Andreas Pretzel / Volker Weiß (Hg.): Rosa Radikale

Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre
Hamburg: Männerschwarm Verlag 2012, 264 S., € 22

sorry, no cover

 

Rezension von Vojin Saša Vukadinović, Basel

Erschienen in Invertito 15 (2013)

Nach Ohnmacht und Aufbegehren liegt mit Rosa Radikale die zweite Aufsatzsammlung der Edition Waldschlösschen zur "Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945" vor. Während sich die erste Textsammlung mit den so genannten Homophilen der 1950er Jahre und ihrem Wunsch nach Anerkennung beschäftigte, widmet sich der nun erschienene Band der Formation, der Hochphase und dem Zerfall der Schwulenbewegung zwischen 1971 und 1980. Die Einleitung der Herausgeber Andreas Pretzel und Volker Weiß entreisst den Fakt, dass es sich bei deren Protagonisten überhaupt um Radikale handelte, zunächst dem allgemeinen politischen Vergessen. Mittlerweile sind die konfrontative Haltung der damals Beteiligten sowie die Sujets und Formen ihrer Kämpfe nur noch wenigen präsent, bedeutende interne Auseinandersetzungen wie der so genannte "Tuntenstreit" oder wichtige Ereignisse wie das "Homolulu"–Festival nahezu unbekannt. Zwar wird regelmäßig an Rosa von Praunheims Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971) erinnert, da der Film einen aktivistischen Ruck auslöste, den Wörtern "schwul" und "Schwuler" durch die 900fache Verwendung in weniger als 70 Minuten zu ihrem affirmativen Siegeszug verhalf und zur Gründung vieler Schwulengruppen nicht nur in der Bundesrepublik beitrug. Über zahlreiche weitere Zeitdokumente, Beteiligte und Begebnisse hingegen herrscht heute nicht nur historiographische Unkenntnis. Was es im bewegten Jahrzehnt noch wiederzuentdecken gibt, darüber informiert Rosa Radikale nun kompakt – und fordert zugleich dazu auf, die enthaltenen Aufsätze als Einladung zu zukünftigen Forschungsarbeiten zu verstehen.

Wider grobe Vereinheitlichungen wie "100 Jahre Schwulenbewegung" – einem zu Recht als museal empfundenen Ausstellungstitel aus den 1990er Jahren – bestehen Pretzel und Weiß darauf, erst die Rosa Radikalen als Schwulenbewegung zu bezeichnen und diese damit sowohl von der Homophilenpolitik der 1950er Jahre als auch von den Aktivisten des Wissenschaftlich–humanitären Komitees aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs bzw. der Weimarer Republik abzugrenzen. Dass die Herausgeber mit ihrer Periodisierung eine "empathische Geschichtsschreibung" vorlegen wollten, macht sich auch an den Themen bemerkbar, denen sich die AutorInnen des Bandes widmen. Unterteilt in (auto–)biografische Rückblicke, anerkennende Einblicke sowie Ausblicke, welche den Parallelen und Divergenzen zwischen der Schwulen– und der Queer–Bewegung der Gegenwart nachgehen, rekonstruieren die Beiträge des Bandes insbesondere die bestimmenden Debatten und Organisationsformen der Rosa Radikalen, aber auch die Assoziationen und Embleme, mit welchen sich die schwule Politkultur der 1970er Jahre inszenierte. Die Beiträge von Patrick Henze und Craig Griffiths, die sich mit der Homosexuellen Aktion Westberlin respektive mit dem "Tuntenstreit" beschäftigen, werden dabei gut durch das Interview ergänzt, das Andreas Pretzel und Volker Weiß mit Detlef Stoffel führten, der sich selbst zu den "bewegten Schwulen" der 1970er Jahren zählt. An deren Ende wiederum stand das Ende des Wunsches nach "sexueller Befreiung" und die Wende zur Normalität als politischer Sinnstifterin, die im Artikel von Sebastian Haunss nachgezeichnet wird.

Besonders interessant sind die Aufsätze von Jens Dobler und Dominique Grisard, die sich zwei vermeintlicher Selbstverständlichkeiten des schwulen Lebens angenommen haben, um diesen auf den Grund zu gehen – und ihnen diesen gleich zu entziehen. Jens Dobler zeigt in seinem erhellenden Aufsatz, der die überraschenden historischen Stationen des Adjektivs "schwul" im deutschen Sprachgebrauch aufdeckt, dass die gegenwärtige Verwendung des Begriffs kaum hinter die 1970er Jahre zurückreicht. Er streicht zunächst die terminologische Verwandtschaft von "toll", "arg", "schwul" und "geil" heraus und weist dann darauf hin, dass die beiden für die Homosexuellenemanzipation wegweisenden Autoren Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld das Adjektiv nicht verwendeten und dass noch in den 1970er Jahren ein Pornostreifen, der lesbischen Sex (für den heterosexuellen Zuschauer) zeigte, mit "Schwule Miezen" beworben werden konnte. Wie in Patrick Henzes Beitrag zur HAW ergänzend nachzulesen ist, bezeichneten sich deren lesbische Mitglieder wie selbstverständlich als schwule Frauen bzw. als Schwule, bevor die Bezeichnung zu ihrer geschlechtlichen Exklusivität fand.

