüte erlebten. [6] Die Plots sahen damals kein Happy End für die lesbische Figur vor: Sie wird verlassen, säuft oder ist irr, wenn sie nicht umgebracht wird [7] Vor dem Hintergrund dieser kollektiv imaginierten, lüstern lauernden lesbischen Gefahr [8] ist es umso beeindruckender, wie die Frauen, denen Rufli das Wort gibt, in der wohlanständigen Schweiz ihren Lebensweg erfolgreich "gepfadet" haben. Corinne Rufli schreibt im Vorwort über die Porträtierten, denen sie mit Respekt und Zuneigung begegnet: "Sie suchten sich ihren Weg in einer Zeit, als eine Frauenbeziehung noch keine mögliche gesellschaftlich akzeptierte Lebensform war." [9] (S. 11)

Die Historikerin dokumentiert elf Selbstzeugnisse von Frauen, die alle während des Zweiten Weltkrieges geboren und in den 1940er und 1950er als Mädchen und Frauen sozialisiert wurden. In einer Zeit also, als das allgemeine Stimm- und Wahlrecht in der Schweiz noch (bis 1971) auf sich warten ließ. Frauen, die der herrschenden "Heimchen-am-Herd-Ideologie" nichts abgewinnen konnten und aus ihrem Laufgitter ausbrachen, machten sich bereits verdächtig – und wehe ihnen, wenn sie gar noch "abartig" begehrten. So sagt eine Erzählerin: "Ich stand gesellschaftlich zweimal am Rand. Zum einen als alleinerziehende Mutter und zum anderen als Lesbe" (S. 139). Die Selbstzeugnisse zeigen die Frauen als Pionierinnen auf den unterschiedlichsten Gebieten: Sie haben sich – zum Teil gegen Widerstände in ihrer Ursprungsfamilie – Zugang zu Bildung verschafft und haben zu Zeiten des Alleinverdiener-Haushaltsvorstandes selbstverständlich ein Einkommen für sich und ihre Kinder erwirtschaftet.

Rufli umschreibt ihr Vorgehen so: "Der Fokus der Gespräche lag […] auf dem freien Erzählen aus ihrer gesamten Biographie. Ich ließ den Gesprächspartnerinnen offen, über was und wie sie reden wollten. Chronologisch, sprunghaft oder assoziativ. Jede in ihrem Tempo, in ihrer Eigenart, in ihrem Dialekt und aus ihrer Erinnerung. […] Mein Ziel war, dass der individuelle Sprach- und Erzählstil spürbar bleibt …" (S. 10 und 12). Letzteres ist Rufli, die auch bei Transkription und Redaktion der Texte eng mit den Erzählerinnen zusammengearbeitet hat, ausnehmend gut gelungen: Der gesprochene Text verliert seine Unmittelbarkeit und Lebendigkeit nicht durch die Verschriftlichung. Ein Blick in das Glossar mit den verwendeten Mundart-Ausdrücken macht die Farbigkeit der Innerschweizer, Zürcher und Ostschweizer Dialekte jener Generation recht eigentlich hörbar – und vermittelt über die verwendeten Schimpfworte einen weiteren Zugang zur gefühlten und realen Ächtung und Diskriminierung homosexueller Frauen und Männer.

Frauen, die Frauen begehrten, hatten in der Schweiz noch bis weit in die 1970er Jahre allen Grund, ihr Verlangen zu verdrängen oder zu privatisieren: "Zurück zu meiner Lebenssituation als ich Anfang Dreißig (Anfang/Mitte der 1960er Jahre, Anm. der Rez.) war. Die Gedanken daran, dass ich lesbisch sein könnte, tauchten immer wieder auf. Homosexuell zu sein, war sehr negativ konnotiert, deshalb wollte ich nicht lesbisch sein." (S. 174)

Das Gift der Homophobie wirkt nicht nur in der nach außen wohlgeordneten Gesellschaft, es hinterlässt seine zerstörerischen Spuren auch unter jenen Frauen, die keine – "solche" – Lesben sein wollen. Manchmal blitzt in den Erinnerungen gar Verachtung gegenüber "dem Milieu", "solche[n] Kreise[n]" und den "burschikosen mit den kurzen Haaren" auf: "diese Frauen hatten oft etwas Eigenartiges, Verklemmtes an sich" (S. 174,140,117,133). Wie harsch der Umgang der Frauen untereinander in den Bars des Zürcher Sub der 1960er Jahre tatsächlich war, schildert einzig die 82-jährige Liva Tresch: "Im Ausgang chüechlete jede mit jeder herum. Es gab grosse Dramen." (S. 195) Ihr Fazit: "Damals herrschte eine grosse Respektlosigkeit vor sich selbst und den anderen. Das war die grosse Krankheit dieser Zeit. […] Vielleicht hatte diese Unart der Frauen damit zu tun, dass sie von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden und als Lesben nur im Verborgenen leben konnten." (S. 198) Tresch hat über Jahrzehnte als loyale Chronistin dieses "Leben im Verborgenen" mit der Kamera dokumentiert und die Beteiligten diskret vor Erpressungsversuchen geschützt. Jetzt ist sie mit zehn weiteren Zeitzeuginnen aus dem Schatten der Vergangenheit getreten – das lange Zeit sorgsam gehütete Private wird so doch noch politisch.

