Andreas Mohr:
Eheleute, Männerbünde, Kulttransvestiten

Zur Geschlechtergeschichte germanischsprachiger gentes des ersten bis siebten Jahrhunderts

Frankfurt a. M. u.a., Peter Lang 2009, 150 S.,€ 32,80

sorry, no cover

 

Rezension von von Andreas Niederhäuser, Basel

Erschienen in Invertito 13 (2011)

An geschlechtergeschichtlicher Forschungsliteratur zur Antike mit besonderer Berücksichtigung der gleichgeschlechtlichen Sexualität mangelt es nicht. Das Augenmerk der HistorikerInnen richtet sich dabei allerdings meist auf die griechische und römische Gesellschaft und Kultur. Ihre "barbarischen" Nachbarvölker erhalten dagegen im Kontext der Geschlechtergeschichte im Allgemeinen und der Geschichte der Homosexualitäten im Speziellen eher selten und wenn, dann meist nur unter sehr eingeschränkten Fragestellungen größere Aufmerksamkeit. Lediglich Gisela Bleibtreu-Ehrenberg in ihrer 1978 erschienenen und im deutschsprachigen Raum sehr einflussreichen "Geschichte eines Vorurteils"[1] und David Greenberg in seiner 1988 publizierten Monographie "The Construction of Homosexuality"[2] sind in umfassenderer Weise auf Formen gleichgeschlechtlicher Sexualität bei frühgeschichtlichen Gesellschaften, im Besonderen bei den Germanen, eingegangen. Während Mohr, der in Mediävistik promoviert hat, in seiner Untersuchung Greenbergs Verortung gleichgeschlechtlicher Sexualpraktiken bei den germanischen Stämmen in den Kontext kriegerischer, männerbündisch organisierter Gefolgschaftsverbände weitgehend übernimmt, steht er der These Bleibtreu-Ehrenbergs, gleichgeschlechtliches Verhalten von Männern sei bereits von den frühgeschichtlichen Germanen grundsätzlich abgelehnt worden, kritisch gegenüber. Entsprechend bemüht er sich denn auch, ihre Interpretationen der einschlägigen Quellen vorab aus methodischen Gründen zu widerlegen.

Der eher sperrige Titel der Publikation ist nicht einem akademischen Dünkel geschuldet, sondern verweist auf die erheblichen methodisch-theoretischen Schwierigkeiten, denen Mohr in der Einführung zur Studie fundiert und in der gebotenen Ausführlichkeit nachgeht. Tatsächlich ist bereits die Eingrenzung des zu untersuchenden Quellenkorpus schwierig, verweist die Bezeichnung "Germanen" – auch wenn im geläufigen Sprachgebrauch so intendiert – keineswegs auf eine klar definierte ethnische Entität. Hinter dem Begriff verbirgt sich vielmehr eine Vielzahl verschiedener "Völker" – Mohr verwendet hier die weniger ideologiebelastete und neutralere lateinische Bezeichnung gentes –, die selbst wiederum im Laufe der Jahrhunderte bis zum Ende der Völkerwanderungszeit nicht nur in ihrer Zusammensetzung, sondern auch hinsichtlich ihrer kulturellen Ausprägungen kontinuierlichen Transformationsprozessen unterworfen waren. Der Grundstock sprachlicher und in geringerem Maße kultureller Gemeinsamkeiten erlaubt es in den Augen Mohrs aber dennoch, wenn auch nicht unter dem Titel "Germanen", so doch unter dem Oberbegriff "germanischsprachige gentes" einen Korpus miteinander vergleichbarer Quellen zu bilden (S. 15f.).

Der Autor zielt mit seiner kulturwissenschaftlich orientierten Studie explizit nicht darauf ab, den Nachweis für die "pure Existenz" (S. 20) gleichgeschlechtlicher und transvestitischer Verhaltensweisen bei den germanischsprachigen gentes zu erbringen, da er diese wie das andersgeschlechtliche ("heterosexuelle") Sexualverhalten als anthropologische Konstante begreift. Er will vielmehr im Rahmen moderner Gender-Theorien, die Geschlechtsidentität als ein ständigen Veränderungen unterliegendes "komplexes soziales Konstrukt" (S. 19) verstehen, der Frage nachgehen, welche "Strukturen der Geschlechterordnung" und welche "rechtlich eingerahmten, ethisch sanktionierten oder tolerierten, historisch und sozial geprägten Ausdrucksformen geschlechtlichen Verhaltens" (S. 20) sich in den Quellen niederschlagen.

