Angela Steidele
Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens

Berlin: Insel-Verlag 2010, 336 S., € 24,80

sorry, no cover

 

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 12 (2010)

" (...) ich liebe Dich, fest, offen, innig, ich achte Dich hoch, ich vertraue auf Dich ohne Rückhalt, ohne Irrung, ohne Ende. " – eine wundervolle Liebeserklärung, am 8. März 1836 von Sibylle Mertens (1797–1857) geschrieben, gerichtet an Adele Schopenhauer (1797–1849).

Angela Steidele erzählt auf der Basis Tausender Briefe und Tagebuchblätter in ihrer faszinierenden Doppelbiografie die Geschichte der Liebe der beiden Frauen auf einfühlsame Art und Weise und bettet die Beziehung gleichzeitig kenntnisreich in den historisch-politischen wie gesellschaftlichen Kontext der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein.

Neben den beiden Frauen begegnen dem Leser bzw. der Leserin unter anderem Schriftstellerinnen wie Annette von Droste-Hülshoff oder Anna Jameson, Philosophen wie Arthur Schopenhauer, der Johann Wolfgang von Goethe, dessen Schwiegertochter Ottilie von Goethe. So entsteht neben den beiden Biografien gleichzeitig auch ein Bild der intellektuellen Elite jener Zeit.

Sibylle Mertens Schaafhausen, 1797 als Tochter eines reichen Bankiers in Köln geboren, musikalisch hochbegabt, intelligent und selbstbewusst, war eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit: Musikerin, Komponistin, Archäologin, Antikensammlerin und Mäzenin. Im Alter von 19 Jahren wurde sie 1816 in der damals üblichen arrangierten Weise mit dem 16 Jahre älteren Kaufmann Johann Ludwig Joseph Mertens verheiratet. Die Ehe, aus der zwischen 1817 und 1827 sechs Kinder hervorgingen, verlief von Beginn an unglücklich.

Adele Schopenhauer wurde ebenfalls 1797 als zweites Kind von Heinrich Schopenhauer und Johanna Trosiener in Hamburg geboren, beide entstammten Danziger Kaufmannsfamilien; Adeles Bruder war der bekannte Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860).

Ein Jahr nach dem (Frei-)Tod des Ehemanns im Jahre 1805 zog Johanna Schopenhauer mit ihrer damals neunjährigen Tochter Adele nach Weimar – ihr Salon entwickelte sich zur guten Stube der Weimarer Klassik in ihrer Spätphase. In dieser intellektuell anregenden Umgebung wuchs Adele auf, ihre Mutter legte großen Wert auf eine systematische und umfassende Bildung der Tochter; Goethe wurde zu einer Art Ersatzvater für Adele, der sie sogar für seine Theaterprojekte engagierte.

Adeles erste große Liebe war Ottilie von Pogwisch, die im Jahre 1817 Goethes Sohn August heiratete. Für Ottilie war Adele die beste Freundin, während Adele sich hingegen als Ottilies Liebhaberin betrachtete.

Als die Ehe von Ottilie und August bereits nach knapp zwei Jahren zerrüttet war, stellte sich die frühere Vertrautheit zwischen Adele und Ottilie bald wieder her. Im Laufe ihrer Freundschaft zeigte sich aber deutlich, dass Ottilie heutiger Begrifflichkeit nach heterosexuell war, sich immer wieder aufs Neue in Männer verliebte, während Adele – um Ottilie weiterhin nahe zu sein – die Rolle der mitwissenden besten Freundin übernahm, bis sie sich irgendwann frustriert eingestehen musste, dass ihre Freundin unter Frauenfreundschaft niemals eine innige, eheähnliche Beziehung verstehen würde, die sie selbst sich erhoffte.

