Johannes von Müller:
"Einen Spiegel hast gefunden, der in allem Dich reflectirt"

Briefe an Graf Louis Batthyány Szent-Iványi 1802 – 1803.
Herausgegeben von André Weibel
Göttingen: Wallstein 2014, Band 1: Briefe, 470 S.,
Band 2: Nachwort und Kommentar, 628 S., 59,00 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Andreas Brunner, Wien

Erschienen in Invertito 17 (2015)

Der Schweizer Historiker, Publizist und Staatsmann Johannes von Müller (1752–1809) hatte schon früh Bedenken, ob er sich als Vormund für den 16-jährigen Friedrich von Hartenberg (1781–1822) eigne, als er in einem Brief an seinen Bruder Johann Georg Müller bekannte, er sei "viel zu nachsichtig! zu beügsam, wenn er bittet, weint, heuchelt!". Fritz sei ein "wohlgewachsener, (eher weiblich) schöner, mit gewissnen gewissen einigen Talenten begabter Knabe, aber ohne Fleiß, ohne gesunden Verstand, ohne entwikeltes Moralgefühl" (Johannes von Müller an Johann Georg Müller am 25. April 1797; zit. n. Weibel Bd. 2, S. 77) – eine Charakterisierung, die sich bewahrheiten sollte, wenn man das Ende der sogenannten "Hartenberg-Affäre" bedenkt. Um seinem Mentor und zeitweiligen Liebhaber Geld zur Finanzierung seines aufwendigen Lebenswandels aus der Tasche zu ziehen, erfand der gewitzte Hartenberg einen "fiktiven männlichen Avatar" (Bd. 2, S. 23), Graf Louis Batthyány Szent-Iványi, Mitglied eines weitverzweigten ungarischen Adelsgeschlechts, dessen Mutter gar eine uneheliche Tochter von Kaiserin Maria Theresia gewesen sein soll.

Zwischen Juni 1802 und März 1803 fungierte Hartenberg als Postillion d’Amour zwischen Johannes von Müller und dem erfundenen Grafen, der sich nach einer Beziehung mit einem ebenbürtigen Gefährten sehnte. Alle erhaltenen Briefe Müllers an den begehrten Grafen Batthyány hat André Weibel nun erstmals in einer vollständigen, kritischen und um zahlreiche Dokumente ergänzten Ausgabe editiert und umfangreich und mustergültig kommentiert. Obwohl Müller die von Hartenberg verfassten Batthyány-Briefe nach Auffliegen des Betrugs vernichtet hat, zählen die erhaltenen Briefe zu den bedeutendsten Zeugnissen eines männerliebenden Mannes des beginnenden 19. JahrhundertS. In der vorbildlichen Edition André Weibels wird so Müllers "Ringen mit seiner ‚sexuellen Identität‘" (Bd. 2, S. 27) fassbar und in einen historischen Kontext gestellt.

Der polyglotte Historiker Müller wechselte in seinen Briefen oft mitten im Satz zwischen deutsch und französisch und es ist das besondere Verdienst des Herausgebers, dass er alle französischen Stellen gekonnt und dem Duktus Müllers entsprechend ins Deutsche übertragen hat und das Briefwerk so auch all jenen zugänglich macht, die des Französischen der Sattelzeit nicht mächtig sind. Aber genauso wie die beispielhafte Briefedition wird auch der mit großer Sachkenntnis und umfangreichem Detailwissen verfasste Kommentar die Forschung noch lange begleiten und anregen. Dabei sind die möglichen Forschungszugänge vielfältig, die von der Geschichte der (Homo-)Sexualitäten bis zur Auseinandersetzung mit dem Freundschaftskult der Goethezeit und deren literarischen Ausprägungen, von der Geschichte der Emotionen bis zur Wiener Stadtgeschichte reichen.

