Ralf Jörg Raber:
Wir sind wie wir sind
Ein Jahrhundert homosexuelle Liebe auf Schallplatte und CD

Hamburg: Männerschwarm Verlag 2010, 424 S., zahlreiche Abbildungen, € 24

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 13 (2011)

Das Fazit ist ernüchternd: seit mehr als 100 Jahren gibt es Schallplatten bzw. CDs mit Texten, die sich selbstbewusst, satirisch, höhnisch oder spöttisch mit Homosexualität befassen oder zumindest Anspielungen auf Homosexualität enthalten – mehr als ein Nischenprodukt auf dem riesigen, heterosexuell dominierten Tonträgermarkt waren und sind solche Platten dennoch nicht. "Den großen schwulen oder lesbischen Hit, die spektakuläre Hitsingle, die etwas in Bewegung brachte und bis heute nachklingt, hat es nicht gegeben", so Ralf Jörg Raber, der Autor des vorliegenden Bandes (S. 357). Und weiter: "Songs mit homosexueller Thematik werden in den Musikmedien nicht gespielt" (ebenda). Erklärungen für diese Tatsache fallen Raber schwer, obwohl er sicher derjenige ist, der sich auf diesem speziellen Sektor der deutschsprachigen populären Musik am besten auskennt. Noch ernüchternder wird das Fazit, wenn man den Begriff homosexuell differenziert in "schwul" und "lesbisch" – vor allem für den Bereich der Lieder mit lesbischer Thematik. Denn der Tonträgermarkt ist nicht nur heterosexuell, sondern auch männlich dominiert und Songs, die sich mit Begehren, Sex und Liebe zwischen Frauen befassen, machen (geschätzt) weniger als ein Viertel der von Raber erfassten Produktionen aus, oft genug nicht einmal lesbisch, sondern bisexuell konnotiert.

Mehr als 10 Jahre lang hat sich Raber mit dem Thema Homosexualität auf Schallplatte beschäftigt und eine riesige Menge an Daten und Fakten über deutschsprachige Lieder zusammengetragen, die er detailliert und kenntnisreich, dabei unterhaltsam zu lesen, vor der Leserin / dem Leser ausbreitet. Das Spektrum der erfassten Produktionen reicht vom Couplet der Kaiserzeit über den Schlager, den Travestie-, Polit- und Liedermacher-Song, über Rock- und Popmusik bis zum Hip-Hop des 21. Jahrhunderts. Es existiert im deutschsprachigen Schrifttum keine umfassendere Arbeit zu dem Thema. Oper und Operette hat Raber ausgespart, schließlich gibt es da mit Wayne Koestenbaum: Königin der Nacht. Oper, Homosexualität und Begehren [1] und Kevin Clarke (Hg.): Glitter And Be Gay. Die authentische Operette und ihre Verehrer [2] schon Standardwerke, die dem Musikfan mehr als einen ersten Zugang zu diesem Teil des Musikschaffens ermöglichen. Sich mit dem Musical zu beschäftigen, wäre noch eine lohnende Aufgabe.

Die erste "schwule" Schallplatte war ein Couplet Otto Reutters, eines in der Kaiserzeit reichsweit bekannten Kabarettisten und Humoristen: "Und jeder kriegt ‘nen Schreck, kommt Hirschfeld um die Eck" (1908) – nicht zur Ermutigung der damals im Zuge der Harden-Eulenburg-Affäre in eine erste Krise geratenen frühen Homosexuellenbewegung gedacht, eher eine für Reutter typische humoristische Auseinandersetzung mit einem Zeitphänomen. Dass sich Reutter überhaupt Hirschfelds als Couplet-Thema annahm, verweist auf dessen großen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit, denn Reutter wollte unterhalten und verdienen. Raber ordnet das Couplet in das damalige gesellschaftliche Umfeld ein, dokumentiert und kommentiert den Text, wie er das bei vielen von ihm als wichtig oder typisch eingeschätzten Liedern bzw. Texten macht. Insofern ist der vorliegende Band nicht nur eine bloße Darstellung der historischen Entwicklung (unter musik- und durchaus auch homosexualitätsgeschichtlichen Aspekten), sondern auch Dokumentensammlung. Dieser Charakter wird verstärkt durch zahlreiche Abbildungen von Sängerinnen und Sängern, Musikgruppen, Bands, Konzertfotos und vor allem Plattencovern sowie durch Auszüge aus Schriftwechseln oder Interviews des Autors mit den Künstlerinnen und Künstlern oder Personen aus ihrem Umfeld (Familie, Partner, Geschäftskontakte).

