Gottfried Lorenz: Töv, di schiet ik an

Beiträge zur Hamburger Schwulengeschichte
Münster: Lit Verlag 2013 (Gender-Diskussion Band 20), 555 S.,
49,90 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Martin Sölle, Köln

Erschienen in Invertito 16 (2014)

Im hier zu besprechenden Sammelband, dessen plattdeutscher Titel mit "Warte nur, ich mach dich fertig" umschrieben werden kann, legt Gottfried Lorenz, der gemeinsam mit Ulf Bollmann in der Hamburger Initiative "Gemeinsam gegen das Vergessen – Stolpersteine für homosexuelle Opfer" arbeitet, eine Reihe von Aufsätzen vor, die mehrheitlich im Zusammenhang mit dem Vortragsprogramm der Initiative entstanden sind. In ihrer schriftlichen Form sind die Vorträge jeweils mit einem umfangreichen Apparat von Anmerkungen und Quellennachweisen ergänzt worden.

Das Spektrum der Aufsätze reicht von historischen Themen wie der Affäre um den Reformpädagogen Gustav Wyneken in den 1920er Jahren über biographische Studien wie die titelgebende Geschichte über den Strichjungen Theodor Gehring bis hin zu aktuellen Themen wie "Schwule Rechtsradikale in Hamburg – Teil der Community?". Die Qualität der Arbeit von Lorenz liegt dabei insbesondere in seiner Fähigkeit, als akribischer Quellenforscher genau zwischen Arbeitshypothesen und präzisen belegbaren Ergebnissen zu unterscheiden.

In seinem Aufsatz "Gefährliche Begegnungen" (S. 9-66) schildert Lorenz anhand von Einzelfällen, sowohl von Strichjungen als auch von Erpressern, detailliert die polizeilichen und gerichtlichen Ermittlungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit homosexueller Prostitution. Erschwert wurden seine Recherchen durch die schwierige Quellenlage: Bis in die 1990er Jahre wurden im Hamburger Staatsarchiv die betreffenden Strafakten nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist vernichtet.

Im sogenannten "Marienburgprozess" (S. 88-101) liegt der Fokus auf der Darstellung des gleichnamigen Hamburger Homosexuellen-Lokals. Vor dem Richter mussten sich nicht nur dessen Wirt wegen Kuppelei, sondern auch Gäste wegen §175 und 175a RStGB verantworten, obwohl die vorgeworfenen Taten vor der Gesetzesverschärfung von 1935 lagen.

Der umfangreichste Aufsatz des Sammelbandes ist der Geschichte des Hamburger Strichjungen und Erpressers Theodor Gehring gewidmet (S. 102-233), dessen Denunziationen zu vielen Verhaftungen und Verurteilungen von homosexuellen Männern in der NS-Zeit führten. Lorenz beschreibt zunächst die Veränderung in der Bewertung homosexuellen Verhaltens durch Polizei und Justiz nach 1933. Schon in Titel und Untertitel klingt die Doppelrolle Gehrings an: zum einen war er ein "Opfer" des § 176 StGB und wurde schließlich als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher hingerichtet, zum andern war er als Erpresser und Denunziant homosexueller Männer aber auch "Täter". Durch die Auswertung der Strafakten von Gehring und der von ihm denunzierten Männer ergibt sich ein umfassendes Bild der Stricherszene in den 1930er Jahren. Lorenz schafft es, anhand der Details der Akten eine Studie sowohl über die sozialen Verhältnisse als auch über die Praxis der Strafverfolgungsbehörden zu zeichnen.

Ein weiterer umfangreicher Aufsatz widmet sich der 1951 vom Hamburger Verleger Rolf Putziger herausgegebenen Homosexuellenzeitschrift Die Insel, die kurz nach Erscheinen aufgrund einer Kontroverse mit dem Stuttgarter Inselverlag in Der Weg umbenannt werden musste (S. 248-331). Lorenz beschäftigt sich dabei mit den bis 1956 erschienenen Ausgaben, in erster Linie unter dem Blickwinkel der Bemühungen um die Abschaffung des § 175 StGB, die wesentlich mit dem bevorstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang standen. Auch in diesem Beitrag gelingt es Lorenz durch eine intensive Beschäftigung mit den Quellen ein detailgenaues Stimmungsbild dieser Zeit wiederzugeben und dabei die Befindlichkeiten der zeitgenössischen Emanzipationsbewegung zu charakterisieren.

Ein durch die jüngsten Enthüllungen um die Odenwaldschule wieder aktuell gewordenes Thema beleuchtet der Beitrag über Gustav Wyneken (S. 359-382), den Leiter der Reformschule in Wickersdorf in den 1920er Jahren, der sexueller Übergriffe auf minderjährige Schüler bezichtigt wurde. Hier vermag Lorenz aufzuzeigen, dass die mediale und politische Instrumentalisierung des Themas einige Parallelen mit der heutigen Debatte aufweist. In einem weiteren Beitrag wird ein ebenfalls wieder aktuelles Thema aufgegriffen: "Schwule Rechtsradikale in Hamburg" (S. 383-440). Es geht um den offen schwulen Neonazi-Aktivisten Michael Kühnen und den Mord an seinem Mitstreiter Johannes Bügner wegen dessen Homosexualität.

Der Sammelband bietet durch seine umfangreiche Quellensammlung und deren Nachweise eine Fundgrube an Erkenntnissen zu den in der vorliegenden Besprechung nicht abschließend genannten Themen. Er ist ein Musterbeispiel für eine lokalgeschichtliche Studie auf verschiedenen Ebenen: Biographisch aufgearbeitete Einzelschicksale stehen neben Themen der Verfolgungsgeschichte und auch die Selbstdarstellung durch die zeitgenössische schwule Presse wird berücksichtigt. Damit gelingt es Lorenz, wesentliche Teilaspekte der Hamburger Schwulengeschichte aufzuarbeiten und darzustellen.




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