Maria Froihofer / Elke Murlasits / Eva Taxacher (Hg.)
L[i]eben und Begehren zwischen Geschlecht und Identität

Wien: Löcker Verlag 2010, 239 S., € 22

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 12 (2010)

In der Steiermark trieb einst Carmilla ihr Unwesen, eine Vampirin, erpicht auf das Blut junger Mädchen. Ihr Biss bzw. Kuss verhieß ungebremste Begehrlichkeit. Die Geschichte Frauen begehrender Frauen in der Steiermark scheint also weit zurückzureichen. Grund genug, sie zu erzählen. Die Novelle von Carmilla ist aber "nur" eine Erfindung des irischen Autors Sheridan Le Fanu, erstmals publiziert 1872. Zeitlich lässt sich die Handlung nicht genau einordnen, am ehesten ins 18. Jahrhundert. Ganz so weit geht die dokumentierte Geschichte gleichgeschlechtlich begehrender Frauen und Männer in der Steiermark nicht zurück.

Im Format 28 x 22 cm, ansprechend und aufwändig gestaltet, beschäftigt sich der vorliegende Band mit eben dieser Geschichte und mit der Gegenwart les_bi_schwulen Lebens und Liebens in der Provinz: dem Bundesland Steiermark der Republik Österreich. Den Anstoß gab ein Auftrag des für Kultur zuständigen Landesrats der steiermärkischen Landesregierung an das Landesmuseum Joanneum, zusammen mit dem "Grazer Doyen" der schwulen Geschichtsschreibung, Hans-Peter Weingand, eine Ausstellung zum oben genannten Thema zu realisieren. Da es kaum Vorarbeiten gab, waren umfangreiche und kostenträchtige Recherchen nötig. Einbezogen wurden institutionen- und disziplinenübergreifend WissenschaftlerInnen sowie AktivistInnen und ExpertInnen der les_bi_schwulen und der Transgender-Bewegung. Alle Teile des Vorhabens (Archivrecherchen, umfangreiche biografische Interviews und schließlich die Ausstellung) wurden ausreichend finanziell abgesichert. Die Ausstellung wurde unter dem Titel "l(i)eben uferlos und andersrum" vom 16.02. bis 26.10.2010 im Grazer Volkskundemuseum gezeigt.

"Tu felix Austria …" kann man aus bundesdeutscher Sicht dazu nur sagen. Dass deutsche Landesregierungen staatliche Museen beauftragen, ein Projekt zur Geschichte der Homosexualität in einem Bundesland anzugehen und auch zu großzügiger Finanzierung bereit sind, ist doch eher die Ausnahme (auch wenn eine staatliche Beteiligung an den Kosten ähnlicher Projekte nicht mehr ganz ungewöhnlich ist). Die Wiener Ausstellung "geheimsache:leben" (2005, Rezension des Kataloges in Invertito 9 (2007)) hatte ähnlich günstige Bedingungen. Nicht verschwiegen sei hier allerdings auch, dass 2001 ein Ausstellungsprojekt im WienMuseum, dem historischen Museum der Stadt Wien, am Widerstand des Museumsleiters scheiterte. Immerhin gab es auch hier einen opulenten "Begleitband" – siehe die Rezension in Invertito 4 (2002).

Lesbischwule Geschichtsschreibung hat auch in der Steiermark den Schwerpunkt Diskriminierung, Verfolgung, Ausgrenzung. 9 der 18 Artikel des Sammelbandes beschäftigen sich damit. Dokumente zum Alltag gleichgeschlechtlich begehrender Menschen sind selten, umso seltener, je weiter der Blick zurückgeht. Die wissenschaftliche Rekonstruktion dieses Alltags ist entsprechend schwierig. Durch Hörstationen mit Ausschnitten aus den Interviews bot die Ausstellung Einblicke in diesen Alltag. Kurze Ausschnitte aus diesen Interviews finden sich zudem auf vielen Seiten des Begleitbandes.

