Raimund Wolfert
Nirgendwo daheim
Das bewegte Leben des Bruno Vogel

Leipziger Universitätsverlag, Leipzig, 2012, 303 S., € 29

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Das Werk Bruno Vogels (1898–1987) ist schmal und überschaubar. Neben kurzen Texten für Zeitungen und Zeitschriften, die heute nur noch schwer zugänglich sind (eine Auswahl ist 1986 in der DDR in einem Band des Berliner Tribüne-Verlags unter dem Titel Ein junger Rebell. Erzählungen und Skizzen aus der Weimarer Republik erschienen), sind es vor allem zwei Bücher, die seinen Platz in der deutschen Literaturgeschichte rechtfertigen: Sein 1924 erschienener Erstling mit Skizzen und Aufzeichnungen Es lebe der Krieg! lieferte vier Jahre vor Ludwig Renns Antikriegsroman Krieg oder fünf Jahre vor Erich Maria Remarques Weltbestseller Im Westen nichts Neues eine kompromisslose Abrechnung mit dem Grauen des Weltkriegs; er wurde unmittelbar nach Erscheinen als "unzüchtig" und "gotteslästerlich" verboten und konnte in der Weimarer Zeit nur zensiert wieder aufgelegt werden. Der 1929 erschienene Roman Alf ist eines der ersten Werke der deutschen Literatur, in dem homosexuelle Empfindungen positiv und selbstverständlich dargestellt werden. Beide Bücher erreichten in mehreren Auflagen beachtliche Verkaufszahlen und sind bis in unsere Tage nicht völlig vergessen. Es lebe der Krieg ist allerdings zurzeit nur noch antiquarisch zu erwerben, Alf wurde zuletzt 2010 in der verdienstvollen Reihe Bibliothek rosa Winkel neu gedruckt. Zusätzlich enthält dieser Band sechs kurze Prosastücke Vogels, die meisten aus der Sammlung Ein Gulasch und andere Skizzen (1928). Die vorliegende Biografie ist das Ergebnis langjähriger Beschäftigung des Autors Raimund Wolfert mit Bruno Vogel. Wolfert wertete die zugänglichen Quellen aus: gedruckte Texte von und über Bruno Vogel und Briefe, soweit sie erhalten sind; er führte Interviews mit letzten lebenden Zeitzeugen oder holte zumindest schriftliche Auskünfte ein. Der literarische Nachlass Vogels galt lange als verschollen und wurde vor einiger Zeit in Londoner Privatbesitz entdeckt; sein Umfang, sein Zustand und die historische Bedeutung sind unklar; für die vorliegende Arbeit konnte er noch nicht ausgewertet werden. Verhandlungen über die Überlassung zwischen der Berliner Akademie der Künste und der Nachlassbesitzerin werden geführt, sind aber nicht abgeschlossen.

Geboren wurde Bruno Vogel in Leipzig, machte dort 1916 das Notabitur, war Kriegsfreiwilliger an der Ostgrenze Österreich-Ungarns, anschließend in Flandern, Frankreich und im Baltikum. Traumatisiert von den im Weltkrieg erlittenen Schrecken und wegen der juristischen und publizistischen Auseinandersetzungen um seine Schriften wurde Vogel in der Weimarer Republik nie heimisch.

Nach Jahren der Verdrängung, nicht zuletzt die Folge des Respekts vor seinem Vater, einem gesetzestreuen Justizbeamten, lebte er etwa ab 1920 seine Homosexualität, was zu Konflikten mit dem Elternhaus, aber nicht zum völligem Bruch führte. Um 1922 gründete er in Leipzig die Homosexuellenorganisation "Gemeinschaft wir", von der er sich aber bald trennte, da sie sich in seinen Augen von einer "Kampforganisation" zum "Amüsieretablissement" entwickelt hatte. In dieser Zeit lernte Vogel Kurt Hiller kennen, den Publizisten und Mitstreiter Magnus Hirschfelds, mit dem Vogel bis 1963 eine zeitweise enge, zeitweise auch weniger intensive Freundschaft verband. Für die unterschiedliche Nähe der beiden spielten die räumliche Trennung während des Exils und die damit verbundenen Schwierigkeiten, den Kontakt überhaupt aufrechtzuerhalten, eine wichtige Rolle. Woran die Freundschaft schließlich zerbrach, ist aufgrund der spärlichen Belege nicht eindeutig feststellbar; der entscheidende Punkt war wohl die Einschätzung der Bedeutung des antirassistischen Kampfes, den Vogel seit seinem Aufenthalt in Südafrika ins Zentrum seiner politischen Bestrebungen rückte. Als Hiller sich weigerte, Vogel durch Vermittlung von Kontakten zu unterstützen, brach Vogel den Kontakt zu Hiller ab.

