Thierry Delessert / Michaël Voegtli
Homosexualités masculines en Suisse
De l′invisibilité aux mobilisations

Presses poltechniques et universitaires romandes, Lausanne, 2012, 136 S., € 13,99

sorry, no cover

 

Rezension von Andreas Niederhäuser, Basel

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Es gibt zwar inzwischen eine Vielzahl von Aufsätzen und auch einige größere Publikationen zur Geschichte der Homosexualitäten in der modernen Schweiz. Eine Überblicksdarstellung, wie sie der Westschweizer Historiker Thierry Delessert und der Soziologe Michaël Voegtli mit dem hier zu besprechenden Titel vorlegen, hat bisher allerdings gefehlt. Erschienen ist die Publikation in der an der Universität Lausanne beheimateten Reihe "Le savoir suisse", die sich u.a. das Ziel gesetzt hat, akademische Arbeiten einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Das Werk kommt denn auch nicht als "wissenschaftliches Schwergewicht" daher, sondern als schmale Taschenbuchausgabe, in der in mehr oder weniger kurzen Abschnitten die Entwicklung der "Homosexuellenfrage" vom Beginn des medizinischen Diskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Aidsproblematik der 1980er und 90er Jahre dargestellt wird. Thema ist dabei sowohl die Veränderung der Homosexualitätskonzepte wie der Wandel der Einstellung der Schweizer Gesellschaft zur Homosexualität und die Entwicklung der Schweizer Homosexuellenbewegung. Dass die Lesben dabei nur dort zum Thema werden, wo der gemeinsame Kampf gegen Diskriminierungen im Vordergrund steht, hat – wie die Autoren explizit erwähnen – nicht mit mangelndem Interesse, sondern mit der unterschiedlichen Quellenlage und zumindest teilweise unterschiedlichen Fragestellungen zu tun. Die Publikation ist in erster Linie eine "histoire publique, associative et sanitaire" (S.16). Die Darstellung bezieht sich also hauptsächlich auf den politischen, juristischen und medizinischen Diskurs und auf schriftliche und mündliche Quellen zur Geschichte der einschlägigen Vereine und Verbände.

Bevor die Autoren auf die Verhältnisse in der Schweiz zu sprechen kommen, klären sie im Eingangskapitel ihre methodisch-theoretischen Grundlagen. Dabei machen sie deutlich, dass der Begriff der Homosexualität keineswegs auf eine festumrissene Identität verweist, sondern als komplexes und sich wandelndes Konstrukt aus einer Vielzahl von Diskursen und einer Wechselwirkung von Fremd- und Eigendefinitionen zu verstehen ist und zudem in den größeren Kontext einer Geschichte der Männlichkeit gestellt werden muss. Bezüglich der Entwicklung in der Schweiz unterscheiden sie sechs Perioden, deren Entwicklungslinie bereits im Untertitel "Von der Unsichtbarkeit zur Mobilisation" vorgezeichnet wird.

Die erste Periode, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1942, als in der Schweiz das neue Strafrecht in Kraft trat, das einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen legalisierte, ist für die Autoren durch den juristischen und medizinischen Diskurs und externe Kategorisierungsversuche geprägt. Vorangetrieben wurde die Diskussion wesentlich durch die Auseinandersetzung mit dem deutschen Recht, dem "code prussien", das im Gegensatz zum "code Napoléon" gleichgeschlechtliche Handlungen kriminalisierte. Bereits das frühe Monumentalwerk des Glarner Hutmachers Heinrich Hössli über die Männerliebe der Griechen, das in der Schweiz gewissermaßen den Beginn des Diskurses über Homosexualität markiert, steht in diesem weiteren Kontext. Dabei vermögen die Autoren für diese ganze erste Periode aufzuzeigen, dass die Entwicklung in der Schweiz durch die in Deutschland geführte wissenschaftliche Diskussion, aber auch durch "Homosexuellenskandale" wie die Eulenburg-Affäre stark beeinflusst wurde. Anhand der verhältnismäßig ausführlichen Darstellung des langwierigen und komplexen Entstehungsprozesses des neuen Strafrechtsartikels wird zudem die enge Verknüpfung zwischen dem juristischen Diskurs und der Medizinalisierung und Psychiatrisierung der Homosexualität sichtbar gemacht. Delessert und Voegtli betonen dabei, dass die den Entwicklungen im europäischen Umfeld konträr entgegenlaufende gesetzliche Liberalisierung keineswegs Ausdruck einer toleranteren gesellschaftlichen Haltung war, sondern darauf abzielte, die Homosexuellen so "unsichtbar" wie möglich zu machen, indem man sie mit Blick auf das Skandalpotential von Prozessen aus dem öffentlichen Raum der Gerichtssäle, der Medien etc. in den privaten und "geschützten" Raum der Arzt- und Psychiatriepraxen verbannte.

