Fabio Ricci
Ritter, Tod & Eros

Die Kunst Elisàr von Kupffers (1872-1942), Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2007, 307 S., € 44,90

sorry, no cover

 

Rezension von Marita Keilson-Lauritz, Bussum (Niederlande)

Erschienen in Invertito 12 (2010)

Von den Theoretikern/Ideologen der Schwulenbewegung um 1900 ist Elisàr von Kupffer wahrscheinlich derjenige, der bislang am wenigsten publizitäre Aufmerksamkeit erhalten hat, sicherlich von Seiten ebendieser Schwulenbewegung. Immerhin: Seine Anthologie Lieblingsminne und Freundesliebe (1900), die Mutter aller späteren schwulen Anthologien, wurde 1995 in der Reihe "Bibliothek rosa Winkel" wieder aufgelegt.[1] Damit war auch die "politisch-ethische Einleitung" zu dieser Sammlung wieder greifbar, die 1899 in Adolf Brands Zeitschrift Der Eigene im Vorabdruck erschienen war. Ansonsten aber blieb es bei Erwähnungen hier und da und einem inzwischen überarbeitungsbedürftigen Artikel in Hergemöllers unerschöpflichem Handbuch Mann für Mann.

Kupffers Malerei, in schwulem Kontext mindestens so interessant, und sein Tempel-Konzept fanden in den 1970er Jahren durch die Initiative des Kunsthistorikers Harald Szeemann Eingang in das Projekt der Ausstellung Monte Verità.[2] Anschließend wanderte Kupffers großes Rundgemälde "Die Klarwelt der Seligen" durch diverse Ausstellungen. In der lokalen schwulen Szene am Lago Maggiore gab es zudem kleinere Initiativen, dem Kupffer-Erbe Geltung zu verschaffen.

Man kann trotz alldem wohl ohne Übertreibung sagen, dass Fabio Ricci mit seiner kunsthistorischen Monografie zur Kunst Elisàr von Kupffers, die 2007 bei Böhlau erschienen ist, Bewegung in die festgefahrenen Strukturen der Nachlassverwaltung gebracht hat.[3] Der scheinbar bei Dürer und seinem Blatt "Ritter, Tod und Teufel" anknüpfende Titel Ritter, Tod & Eros[4] verweist zu Recht auf drei Motive in Kupffers Denken und seiner Kunst – weniger freilich fasst er Inhalt und Annäherungsweise des überaus nützlichen und informationsreichen Buches.

Der Kunsthistoriker Ricci, der hier die überarbeitete Fassung seiner Dissertation vorlegt, hat sich – abgesehen von den Hinweisen zu Kunsttheorien der Romantik und zur Arkadien-Thematik des 19. Jahrhunderts – mit gutem Grund nicht für eine diachronische Einbettung in die deutsche Kunst- und Ideengeschichte entschieden, sondern für eine synchrone Einbettung in die zeitgenössische Denk- und Vorstellungswelt: nach einleitender, knapper Behandlung des Forschungsstandes, der Biografie Kupffers und seines Lebenspartners Eduard von Mayer und der Geschichte des "Elisarions" – d. h. des inzwischen meist so genannten Bauwerks – seit dem Tode der beiden Freunde, wendet sich Ricci dem damaligen Kontext des Aufbruchs zu neuen Religionen zu, der Säkularisierung und Verwissenschaftlichung des Denkens, wie sie in Monismus und Lebensreform(en) Ausdruck fanden. Das erweist sich für das Verständnis der von Kupffer und Mayer entwickelten Sozialutopie, die sie "Klarismus" nannten, als durchaus nützlich. Auch die relativ knappe kunsttheoretische Behandlung geschieht vor allem im Blick auf neureligiöse und monistische Theoreme ("Rhythmostropismus").

Das umfangreichere Kapitel zur Einbettung in die geschlechtertheoretischen Diskurse der Zeit ist zugespitzt auf Kupffers Idee des "Araphroditen", einer Art Integration von weiblicher Anmut in ein männliches Konzept, wobei naturgemäß der Nachdruck auf dem "tranzendalisierten" Eros-Modell und parallelen Modellen von Androgynie liegt. Von Hirschfelds Zwischenstufe, die er als Feminisierung des Mannes empfindet, grenzt Kupffer seinen Araphroditen nachdrücklich ab. Man könnte, Ricci fortführend, vielleicht sagen, dass, während Hirschfelds "Zwischenstufe" zwischen der Idee "männlich" und "weiblich" die Realität der endlosen Reihe von Realisationen aufsucht, Kupffer jenseits der Idee den utopischen Körper entwirft. Es wäre interessant zu überlegen, wie diese beiden Modelle heute unter dem Blickwinkel von Queer Theorie und Transgender-Konzepten aussehen.

