Michael Bochow / Andreas Pretzel (Hg.)
Ich wollte es so normal wie andere auch
– Walter Guttmann erzählt sein Leben

Männerschwarm Verlag, Hamburg, 2011, 124 S., € 14; eBook € 11

sorry, no cover

 

Rezension von Gottfried Lorenz, Hamburg

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Ein wahres Wunder ist es, dass Walter Guttmann in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag begehen kann. Mehrfach war sein Tod wahrscheinlicher als das Überleben: im KZ Bergen-Belsen, bei der Fleckfiebererkrankung unmittelbar nach der Befreiung, während seiner schweren Tuberkulose Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre. Michael Bochow hat mit Walter Guttman mehrere Interviews geführt, auf deren Grundlage Andreas Pretzel eine gut lesbare Biographie verfasst hat, die in der Reihe "edition Waldschlösschen" im Männerschwarm Verlag erschienen ist.

Geboren wurde Walter Siegfried Guttmann 1928 in Duisburg. 1937 verlor er seine Mutter. Am 9. November wurde sein Vater verhaftet und starb noch im selben Jahr an den Folgen der KZ-Haft in Dachau. Als Vollwaise kam Guttmann im Frühjahr 1939 mit einem Kindertransport in die Niederlande, wo er in wechselnden jüdischen Pflegefamilien lebte. 1943 wurde er im Durchgangslager Westerbork interniert und im Februar 1944 in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Anfang April 1945 mit dem Ziel Theresienstadt auf Transport geschickt, wurde der "Verlorene Zug", in dem sich Guttmann befand, am 23. April 1945 im südlichen Brandenburg bei Tröbitz von der Roten Armee befreit.

Guttmanns Rückkehr in die Niederlande im Juli 1945 war keinesfalls ungetrübt: als deutscher Jude war er alles andere als willkommen. Er lebte dort zunächst als Staatenloser, 1953 wurde er eingebürgert, entschied sich aber 1958, nach Israel auszuwandern. Seine Entscheidung für dieses Land ergab sich aus Guttmanns Hinwendung zum Zionismus und aus seinem Engagement für den neuen Staat in den Niederlanden während der 1950er Jahre. Seit 1999 wohnt er in Herzliya in einer Seniorenresidenz. "Meine Heimat ist Israel. 50 Jahre lebe ich schon da. Israel würde ich nie verlassen" (S. 110), heißt es am Ende des Buches.

Unbeschwert waren in Guttmanns Leben nur die ersten Kinderjahre. Danach wurde es geprägt von Trauer, Verlusterfahrung, Hinundhergestoßenwerden, von Hunger und Hass und Todesangst, von Krankheit und von der Enttäuschung darüber, dass sich niemand für das interessierte, was er im KZ erlebt hatte. Bis heute machen Walter Guttmann Angstanfälle und Depression zu schaffen. Es fällt auf, dass er in seinen Erinnerungen fast ausschließlich von jüdischen Freunden spricht. Heimisch fühlt er sich allein in der jüdischen Gemeinschaft.

So manches von dem, was Walter Guttmann über die Verfolgung der Juden, über den Holocaust und die Situation in den Niederlanden vor und nach dem Krieg berichtet, ist dem interessierten Leser vertraut. Dennoch, die Fakten erschüttern immer wieder:

— Die verweigerte Hilfeleistung der "braunen Schwestern" im lutherischen Krankenhaus in Duisburg-Ruhrort (im Unterschied zu der Hilfe der Nonnen im katholischen Krankenhaus in Duisburg-Laar) für den mit dem Tode ringenden Vater und Guttmanns bitteres, ja zynisches Fazit: "Hätte er überlebt, wir hätten Deutschland nicht verlassen können. Niemand hätte ihn genommen mit nur einem Arm, kein einziges Land. Wir wären wohl alle umgekommen" (S. 26).

— Die endlosen Zählappelle, die Ungezieferplage, die Kälte, der Hunger und das tägliche Sterben im KZ Bergen-Belsen. "Das Sterben war Teil unseres Lebens, unserer Existenz geworden: Es gab manchmal noch Mitgefühl, aber keine Solidarität mehr" (S. 58). Guttmanns Hauptvorwurf an die Deutschen lautet, dass "sie aus mir ein Tier gemacht haben, nicht nur aus mir, sondern aus jedem".

— Und nach dem Krieg: "Dieses Desinteresse […] damals in Holland. Man wollte nichts wissen von den Lagern" (S. 73-74.). Und dies galt nicht nur für die Niederlande, sondern auch für Israel. "Erst in den 1960er Jahren konnte man [dort] über die Lager reden" (S. 95-96.).

