Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser,

auch in diesem Jahrbuch erwartet Sie eine vielfältige Palette von Beiträgen zur Geschichte der Homosexualitäten. Der geographische Schwerpunkt der meisten Beiträge liegt diesmal nicht in Deutschland, sondern in den benachbarten Regionen und Ländern, insbesondere in Österreich.

Der erste Beitrag nimmt uns mit auf eine Reise in den Norden, die der in Straßburg als Richter tätige Eugen Wilhelm – besser bekannt unter seinem Pseudonym Numa Praetorius – im Jahr 1901 unternommen hat. Kevin Dubout und Raimund Wolfert lassen uns dabei in ihrer detaillierten Auseinandersetzung mit Wilhelms Tagebuchaufzeichnungen nicht nur an seinen Liebesabenteuern teilhaben, sondern vermögen u.a. auch aufzuzeigen, wie er "Networking" für die Sache des Wissenschaftlich–humanitären Komitees betrieb.

Thierry Delessert zeichnet in seinem Beitrag mit Blick auf die Besonderheiten des politischen Systems und die Rolle der Justiz und Psychiatrie nach, wie es in der Schweiz mitten im Zweiten Weltkrieg, während im NS–besetzten Teil Europas die Repression gegen homosexuelle Männer und Frauen zunahm, zu einer Legalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Erwachsenen kommen konnte.

Die weiteren Hauptbeiträge widmen sich österreichischen Themen: Johann Karl Kirchknopf greift mit seiner auf rechtshistorischen und quantitativen Methoden beruhenden Auswertung von Wiener Gerichtsakten aus der NS–Zeit in die innerhalb der schwullesbischen Community nach wie vor aktuelle Diskussion über das Ausmaß und die historische Bewertung der Verfolgung lesbischer Frauen unter der nationalsozialistischen Herrschaft ein. Er kommt dabei in seiner Arbeit zum Schluss, dass in Bezug auf lesbische Frauen von einer Zunahme und, wenn auch mit Einschränkungen, von einer systematischen Verfolgung gesprochen werden kann.

Ines Rieder beschäftigt sich mit lesbischen Frauen, die in der Nachkriegszeit in die Mühlen der Wiener Justiz geraten sind. Ihr gelingt es aufzuzeigen, dass die Argumente, mit denen die Obrigkeit die Verfolgung und die Verurteilung von Lesben rechtfertigte, sich nach dem Ende der NS–Herrschaft nicht wesentlich änderten. Erst gegen Ende der 1950er Jahre konnten modernere, durch den medizinischen und psychologischen Diskurs geprägte Vorstellungen an Einfluss gewinnen.

Volker Bühn beleuchtet in seinem Beitrag Leben und Werk des heute kaum noch bekannten österreichischen Dichters Alfred Grünewald. Grünewald scheute sich nicht, wie der Autor anhand zahlreicher Beispiele belegen kann, seine Homosexualität, insbesondere seine Liebe zu jungen Männern, in seinen Gedichten zu thematisieren. Die literarische Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit reagierte darauf allerdings ablehnend und Grünewald, der im KZ Auschwitz ermordet wurde, blieb der große Erfolg verwehrt.

Ist der Dichter Grünewald heute weitgehend vergessen, so ist der 2007 verstorbene Schriftsteller und Aktivist Erich Lifka zumindest in Österreich eine immer noch bekannte Person. Dank der Aufarbeitung seines Nachlasses vermögen Manuela Bauer und Hannes Sulzenbacher das in der schwulen Geschichtsschreibung unhinterfragt tradierte Selbstbild Lifkas arg ins Wanken zu bringen.

In der Rubrik "Kleinere Beiträge" bespricht Katja Koblitz die letzte Ausstellung des Schwulen Museums am alten Standort Mehringdamm in Kreuzberg — das Museum zog Mitte 2013 in die Lützowstraße im Bezirk Tiergarten — über die deutsch–ungarische Schriftstellerin und Bildhauerin Christa Winsloe und ihr bekanntestes Werk Mädchen in Uniform (Theaterstück, Film und schließlich Roman). Adrian Lehne und Martin Lücke stellen das zu Beginn des Jahres 2014 gestartete Projekt Queer History Month vor, das zum Ziel hat, LBGT–Themen verstärkt in den Geschichtsunterricht an Berliner Schulen einfließen zu lassen.

Den Abschluss bildet wie immer eine Auswahl von Rezensionen zu neueren Publikationen aus dem Bereich der Geschichte der Homosexualitäten.

Und zu guter Letzt: Auch an Invertito gehen die neuen Lesegewohnheiten nicht spurlos vorbei. Ab der letztjährigen Ausgabe (Invertito14/2012) bietet der Männerschwarm Verlag das Jahrbuch auch als E–Book an.

Die Redaktion




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