Wie wenig der Liberalisierungsschritt auf Gesetzesebene seine Entsprechung in einer offenen Haltung gegenüber Homosexuellen hatte, zeigen die Autoren an der Geschichte der in der Mitte der 1930er Jahre in Zürich gegründeten Homosexuellenzeitschrift Der Kreis und des gleichnamigen, eng mit der Zeitschrift verbundenen "Clubs", einem losen Zusammenschluss von Bezügern. Diskretion war das oberste Gebot, um gegenüber Polizei und Öffentlichkeit möglichst wenige Angriffsflächen zu bieten. Dazu passte auch das in der Zeitschrift propagierte Konzept des "Homoerotismus", in dem das Sexuelle eine untergeordnete Rolle spielte und die Bedeutung eines diskreten und den gesellschaftlichen Normen angepassten Lebens hervorgehoben wurde. Da Der Kreis während der Kriegsjahre die einzige Homosexuellenzeitschrift in Europa war, er erschien ab 1943 zweisprachig (deutsch und französisch) und ab 1951 auch in englischer Version, reichte seine Bedeutung insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren weit über die Schweiz hinaus.

Mit der Einstellung des Kreises Mitte der 1960er Jahre fand der "Sonderweg" der Schweiz ein Ende. Die Entwicklung der Homosexuellenorganisationen und des Kampfes gegen die gesetzlichen und gesellschaftlichen Diskriminierungen folgte nun den Trends der westlichen Gesellschaften. Es entstanden die ersten Homophilen-Organisationen, die zwar noch in der bürgerlichen Tradition des Kreises standen, aber dennoch eine offenere, auf eine stärkere Sichtbarkeit und eine gesellschaftliche Integration der Homosexuellen zielende Politik vertraten. Eine offensive und bewusst provokative Strategie verfolgten erst die "homosexuellen Arbeitsgruppen", die in der Folge des Stonewall-Aufstandes und des Entstehens radikaler Homosexuellenorganisationen in den USA im Laufe der 1970er Jahre auch in verschiedenen Schweizer Städten gegründet wurden. Mit ihrem links-revolutionären Ansatz, der den Kampf gegen die Diskriminierung mit einer grundsätzlichen Ablehnung der herrschenden Gesellschaftsordnung verband, setzten sie sich deutlich von den weiter existierenden Homophilen-Organisationen ab. Erst die 1980er Jahre, in denen nach Einschätzung der Autoren die ideologischen Auseinandersetzungen durch Identitätsdebatten abgelöst und ein reformistischer Weg zur Beseitigung gesetzlicher Diskriminierungen eingeschlagen wurde, brachten die Organisationen näher zusammen. Dies gilt erst recht für "les années sida", die Jahre nach dem Auftreten von Aids, dem letzten von den Autoren behandelten Zeitabschnitt. Die starke Fokussierung auf die Präventionsarbeit führte zu einer sehr engen Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen, die der weiteren Entwicklung der gesellschaftlichen Akzeptanz der verschiedenen Homosexuellenorganisationen durchaus förderlich war. Das Engagement im Kampf gegen Aids führte aber auch zu einer verstärkten Mobilisation von Homosexuellen, die sich auf politischer Ebene für die Gleichberechtigung einsetzten – was u.a. dazu beitrug, dass im Jahre 2005 in der Schweiz das Gesetz zur "eingeschriebenen Partnerschaft" von den StimmbürgerInnen angenommen wurde.

Während insbesondere die Geschichte des Kreises und der Teillegalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen im neuen Strafgesetz von 1942, u.a. mit der 2012 erschienenen Dissertation von Thierry Delessert [1], verhältnismäßig gut dokumentiert ist, vermag die Publikation die wohl teilweise bereits etwas aus dem Bewusstsein verschwundene jüngere und jüngste Geschichte der Homosexuellenorganisationen in Erinnerung zu rufen und durchaus auch eine Forschungslücke zu füllen. Die Gliederung in verschiedene Perioden ermöglicht es den Autoren zudem, das Besondere der einzelnen Zeitabschnitte herauszustreichen, ohne dabei die großen Entwicklungslinien aus den Augen zu verlieren. Auch dem gesamtschweizerischen Anspruch werden Delessert und Voegtli – angesichts der Sprachbarrieren nicht ganz selbstverständlich – gerecht, indem sie Quellen aus allen Landesteilen berücksichtigen und immer wieder auf die vielfältigen Vernetzungen und Verknüpfungen innerhalb der Schweiz, aber auch auf wichtige Impulse aus dem europäischen Umfeld hinweisen.

Die angenehm zu lesende Publikation eignet sich nicht nur als Einstiegsliteratur ins Thema, sondern regt durchaus auch zu weiteren Forschungen an.

[1] Delessert, Thierry : "Les homosexuels sont un danger absolu". Homosexualité masculine en Suisse durant la Seconde Guerre mondiale, Lausanne: Ed. Antipodes 2012. Auf eine Besprechung wird hier verzichtet, da im folgenden Invertito voraussichtlich ein Beitrag erscheinen wird, in dem die wichtigsten Ergebnisse der Dissertation dargestellt werden.




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