Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.):
Mann für Mann

Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum
 
LIT Verlag, Berlin/Münster, 2010, 2 Teilbände, 1732 S., € 198,90

sorry, no cover

 

Rezension von Ulf Bollmann

Erschienen in Invertito 13 (2011)

Allen Zuwachsraten bei Internet-Lexika wie "Wikipedia" zum Trotz erfreuen sich gedruckte Nachschlagewerke und Prosopographien weiterhin großer Beliebtheit, nicht zuletzt aufgrund ihrer besseren Handhabbarkeit und wegen der dauerhaften Sicherung der gewonnenen Erkenntnisse. Und so liegt auch Bernd-Ulrich Hergemöller mit der Neuauflage seines 1998 erstmals beim MännerschwarmSkript Verlag herausgegebenen biographischen Lexikons "Mann für Mann" im Trend. Mit Unterstützung von Nicolai Clarus, Jens Dobler, Klaus Sator, Axel Schock und Raimund Wolfert präsentiert der Herausgeber seinem staunenden Publikum nunmehr sein im LIT Verlag erschienenes und auf 1732 Seiten angewachsenes zweibändiges Lexikon.

Zum Verständnis der Auswahlkriterien für die aufgenommenen Personen ist ein Studium der Einleitung (S. 2–14) ratsam, wo nicht nur auf die umfangreiche zugrunde liegende Literatur (alphabetisch auf den S. 20–64), sondern auch auf die terminologische Abgrenzung zu anderen Lexika eingegangen wird. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Rezension von Wolfgang Schmale in "Invertito 1" (1999) zur Erstauflage verwiesen, da sich die Kriterien zu Auswahl und Aufbau der Artikel im Wesentlichen nicht verändert haben. Leitend bei der Auswahl der mit Artikeln bedachten Personen, sofern diese sich zur Gegenwart hin nicht ohnehin selbst als "schwul", "homosexuell" oder "urnisch" usw. beschrieben haben, blieben für Bernd-Ulrich Hergemöller Indizien für "mannmännliche Sexualität" und/oder "Freundesliebe" (S. 13). Letzteres bleibt trotz der Streichung von 50 Biographien, bei denen der Herausgeber aufgrund "aktueller Forschungen zu anderen Einschätzungen" gelangt ist, bei manchen der aufgenommenen Biographien trotz der vorgelegten Belege strittig. Gleichwohl bieten die kenntnisreichen Quellenangaben genügend Anhaltspunkte für fruchtbare Diskussionen oder vertiefende Anschlussforschungen.

Die Artikel der Erstauflage wurden zum Teil überarbeitet und aktualisiert. Durch eine Fülle neu ausgewerteter Quellen stieg die Zahl der aufgenommenen Personen von 430 "vollständigen Biographien" und 600 Kurzbiographien ("Biogrammen") auf 700 große und 650 kleine Artikel (S. 13). Diesen 1350 Personendarstellungen schließen sich in einem eigenen alphabetischen Teil die Kurzbiographien von weiteren ca. 470 Männern an (S. 1324–1370), deren Namen Jens Dobler aus gerichtlichen und polizeilichen Fahndungsblättern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ermittelte. Zu Grunde lagen bei diesen seinerzeit gesuchten Personen Verurteilungen nach § 175 oder lediglich der Verdacht, gegen den § 175 verstoßen zu haben. Dadurch erhöhte sich die Gesamtzahl der aufgenommenen Personen auf ca. 1800. Neu hinzugekommen sind auch ca. 350 Illustrationen in Form von Portraitfotografien und Karikaturen, Abbildungen von Grab- und Gedenksteinen sowie von Quellenauszügen.

Zur Gesamtheit der Personen, "deren Leben von gleichgeschlechtlichen oder homosozialen Momenten geprägt sein könnte" (S. 1371), sind noch die Namen derjenigen zu addieren, die ohne eigenen Artikel in anderen Biographien Erwähnung finden und durch Fettdruck, auch im umfangreichen "Index der Personen" (S. 1371–1808), gekennzeichnet wurden. Erneut wartet der Personenindex mit "Sammeleinträgen" unter Stichworten wie "Eulenburg-Kreis", "Freimaurer" oder "NS-Regime, Opfer" auf, wo die darin enthaltenen Personen noch einmal thematisch aufgelistet werden.