Auf Riccis Einbettung in gesellschaftshistorische, kunsttheoretische und geschlechtertheoretische Kontexte folgt als Hauptteil die Erörterung der Realisation der Kupfferschen Vorstellungen im sogenannten "Sanctuarium Artis Elisarion", das trotz erheblicher Eingriffe in Minusio am Lago Maggiore bis auf den heutigen Tag zu besichtigen ist, und im Gemälde "Die Klarwelt der Seligen", das dort ursprünglich seinen Platz hatte, beinahe zerstört und von Harald Szeemann gerettet wurde und heute unter etwas problematischen Bedingungen in einem eigens dazu errichteten Holzbau auf dem Monte Verità zugänglich ist.

Ricci beschreibt anschaulich die Baugeschichte und die – inzwischen verlorene – Inneneinrichtung des merkwürdigen, Tempel, Museum/Galerie und Wohnhaus vereinigenden Gebäudes, das heute der Gemeinde Minusio als Kulturzentrum dient.[5] Im abschließenden Kapitel bemüht er sich um eine Analyse des riesigen Rundgemäldes "Die Klarwelt der Seligen", auf dem 84 un- oder allenfalls spärlich mit Strumpfband und Schleier bekleidete Araphroditen sich in arkadischer Landschaft in allen vier Jahreszeiten tummeln. Dankenswerterweise ist sowohl das Rundgemälde als auch der ursprüngliche Zustand des Gebäudes in einem z. T. farbigen Abbildungsteil dokumentiert, dem sich noch ein knapper Teil mit Exkursen und ein Anhang mit einigen zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen sowie ein Literaturverzeichnis anschließen, aber leider kein Register.

Es war sicherlich keine einfache Aufgabe, eine adäquate Darstellungsweise zu finden, die auch dem Leser oder Betrachter des 21. Jahrhunderts noch einen Zugang zur Vorstellungswelt Kupffers vermitteln kann. Außer der Nähe zu der in der Geschichte der Schwulenbewegung ohnehin als problematisch empfundenen Gruppe um den Wilhelmshagener Aktivisten Adolf Brand (von der Kupffer sich dann doch wieder distanziert, die aber ihrerseits Kupffers Schlagwort von der "männlichen Kultur"[6] aufgenommen und auf ihre Weise fortgeschrieben hat), ist da eine verdächtige Nähe zu eugenischem und rassistischem Gedankengut. Fabio Ricci ist es, wie mir scheint, gelungen, hier durch die Einbettung in die diversen zeitgenössischen Diskurse, Kupffers Position plausibel zu machen – auch dort, wo man Kupffers Gedankengut nicht mehr teilen möchte, namentlich wo er sich im "präfaschistischen Dschungel" (S. 3) verirrt.

Einige kleine Ergänzungen[7] würde man hinzufügen, einige kritische Fragen würde man stellen können. Die erste Ergänzung wäre zeitgeschichtlich-kulturgeschichtlicher Art und während ich sie hier an die erste Stelle setze, bin ich mir einer gewissen Mitschuld an diesem missing link bewusst. Noch im Anfangsstadium seiner Recherchen nämlich hatte Fabio Ricci bei mir (geboren in Tallinn/Reval, also baltendeutsch wie Kupffer und sein Lebenspartner Eduard von Mayer) angefragt, ob ich denn etwas "typisch Baltisches" bei diesen beiden Herren erkennen würde. Nein, meinte ich etwas vorschnell, da fiele mir eigentlich kaum etwas ein. Erst viel zu spät, nach der Lektüre des Buches wurde mir klar, dass es unter Kupffers Motiven jedenfalls eines gab, das aus dem Wurzelgut baltischer Geschichte stammte: die Vorliebe für die "Ritterschaften" (so heißen die baltischen Adelsvereine noch heute) und für die Welt des Deutschherrenordens.[8] Dieser Mangel wird in der Titelgebung des Buches immerhin einigermaßen wettgemacht.