Der historische Rückblick setzt ein mit Texten zu Richard von Krafft-Ebing (Judith Wiener: Ist Homosexualität eine Krankheit?) und Hans Gross (Jens Dobler: Hans Gross und sein Verhältnis zur Homosexualität) – zwei Grazer Professoren aus der Anfangszeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität. Wiener betont die Zeit- und Normgebundenheit der Erkenntnisse Krafft-Ebings und hält ihm zugute, dass er homosexuelle Menschen vor strafrechtlicher Verfolgung schützen wollte. Dass das nur für die galt, bei denen nachzuweisen war, dass sie trotz individuellem Widerstand ihrem Sexualtrieb unterliegen mussten, ist eine nicht unwesentliche Einschränkung, die Wiener nicht erwähnt. Hans Gross setzte sich, trotz seiner Antipathie gegenüber homosexuellen Menschen, die ihn allerdings nicht an einer punktuellen Mitarbeit am Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen hinderte, eine Zeitlang für die Abschaffung der deutschen und österreichischen Strafbestimmungen in Bezug auf homosexuelle Handlungen ein. Kein Verständnis hatte er allerdings für homosexuelle Belletristik. Die Unterdrückung dieses Schrifttums war für Gross quasi Voraussetzung für eine Kooperation mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee.

Einen Überblick über die Homosexuellenbewegung in der Steiermark gibt Hans-Peter Weingand ("Einer feindlich gesinnten Majorität entgegentreten"). Erste Anfänge nicht der Bewegung, aber von homosexuellem Bewusstsein finden sich in Briefen eines anonymen Steirers an Karl-Heinrich Ulrichs aus den Jahren 1870/71. Die Themen der Bewegung reichen vom Kampf um die Abschaffung des Strafrechtsparagraphen 129 Ib (der in Österreich Männer und Frauen bedrohte) über die öffentliche Thematisierung von Homosexualität bis hin zur Aidsprävention.

Ausführlich wird in drei Aufsätzen die strafrechtliche Homosexuellenverfolgung in der Steiermark von 1920 bis in die1950er Jahre behandelt. Diese Aufsätze konnten sich auf eine umfangreiche Gerichtsaktenerhebung und -sichtung in den Jahren 1988 bis 1991 stützen. Erfasst wurden österreichweit (ohne den Obergerichtsbezirk Innsbruck) über 4000 Fälle von Männern, davon etwa 900 aus der Steiermark, 15 von Frauen (diese 15 Fallfragmente wurden von Neda Bei in einem gesonderten Artikel ausgewertet bzw. rekonstruiert). Aussagen ließen sich u. a. machen über die durchschnittliche Haftdauer (6,9 Monate, während der NS-Okkupation 8,4 Monate; nicht einbezogen sind dabei Schutz- oder Vorbeugehaft), soziale Herkunft (in der NS-Zeit überdurchschnittlich viele Arbeiter, nach dem 2. Weltkrieg überdurchschnittlich viele "Hilfsarbeiter") oder Umstände, die sich auf die Haftlänge auswirkten. Meines Wissens ohne Beispiel in der historischen Forschung ist eine Untersuchung von Joachim Hainzl zu Orten und Treffpunkten homosexuellen Lebens auf dem Land, also außerhalb der Großstadt Graz. Sie basiert ebenfalls auf der genannten Aktenerhebung; da ergänzende Quellen fehlen, darauf weist der Autor ausdrücklich hin, können keine Schlüsse gezogen werden auf das Leben der Homosexuellen, soweit sie von Verfolgung verschont blieben. Diese Einschränkung gilt selbstverständlich auch für die beiden vorher erwähnten Texte zur Homosexuellenverfolgung.

Essays zur Grazer (nicht steirischen) Lesbengeschichte, zu den RosaLila PantherInnen, der lesbisch-schwulen Arbeitsgemeinschaft Steiermark und zu Transgendern in der Steiermark runden im Aufsatzteil den regionalen Aspekt ab. Eingebettet zwischen die Aufsätze sind kurze Selbstdarstellungen der in der Steiermark aktiven Gruppen und Institutionen der LBGT- und Queer-Bewegung. Die historischen Untersuchungen und die Gruppen- bzw. Institutionenporträts ergeben zusammen ein facettenreiches Bild les_bi_schwulen Lebens, Liebens und Begehrens in der Steiermark.