Zehn Jahre später, 1827, sah sich Adele Schopenhauer mit einer gescheiterten Beziehung zu Ottilie, einer kranken, eigensüchtigen Mutter sowie finanziellen Problemen konfrontiert. Ein Versuch, sich in eine Ehe zu flüchten, war ebenfalls gescheitert. Adele reiste ins Rheinland, nach Köln, und traf dort im Januar 1828 in Mertens’ Salon zum ersten Mal auf Sibylle – der Beginn einer 21 Jahre währenden Beziehung mit Höhen und Tiefen.

Beide Frauen waren zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt: Sibylle seit 12 Jahren unglücklich verheiratet, offen, lebenshungrig und neugierig, Adele stand vor einem Neuanfang, aber noch mit ihrer unglücklichen Liebe zu Ottilie befasst. Es war Sibylle, die um Adele warb, sie einlud, sie und ihre Kinder auf den Auerhof, ein idyllisches Landgut direkt am Rhein zu begleiten.

Adele erkannte zunehmend, dass sie Ottilie idealistisch überhöht hatte und mit Sibylle tatsächlich ein gemeinsames Leben führen konnte, das allerdings mit ihren familiären Abhängigkeiten vereinbar sein musste: bei Sibylle der Ehemann und sechs Kinder, bei Adele die Mutter.

Adele reiste zurück nach Weimar und überzeugte ihre Mutter, mit ihr an den Rhein zu ziehen, während Sibylle für die beiden nach einer vor allem finanziell passenden Wohnung suchte. Schließlich bot sie den beiden den Auerhof zur Miete an, aber weit unter Preis. Der Garten sollte den Schopenhauers gehören, der Weinberg den Mertens; ausschlaggebendes Argument für Sibylle war, dass sie sich auf dem Auerhof ein Zimmer vorbehalten konnte und so eine ständige Übernachtungsmöglichkeit bei der Freundin hatte. Im Mai 1829 waren die beiden Frauen schließlich auf dem Zehnthof vereint.

Woher wissen wir, dass es sich um eine mehr als nur freundschaftliche Beziehung handelte? Angela Steidele lässt zahlreiche Briefe sprechen, u.a. auch ein Gedicht Adeles, das Sibylle ihr Leben lang aufbewahrte, und das nahelegt, dass die beiden Frauen sich tatsächlich "heirateten":

"Mit einem Ringe an S.
 
Mein Liebchen ist ein kleines Ding,
Reicht grade mir zum H e r z e n,
Ich faß‘ es mit dem kleinen Ring,
Es ist mir nicht zum Scherzen!
Juwelen, Perlen sind ja k l e i n,
Drum faßt man sie in Ringe ein.
 
Ein großer Ring faßt uns’re Welt
Mit noch viel Tausend andern,
Sie blitzen in dem lichten Feld
Des Rings, den sie durchwandern –
Du aber bleibst nun meine Welt
Im Ring, der uns zusammenhält."
(S. 87)

Und wie reagierte die Umwelt auf diese Beziehung, vor allem Sibylles Ehemann, Louis Mertens, und Adeles Mutter? Mertens konnte seiner Frau zwar keinen Ehebruch vorwerfen, weil der damals geltende Code Napoléon Ehebruch der Frau mit einer Liebhaberin nicht kannte, aber er betrachtete Adele dennoch als enormen Störfaktor seiner Ehe, zumal das Indiz, dass Sibylle nach 1838 nicht mehr schwanger wurde, darauf hinweisen könnte, dass sie ihren "ehelichen Verpflichtungen" seit der Bekanntschaft mit Adele nicht mehr nachkam. Für die Gesellschaft außerhalb der Familie war besonders die Tatsache skandalös, dass Sibylle sich kaum mehr an der Seite ihres Mannes zeigte und ihre Kinder vernachlässigte, denn Adele wurde ja nicht offiziell als Geliebte gesehen. Sie war "nur" die Freundin.