Eine zweite Ergänzung impliziert zugleich eine kritische Frage: Während Fabio Ricci mit Recht davon ausgeht, dass ein schwuler Dichter, Maler und Denker nicht unbedingt einen schwulen Blick auf die Welt entwickeln muss, will es mir so vorkommen, als spielte dies im Falle Kupffer doch eine etwas wesentlichere Rolle, als es aus der vorgelegten Darstellung sichtbar wird. Ich würde also dafür plädieren, das architektonische und das Gedanken-Gebäude des Elisarions und der zugehörigen utopischen "Klarwelt" doch auch als Versuch zu werten, der eigenen Neigungsrichtung einen Ort in der überwiegend schwulenfeindlichen "Wirr-Welt" (ein Ausdruck dessen sich Kupffer bedient, um die Unbill der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzudeuten) zu geben. Oder anders gesagt: als einen Versuch, männer- (oder eigentlich richtiger: knaben-)liebende Dispositionen in einen Weltentwurf einzufügen, in dem sie nicht als emanzipatorisch mühsam erstritten, sondern als selbstverständlich und sogar grundlegend erfahren werden.

Aber vielleicht kann man auch konstatieren, dass es genau dieser Aspekt ist, den Fabio Ricci in seine Darstellung aufgenommen hat: auch in seinem Buch ist die Männer- bzw. Knabenliebe eher selbstverständlicher Hintergrund als Gegenstand analysierender Erörterung. Und da würde sich dann die Methode als adäquat erweisen, während zugleich dem Denken Kupffers jenseits aller Kuriosität eine erhebliche Plausibilität zugestanden würde.

Andrerseits ist wohl gar nicht zu bestreiten, dass Kupffer und sein Gefährte Eduard von Mayer mit ihrem Denken, Dichten und Wirken Teil der schwulen Geschichte sind. Nicht nur, weil wir Kupffer die erste schwule Anthologie verdanken (siehe oben) und beide auch sonst sowohl in der Zeitschrift Der Eigene als auch in Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit substantiellen Beiträgen vertreten sind, sondern auch, weil sie das vielleicht sichtbarste Zeugnis schwulen Lebens (auch wenn sie es natürlich so nicht genannt haben würden) hinterlassen haben: eben das merkwürdige, aber doch auch bemerkenswerte "Sanctuarium Artis Elisarion". Nicht nur auf Kupffer und Mayer, sondern auch auf deren Hinterlassenschaft einschließlich der schwierigen Geschichte aufmerksam gemacht zu haben, gehört neben allen wichtigen inhaltlichen Aspekten zum Verdienst dieses Buches und seines Autors.

Zu den nützlichen Folgen seiner intensiven Recherchen im Kupffer-Nachlass, der sich nach wie vor im Haus an der Via Rinaldo Simen befindet und dort der Auswertung mehr oder weniger offen steht, und seiner zielstrebigen Edition des Buches bei einem so renommierten Verlag gehört nicht zuletzt die Gründung des Vereins Pro Elisarion im Dezember 2008, auf dessen Website www.elisarion.ch hier denn auch nachdrücklich hingewiesen sei. Über diese Website ist notfalls auch alles Einschlägige über Besichtigungsmöglichkeiten, Forschungsdesiderate und natürlich die Ziele des Vereins in Erfahrung zu bringen.[9]

Die Frage ist m. E. gar nicht, ob Elisàr von Kupffer ein großer Dichter war (eher nicht, würde ich sagen) oder ein bedeutender Maler (Fabio Ricci hält ihn für eher epigonal und eklektisch, was mir unnötig abwertend vorkommt). Wichtig scheint mir, dass er etwas höchst Bemerkenswertes hinterlassen hat, etwas von "nationaler Bedeutung", wie unlängst ein Schweizer Betrachter angesichts des Rundbildes bemerkt haben soll. Und jedenfalls etwas, was in die schwule Geschichte eingeschrieben zu werden verdient.

Man muss nicht unbedingt in Kupffers Lehre von der Klarwelt eintauchen, um zu sehen, welch wichtigen Platz diese Nachlassenschaft in der Geschichte der Schwulenbewegung – und gewiss nicht nur der schweizerischen! – einnimmt oder doch einnehmen sollte. Man kann Kupffers utopische Araphroditen ernst nehmen; man kann sie auch – wie mir scheint – mit einem etwas distanzierten Augenzwinkern als historisches Kuriosum ("queer" oder "camp", je nach Bedarf) betrachten. Dass sie bewahrt werden müssen, dass wenn möglich Gebäude und Nachlass im Einverständnis mit der Gemeinde Minusio wieder auf eine verantwortbare Weise rekonstruiert und als Kupffers Erbe zugänglich gemacht werden sollten, das sind in etwa die Ziele der inzwischen auf bewundernswerte Weise von einem wichtigen Teil der Schweizer Schwulenbewegung getragenen Bemühungen.[10] Dazu den Anstoss gegeben hat ohne jeden Zweifel Fabio Ricci mit seiner verdienstvollen Recherche und seinem lesens- und bedenkenswerten Buch.