Dominique Grisard, die in ihrem Beitrag den Stellenwert der Farbe Rosa für die Schwulen– und Lesbenbewegung analysiert, rekonstruiert die Geschichte des Rosa vom nationalsozialistischen Symbol zum Marker des homosexuellen Aktivismus, der sich Anfang der 1970er Jahre sowohl in der Bundesrepublik als auch den USA durchsetzte. Interessanterweise trat das Zeichen für eine Opferidentität ein, während sich das politische Handeln der Schwulenbewegung gerade gegen eine solche richtete, was an den zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Auftritten abzulesen ist, mit denen die westdeutsche Bevölkerung häufig provokativ angegangen wurde. An Grisards Artikel wird ein Punkt deutlich, den der Band durchaus hätte stärker betonen können: Auf das "Volk" war in diesem Kampf nicht zu vertrauen, im Gegenteil. Auch wenn es der zweiten Schwulenbewegung an entschiedener NS–Kritik fehlte, die über die Bloßstellung des Naziparagraphen 175 und seiner postfaschistischen Verwendung hinausging – und auch wenn vieles am symbolischen Einsatz des Rosa Winkels zu beanstanden bleibt –, konturiert sich das Bild einer soziopolitischen Bewegung, die im Gegensatz zum agitatorischen Proletarismus der ausfransenden APO–Bewegung und dem mörderischen Größenwahn der antiimperialistischen RAF das "Volk" nicht umwarb. Während die einen wie die anderen (und zahlreiche weitere VertreterInnen der bundesrepublikanischen Linken und Linksradikalen) das "Volk" zu ihrer präferierten Adressatin machten, setzte die Schwulenbewegung auf Misstrauen und fand schließlich auch aktivistischen Genuss daran, den ganz normalen Stumpfsinn des "Volkes" zu enttarnen und gewaltfrei zu attackieren. Die frevelhafte Lust an der Provokation, die nicht um ihrer selbst willen in Szene gesetzt wurde, sondern der politischen wie der eigenen Selbstbehauptung diente, sollte mit den Jahren jedoch einer anderen Strategie weichen, an welche der Beitrag von Ralf König erinnert: Was dieser in einem ironischen Comic von 1982 noch als Witz über die zahmeren Fraktionen der Schwulenbewegung einstreute, indem er diese mit der frei erfundenen Forderung nach Eheschließung karikierte, wurde nur wenige Jahrzehnte später von der Geschichte selbst zum Scherz degradiert: Weitere politische Ziele als die Möglichkeit, sich wie Heterosexuelle vermählen zu können, scheinen mittlerweile kaum mehr erstrebenswert.

Die sich Ende der 1970er Jahre abzeichnende Wendung von der sexuellen Befreiung hin zur Normalität, die dem integrativen Gestus der Gegenwart zu Grunde liegt, untersucht Sebastian Haunss in seinem Beitrag, der schließlich auch auf den AIDS–Schock zu sprechen kommt – jene historische Zäsur, die Anfang der 1980er Jahre der libidinösen Unbekümmertheit der Schwulenbewegung ein Ende bereitete.

Für folgende Arbeiten, zu denen der Band unzweifelhaft anregt, wird es sicherlich interessant werden, das nicht unkomplizierte Verhältnis der Schwulenbewegung zur Lesbenbewegung genauer zu beleuchten, nach Verbindungslinien zur Frauenbewegung zu fragen, eventuellen Kontakten und Dialogversuchen zu DDR–Homosexuellen über die Mauer hinweg nachzugehen oder die Bezüge der Rosa Radikalen zur BRD–Linken deutlicher zu machen. Denn die Perversion, in der sie lebten, generierte sich nicht nur aus der als feindlich empfundenen heterosexuellen Öffentlichkeit, sondern auch aus dem Verhältnis zur westdeutschen Linken, von der nicht gerade behauptet werden kann, dass sie sich in den 1970er Jahren besonders offen für homosexuelle Belange gezeigt habe, und trotz aller Revolutionsrhetorik ohnehin noch lange nicht heterosexualitätskritisch. Die Beziehungen und Absetzbewegungen zwischen der Schwulenbewegung und der parlamentarischen bis militanten Linken sollten deshalb umso dringender zum Gegenstand eigenständiger Analysen werden. Nicht minder wünschenswert wäre es allerdings, in naher Zukunft auch etwas über "rechtsradikale Schwulenorganisationen" zu erfahren, die in Rosa von Praunheims Beitrag beiläufig erwähnt werden – eine editorische Notiz wäre hier hilfreich gewesen –, da deren Existenz Beweis dafür ist, dass die Rosa Radikalen zwar revolutionär gewesen sein mögen, der Begriff "schwul" dies jedoch lange noch nicht sein muss und offenkundig auch gegenläufige politische Haltungen zu mobilisieren vermochte. Dem in der Einleitung bekundeten Ansinnen der Herausgeber, die Bezeichnung "Rosa Radikale" möge sich einbürgern, weil sie die "Radikalität des Aufbruchs auf den Punkt" bringe und dem "Bewusstsein und Selbstbild der damals Aktiven gerecht" werde, möge jedenfalls unbedingt Erfolg beschieden werden. Als längst überfälligem wie gelungenem Wegweiser durch politische Auseinandersetzungen zur Verbesserung und Veränderung des eigenen Lebens wie der westdeutschen Gesellschaft ist dem Band zudem zu wünschen, dass er nicht allein in den Bibliotheken der Geschlechterforschung einsortiert werde, sondern sich alsbald ebenso selbstverständlich in Regalen finde, die mit Arbeiten zur Sozialgeschichte der Bundesrepublik gefüllt sind.




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