In seinem fast 170 Seiten langen Nachwort leistet André Weibel die bislang umfangreichste Einordnung der Batthyány-Briefe in den aktuellen Forschungskontext, die er zu Beginn in Bezug zum Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts stellt und dabei zeigt, dass sie in Inhalt und Zielsetzung weit über das entsexualisierte Freundschaftsideal hinausgehen, das die konservative Müller-Forschung als Lesart der umstrittenen Briefe lange bevorzugte. Vielmehr präsentieren sie wie Anne Listers Tagebücher "das Ideal einer lebenslangen erotischen Freundschaft zwischen Personen des gleichen Geschlechts, die ebenso rechtlich und moralisch ehrwürdig und verbindlich sein sollte wie die Ehe zwischen Mann und Frau" (Bd. 2, S. 28). Im Gesamtwerk Johannes von Müllers nehmen seine Briefe eine bedeutende Stellung ein, der er sich sehr bewusst war, wenn er an seinen begehrten Louis schreibt, dass "unsere Briefe Dir, mir, u. wenn (etwas purificirt) andere sie einst lesen sollten, nicht mehr, als die gelehrtesten Memoires wären." (Bd. 1, S. 358).

Just im Jahr der "Batthyány-Affäre", wie sie André Weibel im Gegensatz zur bisherigen Forschung konsequent nennt, erschien gegen Müllers Willen der gereinigte Briefwechsel mit seinem Jugendfreund Karl Viktor von Bonstetten, der Verdächtigungen, ihre Beziehung sei homoerotischer Natur gewesen, entgegenwirken sollte, der aber gleichzeitig "Müllers exzessive Freundschaftsbedürftigkeit" und "einen tiefen Einblick in seine Sehnsüchte, seine Sensibilität und seine Freundschaftsträume" (Bd. 2, S. 112) offenbarte. Waren sie, wie Weibel andeutet, für den durchtriebenen Fritz die Quelle der Inspiration zur Erfindung eines Gefährten, "der im Gegensatz zum Original Müllers Werben erhören und seinen Hoffnungen entsprechen würde" (Bd. 2, S. 112)?

Erstmals leistet André Weibel die Rekonstruktion einer fundierten Biografie des aus dem süddeutschen Fürstentum Fürstenberg stammenden verarmten Adeligen und späteren Hochstaplers Fritz von Hartenberg, die darüber hinaus für die Wiener Jahre durch die vom Herausgeber ausführlich zitierten und erstmals publizierten Briefe und Dokumente aus dem Umfeld einen bislang unbekannten Einblick in das homosexuelle Leben der Metropole in der Regierungszeit von Kaiser Franz II./I. gibt, in dessen Diensten Johannes von Müller als Kustos der Nationalbibliothek stand. Nachdem der Betrug aufgeflogen war, wurde Hartenberg, da adelige Täter entgegen der egalitären Fassung des zu diesem Zeitpunkt gerade noch gültigen Strafgesetzes von Kaiser Joseph II. bevorzugt behandelt wurden und das Wiener Kriminalgericht auch "oft betont beschuldigtenfreundlich" (Bd. 2, S. 138) agierte, zur Enttäuschung Müllers "ohne Adelsverlust, Landesverweis oder öffentliche Entehrung" (Bd. 2, S. 140) frei gelassen. Sein weiterer Lebensweg ist aufgrund fehlender Quellen nur sehr lückenhaft rekonstruierbar, doch verstrickte er sich in Frankreich in eine weitere fantastisch aufgebauschte Betrugsaffäre, für die er diesmal allerdings hart bestraft wurde. Hartenberg starb nach elf Jahren Straflager im berüchtigten Bagne von Toulon im Alter von nur 41 Jahren in einem Schaffhauser Spital.

