Alexander Zinn:
"Das Glück kam immer zu mir".
Rudolf Brazda – Das Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich

Frankfurt am Main: Campus 2011, 356 S., € 24,90

sorry, no cover

 

Rezension von Friedrich-H. Schregel, Köln

Erschienen in Invertito 13 (2011)

Im September 2011 ist Rudolf Brazda gestorben – wohl der letzte überlebende Gefangene, der mit dem rosa Winkel ins Konzentrationslager gesperrt worden ist. Brazdas Biographie, geschrieben von Alexander Zinn, erschien ein gutes halbes Jahr vor seinem Tod.

Am liebsten möchte man längere Passagen aus dem Vor- und Nachwort übernehmen – wie die Familie Brazdas Kontakt sucht zur Berliner Schwulenszene, die Nummer des LSVD wählt und dort niemand die Brisanz dieses Telefonats ermisst. Wie der alte Mann noch immer flirtet – auch mit dem Regierenden Bürgermeister in Berlin. Es gibt eine Reihe von Biographien über Schwule, die die Nazi-Zeit überlebt haben, in denen auch die gesellschaftlichen Veränderungen und die jeweilige Situation der Schwulen in der Gesellschaft dargestellt werden. Diese Biographie ist insofern nichts Anderes – und doch etwas ganz Besonderes: Zinn ist in der unglaublich glücklichen Lage, sowohl aus den Interviews mit Brazda als auch aus einem großen Stapel Akten schöpfen zu können. Brazda wurde mehrmals von Zinn besucht, erzählte ihm sein Leben, beantwortete Fragen dazu. Zinn forschte außerdem nach und wurde fündig – Akten in drei Archiven geben über den Strafgefangenen bzw. den KZ-Häftling Brazda Auskunft.

Dieses Nebeneinander von erzähltem und geschriebenem Material macht den Wert dieses Buches aus: Erstmals ist es möglich, solche Akten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen – und ebenso Lebenserinnerungen kritisch zu befragen. In vielen Publikationen – ob sie auf Aktenmaterial oder Zeitzeugeninterviews basieren – ist die eingeschränkte Zuverlässigkeit hervorgehoben und auf die verfälschenden Einflüsse hingewiesen worden. Das war zwar überzeugend, blieb aber in der Regel Theorie. Zinn hatte nun das Material in der Hand, zu diesen abstrakten Einsichten die Beispiele zu liefern.

Eines der Verdienste diese Buches ist es, dass es lebendig, anschaulich, berührend bleibt, sogar wenn die komplizierten Fragen der Zuverlässigkeit von Quellen erörtert werden. Die erste Verhaftung zum Beispiel wird von Brazda selbst ganz anders erzählt als sie in den Akten festgehalten ist; Zinn geht diesem Widerspruch nach, erörtert Zuständigkeiten, Polizeitaktik und die Wahrscheinlichkeit von Verwechslungen mit der zweiten Verhaftung – und entscheidet in diesem Fall für die Richtigkeit der Akten. Zinn zieht, gerade bei der Klärung solcher Unstimmigkeiten, auch weiteres Material hinzu, etwa Erinnerungen anderer Häftlinge, Untersuchungen über die Schwulenverfolgung in der Nazizeit, zusätzliche Akten, Ausstellungskataloge. Dabei werden – en passant gewissermaßen – debattierenswerte Fragen entwickelt – beispielsweise zu Himmlers Erlass über homosexuelle Handlungen in der SS und der Polizei: Warum unterblieb damals die Veröffentlichung dieses Erlasses?

Aus Brazdas Lebensbericht, mündlich in Interviews zusammengetragen, fertigt Zinn einen glatten, schlüssigen Text. Er zitiert Brazda immer wieder, belässt dabei auch die kleinen Verstöße gegen das Hochdeutsche, dann wieder objektiviert er die Worte Brazdas zum Bericht, er fasst auch zusammen und verdichtet: So werden Situationen lebendig, werden ereignisarme Phasen verkürzt, werden besondere Ereignisse hervorgehoben.

Eine Reihe von Details überrascht. Brazda berichtet Geschehnisse aus seinem Leben, die man bisher kaum für möglich hielt: In Meuselwitz, Thüringen, richtet sich Brazda mit seinem Freund eine gemeinsame Wohnung ein – 1934; im gleichen Jahr wird mit vielen Freunden eine schwule Hochzeit gefeiert – ohne Denunziation. Während der Haftzeit braucht Brazda, der als gelernter Dachdecker bisweilen Freigang hat, nicht auf Sex zu verzichten, nicht einmal im Konzentrationslager ist Sex unmöglich.

Zinn kommt gern auf das Thema seiner Dissertation zurück, das Klischee vom schwulen Nazi, das in den 1930er Jahren bei den Kommunisten herrschte (Zinn, Alexander: Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zu Genese und Etablierung eines Stereotyps, Frankfurt am Main / New York: Peter Lang 1997). Bei der Erläuterung der Lebenssituation und Hierarchieebenen in den Konzentrationslagern breitet er dieses Wissen aus – unabhängig von den Erfahrungen Brazdas.

Die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung wird von Zinn etwas schematisch, aber gerade dadurch auch übersichtlich und verständlich geschildert. In der Regel setzt der Verfasser bei jedem Lebensabschnitt mit der politischen Situation in ganz Deutschland ein, kommt dann auf die Region zu sprechen, in der Brazda jeweils lebt, lässt einen kurzen Abriss über die Situation der Schwulen in den jeweiligen Jahren folgen, daraufhin lesen wir von Brazdas persönlichen Erlebnissen. Die allgemeinen Erläuterungen sind klug dosiert – sie geben einen konkreten und genauen Eindruck, verlieren sich nicht in Details, sie geben die Basis für die Einordnung der individuellen Geschichte Brazdas, sie liefern den Rahmen für die Beurteilung des Außergewöhnlichen und des Typischen in dessen Erinnerungen.

Ein Teil der Interviews, die Alexander Zinn mit Brazda führte, wurde verfilmt, dabei stieß Zinn auf den französischen Filmemacher Jean-Luc Schwab. Der wollte die Geschichte Brazdas zu einem Film verarbeiten, das Buch sollte von Zinn geschrieben werden. Schwab veröffentlichte dann selbst eine Brazda-Biographie, ein Jahr vor Zinn. Damit verstieß er gegen die Vereinbarungen, die er mit Zinn getroffen hatte – eine Filmveröffentlichung sollte Schwab überlassen sein, die Buchveröffentlichung Zinn; hierüber informiert Zinn in seinem Vorwort.

Das Buch von Jean-Luc Schwab (Rudolf Brazda. Itinéraire d’un Triangle rose, Paris: Editions Florent Massot 2010, 256 S.) ist deutlich kürzer als dasjenige Zinns. Auch Schwab bietet einige Bildseiten an, auch hier sind Datenblätter, Karteikarten, Ausweise wiedergegeben. Zinns gründliche Einleitungen zu den Lebensabschnitten fehlen bei Schwab, die Biographie bleibt die Lebensbeschreibung eines Häftlings, den Anspruch einer Einordnung in größere Zusammenhänge hat Schwab nicht. Er liefert dafür, speziell für französische Leser, einen kleinen Anhang mit Erklärungen des deutschen Vokabulars, hilfreich ist sein Personen- und Ortsregister.




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