Ruflis Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Sichtbarkeit von Lesben einer Generation, die für sich selber das L-Wort oft nur ungern verwendet hat. Es ist darüber hinaus eine willkommene Erweiterung der Perspektiven zur Sozialgeschichte der Schweiz. Das haptische Denkmal für die "Unbekannte Lesbe" der "Kinder-Küche-Kirche-Ära" findet sein Publikum zudem in einer Zeit, wo lesbische Frauen in der Diaspora immer noch an Leib und Leben bedroht sind und lesbische Identität im "Westen" – kaum postuliert – bereits wieder als essenzialistisch dekonstruiert wird – oder gar zur Disposition steht.

Für die weitgehend re-privatisierten Lesben-Gemeinschaften in der Schweiz leistet Corinne Rufli mit der Fortsetzung der Gespräche noch mehr, wenn sie an Buchpräsentationen landauf und landab Lesben der Baby-Boomer-Generation, feministische Aktivistinnen und post-feministische Verheiratet-mit Kindern-Paare live miteinander ins Gespräch bringt. Die Töchter- und Enkel-Generation tut gut daran, den alten Weisen zuzuhören und untereinander im Gespräch zu bleiben. Zu einer lebendigen (Minderheiten)-Kultur gehören die Tradition und der Respekt vor den unterschiedlichen Entscheidungen und Erfahrungen jeder Einzelnen.

---------------------------------------------

 

[1] Die New Yorker Historikerin Joan Nestle, Jahrgang 1940, eine selbst deklarierte "Fifties Femme" und Gründerin der 1974 eröffneten Lesbian Herstory Archives hat den Begriff "Silent Generation" für Lesben ihrer eigenen Vor-Stonewall-Generation geprägt.

 

[2] Wie beispielsweise die Testimonials von Zeitzeugen des Holocaust auf der Website von Yad Vashem: http://www.yadvashem.org/yv/en/remembrance/multimedia.asp oder wie es Jon Hubbard und Sarah Schulman mit der Dokumentation der Selbstzeugnisse von überlebenden Aids-AktivistInnen der Gruppe ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power) in New York praktizieren: http://www.actuporalhistory.org/index1.html.

 

[3] Das Buch als Coming-out-Begleiter, gar als Katalysator, spielt in der Geschichte von Renate Winzert, die Rufli in ihre Publikation aufgenommen hat, eine ganz besondere Rolle: die Lesbenkrimis der 1990er Jahre werden nach ihrer Pensionierung zum Spiegel ihrer Selbsterkenntnis (S. 175).

 

[4] Im Original: "I used to cruise the libraries …" Zitiert in Klinger, Alisa: Writing Civil Rights: The Political Aspirations of Lesbian Activist-Writers, in: Lewin, Ellen (Hg.): Inventing Lesbian Cultures in America, Boston: Beacon 1996, S. 66.

 

[5] "Identifying variant books was as subtle, frustrating and exiting a process as spotting lesbians on the street. […] I had to find reflections of myself to be assured that I was a valuable human being and not alone in the world." Klinger 1996, S. 66.

 

[6] Die spezifische Ästhetik des Genres hat die Grafikerin Jaye Zimet in ihrer Sammlung von Titelseiten einschlägiger Groschenromane sehr schön illustriert: Zimet, Jaye: Strange Sisters. The Art of Lesbian Pulp Fiction 1949–1969, New York: Viking Studios 1999.

 

[7] Der englische Film The Killing of Sister George von 1968 ist ein berüchtigtes Beispiel des Genres, das im deutschen Sprachraum im noch jungen Massenmedium Fernsehen zu sehen war.

 

[8] In Anlehnung an den Begriff der "roten Gefahr", wie sie während des Kalten Kriegs dem Westen aus dem kommunistischen Ostblock drohte, prägte die NOW-Gründerin Betty Friedan Ende der 1960er Jahre den Begriff der "lila Gefahr" und versuchte, die Lesben aus der neuen Frauenbewegung zu verbannen.

 

[9] Ob und vor allem wie nachhaltig "eine Frauenbeziehung" tatsächlich "eine mögliche gesellschaftlich akzeptierte Lebensform" ist, wäre noch zu beweisen. Der Satz gilt auf jeden Fall erst in – vergleichsweise wenigen – demokratischen Gesellschaften und in einem winzigen historischen Zeitfenster.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 17