1928/29 gehörte Vogel zum Führungskreis des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) und war mehrere Monate gegen mäßige Bezahlung in Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft angestellt. Für Hirschfelds Sittengeschichte der Nachkriegszeit verfasste er das Kapitel über männliche Prostitution, außerdem Rezensionen für die Mitteilungen des WhK. Vogel, der politisch dem Anarcho-Syndikalismus nahestand, lehnte jede Zusammenarbeit mit der SPD ab und damit auch Hirschfelds Position, zusammen mit der SPD eine Streichung des § 175 zu erreichen. Zu Hirschfeld persönlich hatte er auch deshalb ein eher zwiespältiges Verhältnis. Privat verspottete Vogel ihn als "Tuntifex maximus". Genauere Aussagen sind auch in diesem Fall wegen der unzureichenden Quellen nicht möglich.

Vogel verließ Deutschland 1931, und schnell verwischten sich seine Spuren in der Heimat. Das Leben im Exil war überaus schwierig, doch Vogel zahlte diesen Preis: An seinen Idealen (Antikapitalismus, Pazifismus, Antiklerikalismus) festzuhalten, war ihm offensichtlich wichtig. Nach Zwischenstationen in Österreich, der Schweiz und Frankreich ließ er sich Ende 1933 in Norwegen nieder, in Tromsø, weit nördlich des Polarkreises. Kälte, gesundheitliche und materielle Sorgen setzten ihm zu, Hoffnungslosigkeit bestimmte sein Leben. In Deutschland wurden seine Schriften 1935 in die "Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" aufgenommen. Publikationsmöglichkeiten in Norwegen oder anderen demokratischen Ländern boten sich ihm aus sprachlichen und finanziellen Gründen und wegen mangelnder Kontakte praktisch nicht.

Die nächste Etappe seiner Emigration war Südafrika (ab Anfang 1937). Dort bekam er immerhin eine dauernde Aufenthaltsbewilligung und damit die Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Er fand allerdings nur Gelegenheitsjobs, etwa als Vertreter oder Aushilfe in einer Buchhandlung.

Vogel machte in Südafrika keinen Hehl aus seiner Homosexualität; es gibt Hinweise auf zeitweilige Partnerschaften mit jüngeren afrikanischen Männern, aber keine eindeutigen Belege. Wolfert muss sich in dieser Hinsicht auf Vermutungen beschränken. Als Vogel schließlich 1952/53 in Südafrika eingebürgert wurde, beschäftigten ihn schon wieder Auswanderungspläne. Er zeigte damals nur noch wenig Interesse an der europäischen Politik und auch die Homosexuellen-Emanzipation stand nicht mehr im Zentrum seiner Bestrebungen. Die rassistische Politik der herrschenden weißen Minderheit in Südafrika hatte ihn zum Gegner der Apartheidpolitik gemacht. Der Einsatz für die Gleichberechtigung der schwarzen Afrikaner stand nun bis an sein Lebensende im Zentrum seiner politischen Aktivitäten.

Die politischen Verhältnisse in Südafrika und seine prekäre persönliche Lage waren denn auch vermutlich der Grund für seine dritte Emigration, diesmal nach London. Ein Antrag auf Entschädigung als politisch Verfolgter wurde von den westdeutschen Behörden abgelehnt, da er Deutschland schon 1931 verlassen habe. Ein Engagement in der sich in den 1950er Jahren formierenden zweiten (west-)deutschen Homosexuellenbewegung, zu dem ihn Kurt Hiller und andere aufforderten, lehnte er ab. Eine Rolle spielten dabei seine schlechten Erfahrungen mit dem WhK Ende der 1920er Jahre und die Tatsache, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren wollte. Zu seinem Traumland war inzwischen ein freies Südafrika geworden.