Kann man Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens also als lesbisch bezeichnen? Angela Steidele verneint die Frage, denn die lesbische Identität, die viele Frauen liebende Frauen im 20. Jahrhundert entwickelten, basiert auf Voraussetzungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch lange nicht gegeben waren. So fehlte die bürgerliche Autonomie der Frau, die rechtlich wie gesellschaftlich und ökonomisch nur durch ihren männlichen Vormund, den Vater oder eben den Ehemann, existierte. Für Angela Steidele steht fest: "Lesben, die aus der Liebe zu Frauen das eigene Selbstverständnis ableiten, konnten Sibylle Mertens und Adele Schopenhauer historisch noch nicht sein. Sie lebten an der Schwelle der sexuellen Moderne und entwickelten, erprobten und durchlitten die neue lesbische Identität paradigmatisch mit." (S. 93).

Die Beziehung zwischen den beiden Frauen blieb nicht frei von Krisen. So war Adele eifersüchtig auf Annette von Droste-Hülshoff, die bei einem ihrer Besuche im Rheinland 1831 Sibylle rührend und aufopferungsvoll pflegte, während Adele sich um ihre Mutter kümmern musste. Als Sibylle Annette, von dieser wurde sie liebevoll "mein kleiner schwarzer Araber" genannt, zum Dank einlud, sie auf eine Reise an den Genfer See zu begleiten, schrillten bei Adele die Alarmglocken und sie fürchtete, Sibylle ganz an die Konkurrentin zu verlieren. Und so kämpfte sie – erfolgreich – um ihre Freundin, indem sie Annette von Droste-Hülshoff resolut die Meinung sagte. Die anvisierte Reise fiel dann aus anderen Gründen ins Wasser, aber Sibylles Nähe zu Annette schockierte Adele nachhaltig. Für Sibylle Mertens war die erste Euphorie offenbar vorüber. Ende 1833 – so lässt sich aus Adeles von rasender Eifersucht diktierten Briefen entnehmen – hatte Sibylle eine Affäre mit der irischen Schriftstellerin Anna Jameson (1794–1860). Auseinandersetzungen mit Louis Mertens, die Bindung an ihre Mutter, eine unglücklich verlaufende Beziehung zu einem Juristen namens Martius: Adele hatte Sibylle immer noch "von Herzen lieb" (S. 124), aber vom Traum eines gemeinsamen Lebens mit ihr hatte sie sich verabschiedet. Zwischen 1835 und 1842 lebten die beiden Frauen schließlich getrennt voneinander. Sibylle Mertens verbrachte die Zeit zwischen Juni 1835 und Juli 1836 in Genua, wo sie eine innige Liebesbeziehung mit Laurina Spinola führte. Zeitgleich schrieb sie ab November 1835 ein Tagebuch, das sich zu einer direkten Rede an Adele wandelte und in dem sie so innig mit Adele zu leben begann, wie in der Wirklichkeit auf dem Auerhof schon längst nicht mehr. Der realen Freundin dagegen schrieb sie keine Briefe, so dass der Kontakt zwischen den beiden Frauen vorübergehend abbrach. Während also Sibylle ein Jahr Ferien mit Laurina verbrachte und frei von allen ehelichen Zwängen, kaum belastet von Kindern und Haushalt ihre Freiheit genoss, fühlte sich Adele von Sibylle umfassend enttäuscht: Sie hatte keine Ferien von ihrem Alltag, der geprägt war von finanziellen Problemen und den Sorgen um die alternde Mutter. Nach Adeles Verständnis war auf Sibylle kein Verlass; das Jahr in Genua hatte sie ihr weiter entfremdet. So kehrte Adele dem Auerhof enttäuscht den Rücken und zog mit ihrer Mutter, welcher der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach eine Pension bewilligt hatte, nach Jena. Als Johanna Schopenhauer im April 1838 starb, bedeutete das neben der Trauer auch Erleichterung für Adele, da sie nun endlich in der Lage war, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sibylle lud sie auch gleich ein, wieder mit ihr zusammenzuleben, aber Adele lehnte voresrt ab. Zudem war im März 1838 Laurina Spinola gestorben. Das Tagebuch, das Sibylle Mertens kurz darauf begann, war einzig Laurina, ihrer Liebe, ihren Erinnerungen und ihrem Leid gewidmet. Für Angela Steidele stellt dieses Tagebuch ein einzigartiges Dokument dar, da Sibylles Reflexionen über die Art ihrer Liebe einen seltenen Blick auf die Selbstsicht einer Frauen liebenden Frau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlaubt: "Sie liebte Frauen anders, als sich die Theoretiker der keuschen Weiblichkeit Frauenfreundschaften so dachten – ohne freilich selbst ein Wort, einen Begriff dafür zu haben. Sie wusste nur, dass sie die Leidenschaft ihrer Liebe zu Frauen verbergen musste. (...) Gefangen in den Bildern und Vorstellungen ihrer Zeit träumte sie sich Laurina als den Mann ihres Lebens." (S. 158)