Aber es sind nicht nur Guttmanns Erinnerungen an den Holocaust, die Michael Bochow und Andreas Pretzel veranlasst haben, seine Biographie herauszugeben. Entscheidend für die Publikation des Buches war, dass Walter Guttmann nicht nur Überlebender des Holocaust, sondern auch homosexuell ist und dass er seine Homosexualität von Kindheit an auslebte. Thomas Rahe, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, betont in seinem Nachwort, Guttmanns Bericht sei "das einzige Selbstzeugnis eines ehemaligen Häftlings des KZ Bergen-Belsen, in dem von der eigenen Homosexualität die Rede ist" (S. 121). Nichts zu tun aber hat Walter Guttmanns Geschichte mit der Homosexuellenverfolgung in Deutschland. Guttmann wurde als Jude verfolgt und in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Über seine Homosexualität wussten die zuständigen deutschen und niederländischen Stellen nicht Bescheid; nie musste er das Stigma der Homosexuellen, den Rosa Winkel, tragen. Guttmanns Schicksal ähnelt insofern nicht demjenigen von Rudolf Brazda, der wegen homosexueller Handlungen verfolgt worden war und das KZ Buchenwald überlebte.

Guttmann spricht über seine gleichgeschlechtlichen Erlebnisse eher en passant. Sexualität scheint für ihn zunächst etwas Unkompliziertes gewesen zu sein. Trotz erheblicher einschlägiger Erfahrungen mit einem Pflegebruder, auf Amsterdamer Klappen und im Durchgangslager Westerbork im Alter von 12 bis 16 Jahren (S. 31, 39-40, 42) habe er "damals nicht gewusst, was Homosexualität ist. Das habe ich erst nach dem Krieg erfahren. Für mich war das sehr normal" (S. 40). Im KZ Bergen-Belsen hatte Guttmann auf Grund der Enge, der desolaten hygienischen Verhältnisse und des großen Hungers keine sexuellen Kontakte (S. 57). Auch erinnert er sich nicht, in Bergen-Belsen "Häftlinge mit dem rosa Winkel" gesehen zu haben (S. 55).

Nach der Rückkehr in die Niederlande im Sommer 1945 dauerte es nicht lange, bis Guttmann wieder regelmäßig gleichgeschlechtliche Kontakte hatte, sei es mit Bekannten, sei es auf Klappen (S. 70, 74, 83, 100-101). Monogam hat er nie gelebt, eine feste Freundschaft nicht gesucht, doch eine Reihe Beziehungen über längere Zeit nebeneinander gepflegt (S. 102). Mit dem Gesetz ist Guttmann wegen seiner sexuellen Orientierung nie in Konflikt geraten. Vermutlich hat er viel Glück gehabt, denn weder in den Niederlanden noch in Israel waren in den 1950er und 1960er Jahren homosexuelle Handlungen erlaubt. Und wer Guttmanns Lebensbericht genau liest, stößt immer wieder auf Passagen, in denen deutlich wird, wie vorsichtig Homosexuelle in diesen Ländern sein mussten. So durfte weder die zionistische Jugendorganisation Habonim noch das israelische Konsulat in Amsterdam, in dem Guttmann arbeitete, etwas von seiner Veranlagung erfahren (S. 89-90). Rahes Vermutung, Guttmann sei u.a. wegen der Homosexuellenverfolgung nicht nach Deutschland zurückgekehrt (S. 122), findet in seinem Lebensbericht keine Unterstützung. Als Guttmann im Sommer 1953 kurz im Rheinland war, hatte er in einem Düsseldorfer Park Sex mit einem Deutschen (S. 88). Eine Rückkehr nach Deutschland war für Guttmann ausgeschlossen wegen der Pogromstimmung, die er in Duisburg als Zehnjähriger erlebt hatte, wegen der Ermordung seines jüngeren Bruders in Auschwitz, wegen der vielen Monate im KZ Bergen-Belsen – und nicht wegen der Situation der Homosexuellen nach 1945, die in den Niederlanden nur geringfügig besser war.

Am Ende des Buches spricht Guttmann davon, immer in zwei Welten gelebt zu haben. Die eine dieser beiden Welten, die homosexuelle, wusste, "dass ich schwul war", die andere, die heterosexuelle, aber "wusste[n] das nicht […] Es wurde nie darüber geredet" (S. 102, 105). Nie hatte es Guttman so normal wie andere auch.

Was Guttmann über sein Leben als alt gewordener Schwuler in Tel Aviv und Herzliya schreibt, unterscheidet sich nur wenig von dem Leben alter Schwuler in Hamburg oder Berlin. Es sind vergleichbare Lebenserfahrungen als Schwule zwischen Verfolgung und Tolerierung, ähnliche Verhaltensmuster im Umgang mit Heterosexuellen, mit Partnern und dem Outing, und es sind dieselben Bedenken, was die Stabilität des Erreichten anbelangt.

Walter Guttmann: Holocaustüberlebender, Israeli, selbstbewusster Schwuler – seine Biographie ist eine lohnende Lektüre und kann nachdrücklich empfohlen werden.

Zwei sprachliche Einwände zum Schluss: Statt "Jugendbewegung" (S. 88, 90) sollte es "Jugendorganisation" heißen. Und der Ausdruck "auf dem Strich" (S. 100-101) lässt im Deutschen immer an Prostitution und Prostituierte denken.




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