Günter Grau
Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933–1945
Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfelder

Mit einem Beitrag von Rüdiger Lautmann
Geschichte: Forschung und Wissenschaft, Band 21
Lit, Berlin, 2011, 400 S., € 119,90

sorry, no cover

 

Rezension von Martin Sölle, Köln

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Der renommierte Sexualwissenschaftler Günter Grau hat ein neues Werk vorgelegt, das mit Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933–1945 überschrieben ist. Es ist ein sehr umfassendes Werk, in dem Personen und Institutionen aufgelistet und beschrieben sind, die mit diesem Thema in Verbindung stehen. Es besticht durch seine große Materialfülle, seine detaillierten Quellenangaben und seine Verweistechnik, durch die das Buch neben seiner Funktion als Nachschlagewerk auch als Lesebuch genutzt werden kann.

Günter Grau (geb. 1940) lebt als Sexualwissenschaftler und Medizinhistoriker in Berlin. Er studierte Volkswirtschaft und Psychologie in Leipzig und promovierte anschließend zum Dr. phil. Er hat unter anderem den Dokumentenband Homosexualität in der NS-Zeit (überarbeitete Neuauflage 2004) herausgegeben. Zur Politik der SED und dem Homosexuellenstrafrecht publizierte er im Sammelband Die Linke und das Laster (1995). Er arbeitete an der Charité Berlin und am Institut für Geschichte der Medizin in Leipzig.

Rüdiger Lautmann, der Bremer Sexualwissenschaftler und Soziologe und zu Beginn des Erscheinens auch Mitherausgeber von Invertito, schreibt in seiner Einleitung, die ihrerseits bereits eine kurz gefasste Abhandlung der schwulen Geschichte ist, über die Ziele der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung: Zerstören der Szene, Jugendschutz und Verfolgung. Neben dieser Thematik und der Beschreibung der Lebensbedingungen Homosexueller in der NS-Zeit verweist er auf das "Erinnern und Wissen" um die Verfolgung. Die Frage, ob schwule Männer Opfer und Täter zugleich sind, die bereits vom Verfasser und dem Centrum Schwule Geschichte in dem Buch Verführte Männer (1991) angerissen wurde, wirft er erneut auf. Warum das Wissen und das Erinnern wichtig sind, beantwortet Lautmann schließlich mit dem identitätsstiftenden Merkmal des Erinnerns für die Gay Community.

Grau seinerseits geht ins Detail: Das Lexikon dokumentiert in rund 250 akribisch erstellten Beiträgen den aktuellen Forschungsstand. Die Stichworte geben ausführlich Auskunft über Gesetze, Geheimbefehle und Sonderaktionen, über Verurteiltenzahlen sowie über die für die Repressionspolitik verantwortlichen Institutionen und Personen.

Neben begriffsgeschichtlichen Stichworten (gesundes Volksempfinden, Homosexuellenfrage, Homocaust, schwule Nazis) stehen ereignisbezogene (Aktion Rosa Listen, Röhm-Putsch, Fritsch-Blomberg-Krise, Klosterprozesse) sowie faktenorientierte Beiträge zum Vorgehen in der SS und Polizei, in Wehrmacht und Hitlerjugend, den besetzten Gebieten und in den Konzentrationslagern. Einige Artikel bieten Hintergrundinformationen zu komplexen Inhalten (Bevölkerungspolitik, Frauenpolitik, Kriminalbiologie, Kastration).

Beispielhaft sollen hier je ein ereignisbezogener sowie ein personenbezogener Artikel zur Gruppe der Opfer und zur Gruppe der Täter erwähnt werden.

Die in der Sprache der Nationalsozialisten als "Röhm-Putsch" bezeichnete Mordaktion Röhm wird hier als solche benannt und prägnant und ausführlich mit den wesentlichen historischen Erkenntnissen wiedergegeben. Neben der Darstellung der Abläufe und der Darstellung und Bewertung der Ereignisse durch die NSDAP wird auf die Bedeutung der Mordaktion für die Forcierung der Schwulenverfolgung eingegangen. Die Entschiedenheit, mit der gegen die "homosexuellen Verschwörer" vorgegangen werden müsse, legitimierte einen angeblichen Zugzwang zum Handeln. Die Folge waren die Bildung des Sonderdezernats Homosexualität bei der Gestapo und polizeiliche Großrazzien an vielen Orten. Grau rückt mit der Formulierung von der "inszenierten Skandalisierung eines vermeintlichen Staatsstreiches" (S. 215) die Ereignisse in ein historisch korrektes Licht.

Der biographische Artikel über Pierre Seel (1923–2005) stellt zunächst die erlittene Verfolgung dar, anschließend die "Jahre der Scham" und schließlich den langen Prozess seines Coming-outs nach der Traumatisierung. Es folgt eine Kritik an der Bewertung der Veröffentlichung von Seels Biographie in der schwulen Öffentlichkeit, die ihn zu instrumentalisieren versuchte. Grau stellt auf den Einzelfall ab und lehnt eine pauschale Einordnung der Homosexuellen als Opfergruppe ab. Hier wird Graus Arbeitsweise deutlich: Er hält historische Fakten und schwulenpolitische Deutungen auseinander und verwahrt sich gegen den Versuch der Instrumentalisierung von Biographien.

Als Beispiel für eine Täterbiographie sei hier die von Rudolf Klare erwähnt. Der Jurist war einer der Protagonisten der Verschärfung der Schwulenverfolgung auf theoretischer Ebene. Nach Abgabe seiner Doktorarbeit im Jahr 1937, in der er auch die Bestrafung lesbischer Sexualität forderte, arbeitete er beim Sicherheitsdienst der SS und beteiligte sich an geheimdienstlichen Aktivitäten in Ostasien. Auch hier zeigt sich wieder eine exakte Herangehensweise. Grau denunziert nicht einfach die Täter, sondern setzt sich immanent mit der nationalsozialistischen Theorie auseinander und entlarvt sie auf diese Weise.

Schließlich sei noch der Artikel mit der Überschrift "Homocaust" genannt. In Anlehnung an den Begriff "Holocaust" wurde der Begriff von schwulen Aktivisten in vielen Ländern zur Beschreibung der Homosexuellenverfolgung benutzt. Die Behauptung, die Homosexuellen hätten ein ähnliches Schicksal wie die jüdischen Opfer erlitten, wird von Grau widerlegt, indem er die Repression gegen Homosexuelle als Verhinderung sexueller Praxis darstellt. Die Nationalsozialisten wollten nicht die "Homosexuellen" als solche ausmerzen, sondern aus bevölkerungspolitischen Gründen gleichgeschlechtliche Sexualität verhindern.

Für Historiker und Allgemeininteressierte bietet das Lexikon eine Fülle von Fakten zum kollektiven und individuellen Verfolgungsschicksal dieser Opfergruppe. Günter Grau hat ein detailliertes Nachschlagwerk vorgelegt, das in keiner Bibliothek zur schwulen Geschichte fehlen sollte. Aber neben dieser Funktion bietet es auch eine fundierte Positionierung zu vielen aktuellen Fragen der schwulen Geschichtswissenschaft.




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