Während sich in den folgenden Jahren um Sibylle Mertens, genannt "die Rheingräfin" (S. 173), in Bonn ein kulturelles, wissenschaftliches, mäzenatisches und gesellschaftliches Zentrum bildete, wurde Adele Schopenhauer nach und nach zu einer gefragten Schriftstellerin und Journalistin. Im Juni 1842 schließlich schrieb Adele Sibylle ihren großen Wiederannäherungsbrief: Wohl auch im Bewusstsein ihrer angegriffenen Gesundheit sprach sie ihre Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben aus. Als im August 1842 Louis Mertens starb, fand sich Sibylle von einer großen Last befreit. Trotz Adeles angegriffenem Gesundheitszustand, der sich auch durch mehrere Kuren in Karlsbad kaum besserte, trafen sich die beiden Frauen im Herbst 1844 in Genua, wohin Sibylle vorausgereist war und verbrachten schließlich ab November 1844 eine längere gemeinsame Zeit in Rom. Aber es war ihnen nicht vergönnt, zur Ruhe zu kommen, da Sibylles Kinder diese mit Erbprozessen überzogen, die Sibylles Anwesenheit in Bonn notwendig machten, während Adele zunächst in Italien blieb und u. a. einen Florenz-Reiseführer vorbereitete. Im Sommer 1848 schließlich planten die beiden Frauen, die nun die 50 überschritten hatten, ihren gemeinsamen Lebensabend: Sie hatten vor, die Winter in Rom zu verbringen. Doch Adeles angegriffene Gesundheit machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Ihr Zustand verschlechterte sich dramatisch, Sibylle, die in Rom Vorbereitungen für ihren gemeinsamen Hausstand traf, schaffte es nur mit Mühe, die belagerte Stadt zu verlassen. Zurück in Deutschland traf sie die schwerkranke Adele in Weimar an, brachte sie von dort nach Bonn und wich bis zu Adeles Tod am 25. August 1849 nicht von ihrem Sterbebett. Sibylle kümmerte sich um den Nachlass Adeles und betrieb in der Folge hauptsächlich altertumskundliche Forschungen. Schließlich hielt sie es in Bonn nicht länger aus, wo sie weiterhin Erbstreitigkeiten mit ihren Kindern austragen musste. Sie zog im Dezember 1856 nach Rom und starb dort am 22. Oktober 1857. Ihre Bibliothek, ihre Kunstschätze und ihre Münzsammlung wurden versteigert und so in alle Winde verstreut.

Angela Steidele hat die Geschichte der Liebe zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens akribisch rekonstruiert. Entstanden ist auf diese Weise eine mitreißende, von der ersten bis zur letzten Seite fesselnde Doppelbiografie zweier außer-, ja ungewöhnlicher Frauen und ihrer Liebe zueinander. Der Autorin gelingt es, die Lebenswege beider Frauen und der Menschen ihres engeren sozialen Umfelds in den politischen und gesellschaftlichen und vor allem auch literarischen Kontext ihrer Zeit einzubetten und so ein umfassendes Bild der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen zu lassen.




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