Der Indexteil erfuhr ebenfalls eine Erweiterung durch den neu hinzugefügten "Index der Orte" (S. 1609–1701), der nunmehr auch regionalgeschichtlich Forschenden einen schnellen Zugriff auf Personenbezüge zu bestimmten Orten und innerhalb größerer Orte auch zu Stadtteilen und sogar Straßen ermöglicht. Derartige Detailerschließungen bieten RegionalhistorikerInnen wichtige Ansatzpunkte, u.a. für Stadtteilrundgänge.

Wie ist nun dieses Nebeneinander von biographischen Zufallsnotizen (wie etwa den 1990 in der Broschüre "Schwule in Auschwitz" gedachten Opfern des Nazi-Terrors oder den 1998 vom Rezensenten in einer genealogischen Zeitschrift veröffentlichten Namen einiger Hamburger "Sodomiter" der Frühen Neuzeit) und den ausführlichen Biographien zu bewerten? Zunächst drängt sich bei einer solchen Aneinanderreihung der Eindruck des utopischen Versuchs einer namentlichen Gesamterfassung aller verstorbenen "Schwulen" im deutschen Sprachraum auf. Bei genauerer Betrachtung ist es jedoch der weitgehend geglückte Versuch, einer systematischen Erfassung aller in Veröffentlichungen dargestellten Homosexuellen (in der Definition Hergemöllers). Eine solche systematische Zusammenstellung stellt eine nicht gering einzuschätzende Bewahrung verstreut publizierten Wissens dar.

Die Schnelllebigkeit und die historische Vergesslichkeit werden nicht zuletzt am Beispiel der vielen an AIDS verstorbenen Aktivisten der jüngeren deutschen Schwulenbewegung deutlich. Dass den zahlreichen Biographien, u.a. zu den im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, bereits zu dieser überarbeiteten Ausgabe zahlreiche weitere Namen hätten hinzugefügt werden können (z.B. aus der Publikationsreihe der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg zur "Biographischen Spurensuche" über die Stolpersteine verschiedener Stadtteile), soll hier nicht als Mangel beanstandet, sondern als Aufforderung an die schreibende Zunft formuliert werden, diese Hinweise dem Herausgeber zur Verfügung zu stellen.

Auch wenn ein gedrucktes Buch eine dauerhafte Überlieferung wahrscheinlicher macht, bleiben Fragezeichen, ob bei einer auf Zuwachs angelegten biographischen Sammlung eine Drucklegung zukünftig noch zeitgemäß sein wird oder ob stattdessen ein Internet-Projekt an ihre Stelle treten sollte? Zumal einen Preis wie bei diesem Lexikon ohnehin nur wenige große Bibliotheken werden aufbringen können und das Internet mehr Nutzer erreicht. Vielleicht können hier zukünftig Mischformen entstehen?

Für den Rezensenten als bekennender Liebhaber biographischer Lexika bleibt am Ende das Fazit eines gelungenen Nachschlagewerkes, trotz gelegentlich anzuführender Kritik an manchen Auslassungen (etwa fehlen zu Rudolph Moshammer jegliche Quellenangaben), manchen Lücken (bei Felix Rexhausen wäre beispielsweise ein Hinweis auf den nach ihm benannten Journalistenpreis des Bundes lesbischer und schwuler Journalisten angebracht gewesen), manchen Ungenauigkeiten (z.B. hätte sich der Geburtsort Wien des Kardinal-Erzbischofs Groer leicht ermitteln lassen, während sein Sterbeort nicht das "Kloster Marienfeld", sondern St. Pölten ist) oder fehlenden Verweisungen auf biographische Artikel (wie bei Bruns auf Roth oder bei Uz auf Grötzner).

Dass ein Lexikon von Schwulen und über Schwule immer auch ein wenig "Anders als die Anderen" (Lexika) ist, das zeigt die Aufnahme des Sterbedatums der "Hundedame Daisy" (richtig 24.10.2006!) im Artikel über Rudolph Moshammer. Aber das tut der Wissenschaftlichkeit des Gesamtwerks natürlich keinen Abbruch!




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 13