 

[1]   Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur. Eine Sammlung mit einer ethisch-politischen Einleitung von Elisarion von Kupffer. Nachdruck der Ausgabe von 1900, Vorwort von Marita Keilson-Lauritz, Berlin: Verlag rosa Winkel 1995
[2]   Vgl. Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Milano: Electa Editrice 1980, zu Kupffer vor allem S. 93ff.
[3]   Sehr verkürzt zusammengefasst: Kupffer und sein Lebensgefährte hatten ihren Besitz dem Kanton bzw. der Gemeinde Minusio vermacht, mit der Auflage, das Sanctuarium zu erhalten und öffentlich zugänglich zu machen. Das wollte aus verschiedenen, z. T. weltanschaulichen Gründen nicht recht glücken
[4]   Zu Kupffers Faszination durch den Tod vgl. u. a. die Abb. 53 und 54. Der Titel ist übrigens einem Vortrag von Kupffers Lebensgefährten Eduard von Mayer entnommen (S. 75, Anm. 289). – Die Rolle Eduard von Mayers, dessen Philosophie m. E. bei Ricci vielleicht doch zu sehr mit derjenigen Kupffers gleichgesetzt wird, ist eigentlich ein Kapitel für sich. Im notwendigerweise wohl unvollständigen Literaturverzeichnis fehlt unter den Mayer-Publikationen jedenfalls der wichtige frühe Band Die Lebensgesetze der Kultur, Halle: Niemeyer, 1904
[5]   Centro culturale Elisarion, Via Rinaldo Simen 3, CH-6648 Minusio-Locarno
[6]   Vielleicht habe ich es ja überlesen, aber es scheint mir, als übergehe Ricci den interessanten Umstand, dass das Konzept der "männlichen Kultur" im Umkreis des Eigenen, das er auf S. 84 im Zuge der Einbettung in die geschlechtertheoretischen Diskurse sozusagen als Hintergrund für Kupffers Gedankengebäude anführt, eben gerade durch Kupffer selbst formuliert worden war, nämlich in der im Eigenen 1899 erschienenen "ethisch-politischen Einleitung" zu der erwähnten Anthologie. Dass sich im Folgenden dann Kupffers Männlichkeitskonzept von dem, was im Eigenen daraus wurde, erheblich unterscheidet, ist eine andere Sache, die womöglich gründlicher Analyse bedürfte
[7]   Rein sachliche Ergänzungen oder Richtigstellungen gäbe es auch noch ein paar: Auf S. 103 ist von zwei "Artikeln" von David Luschnat im Eigenen die Rede; es handelt sich um Gedichte; zu S. 104, Anm. 531: Das Exemplar von Carpenters Ioläus mit der Widmung an Kupffer steht im Elisarion im Eingangsbereich im Bücherschrank; während der Arbeitssitzung 2008 haben wir es dort in Augenschein nehmen können
[8]   Diese Thematik spielt eine große Rolle bei einem anderen Balten, der in die Nähe der frühen Schwulenbewegung gerückt wurde – eben wegen der "urnischen" Stellen in seinen die Deutschherrenritter-Welt genüsslich ausmalenden Romanen: Alexander von (Ungern-)Sternberg. Vgl. dazu: Karsch-Haack, Ferdinand: A. von Sternberg, der Romanschreiber, in Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 4 (1902) S. 458-571, ab S. 474 Zitate unter dem Titel "Die urnischen Stellen", S. 512-517 aus "Die Ritter von Marienburg"
[9]   Dort sind zahlreiche Abbildungen abzurufen, z. T. soweit ich sehe aus dem vorliegenden Band. Übrigens sei bei dieser Gelegenheit doch auch auf den reich ausgestatteten, italienischsprachigen Band von Graziano Mandozzi hingewiesen: Elisarion. Un Santuario per il Clarismo, Comune di Minusio 1996
[10]   Die jüngsten Berichte aus Locarno stimmen zuversichtlich. Zunächst soll zumindest der große Bestand an Fotografien geordnet und aufgearbeitet werden. Und sogar hinsichtlich der Rückkehr des Rundbildes an seinen angestammten Ort im Elisarion scheinen die Sterne inzwischen günstiger zu stehen als je zuvor




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