Allerdings ist die Quellenlage nicht unproblematisch. Abgesehen davon, dass sich die nur spärlich vorhandenen und oft nur einzelne gentes betreffenden Belege zeitlich über mehrere Jahrhunderte streuen, finden sie sich fast ausschließlich in den Schriften griechischer und römischer Autoren. Gerade die Auseinandersetzung mit einer der wichtigsten Quellen für die Geschlechterverhältnisse bei den germanischsprachigen gentes, der "Germania" des römischen Historikers Tacitus (58 – um 120 n. Chr.), zeigt in aller Deutlichkeit, wie stark man bei Berichten über die gesellschaftlichen Verhältnisse bei den "barbarischen Völkern" mit der sogenannten Interpretatio Romana, d.h. einem ethnozentristischen Blick rechnen muss. Dabei gilt es einerseits zu berücksichtigen, dass in der römischen Gesellschaft in Bezug auf das Geschlechtsleben nicht die Geschlechterdifferenz, sondern der soziale Status und die Rolle innerhalb der sexuellen Beziehung maßgeblich sind und andererseits die Charakterisierung der "Barbaren" dem Autor wesentlich dazu dient, die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu spiegeln. Wenn der gesellschaftspolitisch konservativ denkende Tacitus die Germanen als besonders "sittenstreng" darstellt, etwa mit dem Hinweis auf die sexuelle Enthaltsamkeit der Jugendlichen und die vorherrschenden monogamen Eheverhältnisse, hat das weniger mit den Verhältnissen nördlich des Rheins, aber viel mit seiner Kritik an der zumindest in der römischen Oberschicht zunehmenden sexuellen Freizügigkeit zu tun. Auch die aus dem untersuchten Zeitraum stammenden germanischsprachigen oder zumindest in einem germanischsprachigen Umfeld entstandenen Quellen sind nur bedingt aussagekräftig. So ist es bei einer in der einschlägigen Forschung oft zitierten Stelle aus der sogenannten "Ulfila-Bibel", der ersten in einer germanischen Sprache (gotisch) niedergeschriebenen Bibelübersetzung aus dem 4. Jahrhundert, angesichts der komplexen Überlieferungs- und Übersetzungsproblematik nicht einmal ganz sicher, ob die im Zusammenhang mit einem Lasterkatalog genannte Bezeichnung überhaupt auf gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zielt (S. 115) und wenn doch, was genau damit gemeint ist: jegliche Form gleichgeschlechtlichen Verhaltens oder nur die passive Rolle? In den sogenannten leges barbarorum, den seit der Mitte des 5. Jahrhunderts in lateinisch verfassten Rechtstexten der germanischen Nachfolgereiche des Römischen Imperiums, tauchen gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken meistens gar nicht auf oder die Strafnorm (Verbrennen resp. Kastration und Ausschluss aus der christlichen Gemeinde) ist deutlich durch spätrömische und frühchristliche Einflüsse geprägt. Zudem gilt auch hier, dass nicht eindeutig geklärt werden kann, welche Formen gleichgeschlechtlichen Verhaltens tatsächlich sanktioniert werden.

Um dem geschlechtergeschichtlichen Ansatz gerecht zu werden, gibt Mohr nach seinen längeren Ausführungen zu den Quellen und methodisch-theoretischen Fragestellungen einen kurzen Überblick zu Fragen der Ehe und des Eherechts, in dem er vor allem auf die bei allen Unterschieden bei den einzelnen germanischsprachigen gentes primär patriarchalisch strukturierten familienähnlichen Lebensformen hinweist, was abgesehen von einer generellen rechtlichen Schlechterstellung der Frauen und der Abhängigkeit vom Vater resp. vom Ehemann u.a. auch bedeutet, dass im Gegensatz zu den Frauen sexuelle Beziehungen der Männer außerhalb der Ehe strafrechtlich nicht sanktioniert wurden (S. 51). Daneben streift er, wenn auch nur sehr kurz, u.a. Fragen der Promiskuität und der Pubertät. Ebenfalls nur ein kürzeres Kapitel widmet Mohr dem Phänomen des Transvestismus, wobei er sich hier weitgehend auf Fragen rund um die in den Liedern der Älteren Edda mehrfach erwähnte magisch-kultische Erscheinungsform des seidr und die damit in Zusammenhang gebrachten Formen von Schadenszauber, Transvestition, kultischem Geschlechtswechsel und passivem gleichgeschlechtlichem Verhalten konzentriert. Allerdings sind diese Lieder im christianisierten Island des 13. Jahrhunderts niedergeschrieben worden, und auch wenn sich darin "in vielerlei Hinsicht paganes und damit älteres Gedankengut" (S. 36) wiederspiegelt, lassen sich daraus, wie auch Mohr selbst betont, letztlich keine Rückschlüsse auf die Verhältnisse im untersuchten Zeitraum ziehen. Die Auseinandersetzung mit den Liedern der Älteren Edda und einzelnen urnordischen Runen ist denn auch im Wesentlichen der Forschungsgeschichte geschuldet, in der immer wieder solche unstatthaften Rückschlüsse gezogen werden.