Damit allein ist der Nutzwert dieses Bandes allerdings nicht erfasst: Mehrere Aufsätze gehen über die regionalgeschichtliche Perspektive heraus und liefern Maßstäbe zur Einordnung der Provinzgeschichte in übergeordnete Zusammenhänge. So gibt Hanna Hacker einen knappen Überblick über die Genealogie der homosexuellen Historiografie: lange versuchte diese festzuschreiben, was "wirklich war" und was man noch erkennen konnte von unserer Vorgeschichte. Der "queer turn" der 1990er Jahre drohte zu entwerten, was an Erkenntnissen vorlag. Hacker betont, dass Rezeptionsbrüche und Erinnerungssperren notwendiger Bestandteil jeder Beschäftigung mit Geschichte sind. Nicht das Festschreiben eines Kanons von Schlüsseldokumenten oder die Definition von Homo- in Abgrenzung zur Heteronormativität können deshalb, so Hacker, die Ziele einer Genealogie der homosexuellen Historiografie sein, sondern nur die Untersuchung und Hinterfragung der Strategien, sich der Geschichte gleichgeschlechtlich begehrender Menschen zu nähern.

Die Diskussion um die schwulen und lesbischen Opfer des Nationalsozialismus greift Gudrun Hauer auf. Sie betont die unterschiedlichen Lebenslagen und den unterschiedlichen Verfolgungsdruck für lesbische Frauen und schwule Männer. Denkmale zur Erinnerung an das Schicksal dieser Menschen sieht sie nicht in erster Linie mit deren Opferrolle begründet, sondern für Hauer sind solche Monumente Ergebnis selbstbewusster und selbstbestimmter politischer Aktion zur Besetzung des politischen Raumes (analog zum Christopher Street Day (CSD) als Tag des Gedenkens an den Widerstand gegen die Übergriffe der New Yorker Polizei auf Schwule, Lesben und Transgender). Von den männlichen Diskursteilnehmern fordert sie folgerichtig Verzicht "auf die Ausübung männlicher Privilegien aufgrund des Status des Mann-Seins", gerade weil es bei Erinnerungszeichen um die Herstellung von Sichtbarkeit im öffentlichen Raum geht.

Elisabeth Holzleithner und Nikolaus Behnke zeichnen den mühsamen Weg der Reform der österreichischen "Homosexuellenparagraphen" (in erster Linie § 129 Ib StG) von der Aufhebung des "Totalverbots" gleichgeschlechtlicher Sexualakte 1971 über die Abschaffung des Vereins- und des Werbeverbots 1996 bis hin zum Gesetz über eingetragene Partnerschaften 2010 nach. Der anhaltende Widerstand gegen diese Reform wurde mit dem Schutz der heterosexuellen Orientierung der rechtlich geordneten Gesellschaft begründet. Abenteuerlich noch in den 1970er Jahren die Begründung des Verbots von lesbischen Szenen in Männerpornos: Solche Szenen könnten eine nicht erwünschte Werbewirkung auf die (praktisch ausschließlich) männlichen Konsumenten dieser Filme entfalten.

Nicht alle Texte können hier im Einzelnen vorgestellt werden. Hingewiesen sei zumindest noch auf die Aufsätze von Ines Rieder (über frühe Spuren lesbischer Momente in der Steiermark) und Eva Kuntschner (PorNo versus PorYes über Lesben, Feminismus und Pornographie).

Das ganze Buch durchziehen, wie erwähnt, Interview-Auszüge, die zahlreichen Abbildungen stammen oft aus Privatbesitz. Ein Glossar zentraler Begriffe aus Theorie und Praxis homosexuellen Lebens kann das fehlende Literaturverzeichnis und das fehlende Register nicht ersetzen. Dennoch: Insgesamt ergibt sich ein anschauliches Bild von Geschichte und Gegenwart der LGBTQ-Subkultur in der Steiermark. Subkultur meint hier nicht die oft negativ konnotierten Begriffe "Sub" oder "Szene", sondern es geht um die Gesamtheit der Lebensäußerungen einer Teilgruppe der Gesellschaft, auch wenn dem Alltag, wie oben schon bemerkt, zu wenig Platz eingeräumt wird. Es ist mir klar, dass es schwierig bis unmöglich ist, ihn zu erfassen und zu beschreiben – gerade bei der Gruppe der gleichgeschlechtlich begehrenden Frauen und Männer. Eine letzte Bemerkung aus Sicht der Redaktion: Unter den AutorInnen stellen die Männer eine Minderheit dar und inhaltlich sind lesbische Themen annähernd gleichgewichtig vertreten. Letzteres streben wir auch für Invertito an, erreichen es aber selten.




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