In seinen letzten Lebensjahren in London war Vogel ziemlich einsam; er hatte nur wenige Kontakte nach Deutschland, mehr offensichtlich nach Afrika und zu Afrikanern in London. Seine Briefe kennzeichnen ihn als depressiv und misanthropisch; im Gegensatz dazu schildern ihn allerdings Zeitzeugen im persönlichen Kontakt als geistreich, charmant und unterhaltend.

Seit Anfang der 1920er Jahre betätigte sich Vogel literarisch: Er verfasste Skizzen, Kurzgeschichten und Rezensionen, die in den unterschiedlichsten linken und liberalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Die kleinen Honorare reichten gerade zum Überleben. Auf die wichtigsten seiner Werke, die alle in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erschienen sind, wurde oben hingewiesen. Nach 1931 wurden nur noch einzelne kurze Texte nach- oder neu gedruckt.

In der Emigration wirkten sich andauernde gesundheitliche Probleme und fehlende berufliche Perspektiven negativ auf Vogels schriftstellerische Arbeit aus. Er fertigte dennoch umfangreiche Notizen und Entwürfe an. Ein Erzählungsband und ein Roman, beide in englischer Sprache und thematisch in Südafrika angesiedelt, gediehen weit, wurden aber nicht abgeschlossen und gelangten nicht in den Druck. Die Manuskripte befinden sich möglicherweise in Vogels (noch?) nicht zugänglichem Nachlass.

Der Leipziger Journalist und Publizist Wolfram U. Schütte sorgte ab den 1970er Jahren für eine Art literarischen Comebacks Vogels. In der DDR erschienen politische Erzählungen und Skizzen erneut (Texte zur Homosexuellen-Emanzipation fehlen allerdings in der Auswahl), in der Bundesrepublik publizierten zwei kleine Verlage Nachdrucke von Alf und Es lebe der Krieg. Alf zeigt Homosexuelle erstmals als gewöhnliche Menschen, nicht als krank, dekadent, kriminell oder pervers – wie es bis in die 1970er Jahre in allen Medien weit verbreitet war. Da für manche junge Homosexuelle gerade in der Coming-out-Phase literarische Darstellungen der Homosexualität eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, hatte Alf auch in der Nach-Stonewall-Ära seine Bedeutung, zumal Sprache und Stil eher an ein junges Publikum gerichtet sind. Untersuchungen darüber, wieweit Vogel bei jungen Schwulen damals tatsächlich Beachtung fand, fehlen allerdings. Manfred Herzer vom Schwulen Museum Berlin sei stellvertretend für die genannt, die in der BRD dazu beitrugen, dass Vogel nicht völlig in Vergessenheit geriet. Hier und da fand Vogel in der Folge auch Beachtung in der Literaturwissenschaft.

Wolfert legt die erste wissenschaftlich fundierte Biographie Vogels vor. Er porträtiert in einem gut lesbaren Text eine faszinierende Persönlichkeit und begleitet einen pazifistischen, emanzipatorischen und antirassistischen Schriftsteller aus Leipzig über Berlin, Wien, Norwegen, das Südafrika der Apartheid-Zeit schließlich nach London, wo Vogel 1987 starb.

Bruno Vogel war ein Opfer seiner Zeit, seine literarische Karriere endete praktisch mit der Emigration nach Norwegen; seine politischen Aktivitäten wurden durch die für ihn äußerst belastenden materiellen und gesundheitlichen Lebensumstände zunehmend eingeschränkt. Die Biographie kann nicht lückenlos sein, zu wenige Dokumente sind überliefert. Im Einzelfall helfen nur Vermutungen. Das schmälert nicht den Wert der Arbeit, die hoffentlich dazu beiträgt, Bruno Vogel vor dem völligen Vergessenwerden zu bewahren. Wolfert ergänzt seine Darstellung durch eine Bibliographie der Schriften Vogels, ein Literaturverzeichnis und ein Register.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 14