Ein erster Höhepunkt der schwul-lesbischen Musikproduktion fällt in die Weimarer Zeit. Das "Lila Lied" (1920, Text: Kurt Schwabach, Musik: Mischa Spoliansky) ist selbst heute als schwul-lesbische Hymne noch nicht völlig vergessen. Es bringt Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl gleichgeschlechtlich fühlender Menschen in der Weimarer Zeit gleichsam idealtypisch zum Ausdruck. Dabei gehörten beide Autoren vermutlich nicht einmal der, wie wir heute sagen würden, homosexuellen Community an. Das Lied war auch kommerziell ein Erfolg und regte dazu an, das Thema Homosexualität auf Schallplatten zu behandeln. Raber nennt über 30 Titel aus der Zeit der Weimarer Republik; mehr als eine Nische auf dem Tonträgermarkt war jedoch damit nicht zu besetzen.

Für die ganze NS-Zeit hat Raber nur eine kurze Szene des schwulen Kabarettisten und Komikers Wilhelm Bendow mit einer Anspielung auf Homosexualität gefunden. Der antihomosexuelle Geist dieser Zeit blieb im Kultur- und Gesellschaftsleben beherrschend bis weit in die Anfangsjahre der Bundesrepublik. Erst die Reform des § 175 StGB im Jahre 1969 brachte erneut eine langsame Öffnung des Plattenmarktes für das Thema Homosexualität. In den 1950er und 1960er Jahren kamen Schwule allenfalls als tänzelnde Tunten oder warme Brüder auf Schallplatten vor, Lesben als Frauen, die (noch) keinen Mann abgekriegt hatten. Schwulenklischees und Lesbendiffamierung bestimmten weitgehend die Inhalte. Auch Künstler, die selbst schwul waren, vermieden aus Angst, enttarnt zu werden, jede positive Wertung von gleichgeschlechtlicher Liebe.

Nach Raber war das wichtigste Lied der "Nachseptemberzeit" (d.h. nach der ersten Reform des § 175 im September 1969) ein Song von André Heller: "Denn ich will" (1973): "Und wenn ein Mann einen Mann liebt, soll er ihn lieben, wenn er ihn liebt [...]. Wenn eine Frau eine Frau liebt, soll sie sie lieben, wenn sie sie liebt." André Heller war in der Zeit nicht der einzige, der schwule und lesbische Liebe unverkrampft als selbstverständliche Lebens- und Liebesform besang. Mehr Namen zu nennen, führt an dieser Stelle zu weit. In allen Sparten des Plattengeschäfts lassen sich Beispiele finden. Genannt sei hier lediglich Bernd Clüver, damals einer der erfolgreichsten Schlagersänger. "Mike und sein Freund" (1976) ist eine eher rührselige Geschichte ohne Happy End (so wie seinerzeit praktisch alle Spielfilme mit dem Thema Homosexualität ausgingen). Der Schlager, die deutsche Version des Rubettes-Song "Under One Roof", erreichte in den deutschen Charts immerhin Platz 44, wurde aber trotzdem nicht zu Dieter-Thomas Hecks "Hitparade" eingeladen und die halbe ARD verhängte ein Sendeverbot. Mit Clüvers Karriere ging es seitdem bergab. Einen ähnlich mutigen Versuch eines deutschen Popstars mit diesem Thema hat es nicht mehr gegeben. Bernd Clüver starb im Sommer 2011, fast vergessen, auf Mallorca an den Folgen eines häuslichen Unfalls.