Bedenkt man die neunmonatige Affäre, die vielen Ungereimtheiten und Finten, die zahlreichen Absagen und Verschiebungen von angekündigten Treffen, die, gelinde gesagt, exzentrische Familiengeschichte Batthyánys und das Vermögen, das Müller einem Phantom vorstreckte, das er nur aus Briefen kannte, fragt man sich, wie einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit auf diese Schmierenkomödie hereinfallen konnte. "Ein Wiener Schubladenstück" nennt André Weibel das Kapitel seines Nachworts, in dem er auf literarische Motive der Zeit, aber auch "populäre Phantasien" rekurriert. Geschickt baute Hartenberg bei der Schöpfung seiner Figuren auf einer "Mischung von realen Charakteren aus dem Wiener Alltag, Müllers Konversation, den Familien Müller und Hartenberg und literarischen Archetypen" (Bd. 2, S. 118) auf. Dass er Louis‘ Mutter als Gräfin von Falkenstein titulierte, war ein weiterer raffinierter Schachzug, da allgemein bekannt war, dass Mitglieder der Familie Habsburg diesen Namen benutzten, um inkognito zu reisen. Allerdings "verhinderten höchste Interessen", über die genealogischen Verbindung der Mutter Louis Batthyánys zum Kaiserhaus "allzu neugierige Nachforschungen" (Bd. 2, S. 117) zu führen. Der Wiener Hof war sakrosankt.

Obwohl die Polizei- und Gerichtsakten verloren sind, gelingt Weibel eine Rekonstruktion der Verfahren, die sowohl für Hartenberg als auch Müller glimpflich ausgingen. In einem Zivilprozess einigte sich Müller mit einem Schneider, bei dem er für hohe Summen mit seinem Namen gebürgt hatte, auf einen für ihn ausgesprochen günstigen Vergleich. Ein Verfahren wegen "Unzucht wider die Natur" wurde den spärlich erhaltenen Quellen nach offenbar nie in Betracht gezogen, denn Sittlichkeitsprozesse wurden in Wien "um 1800 nur selten […] verhandelt, schon gar nicht gegen angesehene Persönlichkeiten" (Bd. 2, S. 143). Auch in der Wiener Öffentlichkeit erregte die Affäre kaum Aufsehen. "Hinter den Kulissen, bei Hof und in der Staatskanzlei" (Bd. 2, S. 142), versuchte man sie hingegen politisch auszunützen, indem man Müller nahelegte, auf eine Spitzelmission nach Sachsen, Sachsen-Weimar (wo er Goethe traf, der ihm weiterhin freundschaftlich gewogen blieb und den er mit seiner Schilderung der erfahrenen Demütigungen infolge der "Batthyány-Affäre", zu seiner Schrift über Winckelmann anregte) und Berlin zu gehen, von wo er nicht mehr nach Wien zurückkehrte. Auch aufgrund seines Eintretens für Napoleon politisch zusehends isoliert, starb Müller 1809 in Kassel.

Der mehr als 200 Seiten umfassende Kommentarteil, in dem André Weibel die 126 erhaltenen Briefe an Batthyány, dessen Mutter und Diener ausführlich annotierte, erläutert nicht nur ungemein kenntnisreich die zeithistorischen Anspielungen, die in das Briefwerk einflossen. Ausführliche Zitate aus unveröffentlichten Briefen und Quellen erhellen nicht nur die persönlichen Lebensumstände Müllers, sondern auch seine Vorstellungen über gleichgeschlechtliche Beziehungen und Identitäten. Mehr als 70 Dokumente aus dem Umfeld der "Batthyány-Affäre", darunter Briefe Hartenbergs an Müller oder Briefe Müllers an Vertraute, Freunde und beteiligte Personen, ergänzen die Materialsammlung.

In der zweihundertjährigen Forschungsgeschichte zu Johannes von Müller fand sich nur "eine kleine Minderheit, die sich an Müllers Männerliebe nicht störte, sie neutral oder positiv darzustellen versuchte oder gar für einen natürlichen und nicht entwürdigenden Zug seiner Persönlichkeit erklärte" (Bd. 2, S. 146). Die Beschäftigung der homosexuellen Geschichtsforschung mit Müller trug allerdings maßgeblich zu einer Verschiebung des negativen Bildes bei. Müllers Vorstellungen von einer alle Lebensbereiche, die privaten, sexuellen wie öffentlichen, durchdringenden mannmännlichen Beziehung, die man später homosexuell und heute selbstbewusst schwul nennen mag, war "um 1800 reichlich subversiv" (Bd. 2, S. 161). Dass sie in der Geschichte der Homosexualitäten einen festen Platz haben und die Forschung noch lange anregen werden, ist das bleibende Verdienst der gelehrten, wie umfassenden Edition der Batthyány-Briefe durch André Weibel.




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