In einem etwas umfangreicheren Kapitel über männliches gleichgeschlechtliches Verhalten – Quellen zur weiblichen gleichgeschlechtlichen Sexualität liegen keine vor – diskutiert Mohr die wenigen einschlägigen Belegstellen bei den antiken Autoren. Besonders intensiv setzt er sich dabei mit der von Tacitus in der "Germania" erwähnten Praxis auseinander, u.a. corpore infames ("körperlich Geschändete") als Strafe für ihr Verhalten im Sumpf zu ertränken. Unbestritten ist dabei in der Forschung, dass es sich dabei um Männer gehandelt hat, die in irgendeiner Form "gleichgeschlechtliches Sexualverhalten an den Tag gelegt haben" (S. 67). Während die ältere Forschung in diesem Zusammenhang noch unkritisch von "Homosexuellen" spricht, wird der Begriff inzwischen – u.a. auch mit der methodisch nicht unproblematischen Verknüpfung mit wesentlich jüngeren germanischsprachigen Quellen aus Nordeuropa – mit einem passiven und prostitutiven Sexualverhalten in Verbindung gebracht. Tacitus‘ Bemerkung ist, wie Mohr andeutet, wohl ebenfalls hauptsächlich der Interpretatio Romana geschuldet und hat kaum etwas mit der realen Rechtspraxis der frühen germanischsprachigen gentes östlich des Rheins zu tun. Neben Tacitus‘ Bemerkung zu den corpore infames diskutiert Mohr eine Reihe weiterer Belegstellen, die u.a. entweder in allgemeiner Form davon berichten, dass bei den germanischen gentes gleichgeschlechtliches Verhalten üblich und toleriert gewesen sei, oder spezifisch auf gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken innerhalb kriegerischer Gefolgschaftsverbände hinweisen, wie etwa der im 6. Jahrhundert lebende oströmische Historiker Prokopius, der davon berichtet, dass gleichgeschlechtliche Kontakte unter den Kriegern der Heruler verbreitet gewesen seien, oder der römische Historiker Ammianus Marcellinus (4. Jh. n. Chr.), der davon spricht, dass bei den Taifalen erwachsene Männer und Knaben durch sexuelle Beziehungen miteinander verbunden seien, bis letztere sich durch eine besonders mutige Tat auszeichnen würden. Mohr vermag bei der Diskussion der wenigen und jeweils nur aus einer kurzen Sequenz bestehenden Belegstellen durchwegs sehr differenziert aufzuzeigen, dass diese vor dem kulturellen Hintergrund und den mehr oder weniger offensichtlichen (gesellschafts-)politischen Intentionen der Autoren höchstens indirekt Hinweise auf allfällige gleichgeschlechtliche Praktiken bei den resp. einzelnen germanischsprachigen gentes zu geben vermögen.

Mohrs Studie, in der Sparte "Europäische Hochschulschriften" des wissenschaftlich ausgerichteten Peter Lang Verlages herausgekommen, richtet sich ganz klar an ein akademisches Publikum. Das schlägt sich glücklicherweise nicht im Sprachstil nieder und auch inhaltlich lassen sich seine Ausführungen ohne große Vorkenntnisse gut nachvollziehen. Einzig bei den nicht übersetzten Originalzitaten, insbesondere wenn es sich um Griechisch oder Gotisch handelt, wird es wohl für viele LeserInnen – den Rezensenten mit eingeschlossen – schwierig. Allerdings werden die Quellentexte in der Folge jeweils so ausführlich diskutiert, dass sich deren Inhalt auch für Sprachunkundige erschließt. Überzeugend an der vorliegenden Studie ist vor allem die akribische Auseinandersetzung mit methodisch-theoretischen Fragestellungen, die sich ohne weiteres auf alle vormodernen Quellentexte aus dem Bereich der Geschlechtergeschichte und der Geschichte der Homosexualitäten übertragen lassen. Inhaltlich ist die Studie dagegen nicht ganz so überzeugend. So wirkt das Kapitel über andersgeschlechtliches Sexualverhalten im Wesentlichen dem geschlechtergeschichtlichen Ansatz geschuldet, ohne dass ein klarer Bezug zu den Formen gleichgeschlechtlichen Verhaltens hergestellt wird und Mohrs Fazit aus der Diskussion der antiken Quellentexte, "männliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten sei zumindest bei einigen germanischsprachigen gentes nicht nur verbreitet, sondern auch gesellschaftlich toleriert und als mehr oder minder übliche sexuelle Betätigungsform angesehen worden" (S. 103), ist, folgt man seinen eigenen methodischen Kriterien, nicht nachvollziehbar. Sein Vorwurf an Bleibtreu-Ehrenberg, sie versuche in der Auseinandersetzung mit den Quellen lediglich ihre vorgängig formulierten Thesen zu bestätigen, fällt so in gewisser Weise auf ihn selbst zurück.

[1] Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela: Tabu Homosexualität. Die Geschichte eines Vorurteils, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1978.

[2] Greenberg, David: The Construction of Homosexuality, Chicago: University of Chicago Press 1988.




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