Bernd Clüvers Schlager und auch andere Songs mit schwulen Inhalten erschienen bei einem der großen Musikkonzerne. Fast keine Platte mit lesbischen Inhalten schaffte das. Lesbische Liebe war für die Bosse des Plattengeschäfts kommerziell uninteressant, Lesben waren allenfalls als Aufreißer auf Plattencovern gut genug, um Hetero-Voyeurismus zu bedienen. Lesbische Sängerinnen und Bands waren auf Live-Auftritte, bei der Plattenproduktion auf Eigeninitiative und Frauensolidarität angewiesen. Einzige Ausnahme war Hella von Sinnen mit ihrem offenen Bekenntnis "Mein Coming out", das immerhin bei Bertelsmann/Ariola erschien (1996), allerdings zu einer Zeit, als Hella von Sinnen schon ziemlich populär und somit wohl umsatzversprechend war.

Hier noch ein paar Stichworte zu weiteren Kapiteln dieses Buches: die Detlev-Welle, schwule Musikprojekte ("Brühwarm", "Warmer Südwind"), Travestie im Wandel (Mary und Gordy), Schallplatten mit schwulen oder lesbischen Inhalten in der DDR, Lieder zum Thema Aids (Melitta Sundström), schwule Chansonetten (Georgette Dee, Tim Fischer) und, und, und. Den Höhepunkt der homosexuellen Plattenkultur sieht Raber in den 1980er und 1990er Jahren. Ins große Geschäft haben es aber kaum schwule Sänger und noch weniger lesbische Musikerinnen geschafft. Ausnahmen wie Peter Plate von "Rosenstolz" oder Patrick Lindner bestätigen das, denn von beiden weiß zwar jeder, dass sie schwul sind, in den Songs des Duos "Rosenstolz" kommt das Thema aber praktisch nicht vor. Homosexuelles Musikschaffen spielte und spielt sich weitgehend im Independentbereich ab. Mit den Fortschritten bei der juristischen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung verlor das Thema zudem an Reiz, musikalische Beiträge zur homosexuellen Emanzipation schienen nicht mehr notwendig. Selbst auf Platte gepresste Homophobie verschwand weitgehend. Das gilt bis heute – mit einer Ausnahme: im deutschen Hip-Hop gibt es eine Reihe schwulen- und frauenfeindlicher Songs (von Kool Savas, Bushido und anderen), mit denen die Sänger offensichtlich auf dumpfe Gefühle und Zustimmung bei Teilen ihres Publikums spekulieren. Anders als in den 1950er Jahren trifft offene Homophobie aber heute auf Widerspruch von homo- wie von heterosexueller Seite, selbst von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Bushido musste das erst kürzlich erfahren, als ihm der Fernsehpreis "Bambi" verliehen wurde und einige der anderen Geehrten sich öffentlich von ihm distanzierten, ausdrücklich unter Bezug auf seine schwulenfeindlichen Songtexte.

Homosexualität auf Schallplatte bedient nicht den Mainstream-Geschmack, das Thema als Untersuchungsgegenstand ist eher etwas für Spezialisten oder Sammler. Deren Interessen werden aber durch Rabers Untersuchung bestens bedient. An entlegensten Stellen ist er fündig geworden, erinnert an manche populäre Platte und hat zahlreiche wenig oder kaum bekannte Scheiben mit homosexuellen "Stellen" (wieder-)entdeckt. Man muss die vielen Songs nicht kennen und manche davon kann man einfach nicht mögen – in der Summe und durch die kenntnisreiche Einordnung in musikalische und gesellschaftliche Entwicklungen reflektieren sie aber einen Teil nicht nur der homosexuellen Geschichte, sondern auch der Geschichte von Toleranz und Akzeptanz in unserer pluralistischen Gesellschaft.

Ein ausführlicher Anhang mit Bibliographie und Diskographie ergänzen den Band und machen ihn zu einem nützlichen Nachschlagewerk. Einen Teil der Songs gibt es zum Nachhören in der CD-Reihe "Homosexualität auf Schallplatte" (bei Bear-Family-Records, herausgegeben von Ralf Jörg Raber); leider sind bisher nur zwei CDs erschienen (mit Songs bis 1976); einer Fortsetzung der Reihe stehen lizenzrechtliche Probleme entgegen. Insgesamt ist der vorliegende Band ein Muss für einschlägig interessierte Musikfans, zu empfehlen darüber hinaus für alle kultur- und speziell musikgeschichtlich interessierten Fachleute und Laien.

[1] Stuttgart: Klett-Cotta 1996

[2] Hamburg: Männerschwarm Verlag 2007




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