Heinz-Jürgen Voß
Making Sex Revisited

Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld: transcript 2010, 466 S., € 34,80

sorry, no cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 12 (2010)

In seiner Dissertation untersucht Heinz-Jürgen Voß mittels diskursanalytischer Vorgehensweise, wie das biologische Geschlecht in naturphilosophischen und biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien in Europa bzw. in der westlichen Welt sozial konstruiert wurde und wird. Voß versteht seine interdisziplinäre Untersuchung als Beitrag zur Dekonstruktion von Geschlecht aus biologisch-medizinischer Perspektive. Damit liefert er eine breit angelegte Studie, die die gerade in der Queer Theory grundlegende These der Konstruktion des biologischen Geschlechts in den neuzeitlichen und modernen Fachdisziplinen dezidiert zu bestätigen vermag. Sein Blick geht dabei in die griechische und römische Antike zurück, das Mittelalter wird kurz überflogen, Renaissance und Aufklärung werden ausführlich betrachtet, während der Fokus auf der Entwicklung von Geschlechtertheorien vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart liegt. Auf breiter Quellenbasis untersucht Voß vornehmlich den Prozess der Konstruktion von Geschlecht durch teil- und fachübergreifende Disziplinen der Biologie und Medizin auf Grundlage gesellschaftlicher Vorstellungen von Geschlechtlichkeit. Hierbei stehen die biologisch-medizinischen Theorien bzw. Forschungen im Vordergrund, werden aber in Bezug zu allgemeinen zeitgenössischen Geschlechterdiskursen gesetzt.

Voß’ wissenschaftliche Leistung liegt darin, zu zeigen, wie im neuzeitlichen und modernen wissenschaftlichen Diskurs der Biologie und Medizin das biologische Geschlecht konstruiert wurde, dies wird besonders auch durch die Betrachtung des Umgangs mit Intersexualität deutlich (Kapitel 2 und 3). Der Blick auf die jeweils herrschenden Geschlechterordnungen bleibt dabei aber für alle von ihm untersuchten Zeiträume ein flüchtiger und selektiver, weil der Stellenwert unterschiedlicher Positionen nicht betrachtet wird. Zwar verweist Voß in der Einleitung auf die Schwierigkeit, gesellschaftliche Einstellungen zum Thema Geschlecht für jene Epochen zu erfassen, aus denen nur wenige Quellen vorliegen und in denen nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten. Ein Instrumentarium entwickelt er dafür jedoch nicht, obwohl er dann in den betreffenden Kapiteln doch einzelne (zumeist wohl bekannte) Stimmen des Diskurses zu Wort kommen lässt, ohne immer deutlich zu machen, welchen Stellenwert sie für die aktuelle wissenschaftliche Diskussion haben und welche Reichweite sie hatten. Dies gilt insbesondere für die Antike, das Mittelalter und die Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Heinz-Jürgen Voß hat seine Studie allein schon durch die Länge des Untersuchungszeitraums sehr breit angelegt. Hier sollen die Kapitel, die sich mit der Geschichte von Geschlechterkonstruktionen beschäftigen, im Mittelpunkt stehen, auch wenn sie in der Gesamtuntersuchung eher nur der Heranführung an den eigentlichen Untersuchungszeitraum, die Moderne und die Gegenwart dienen, obwohl sie ein Drittel der Studie ausmachen.

Die Teile der Untersuchung, die sich mit der Geschichte von Geschlechterbetrachtungen bis zum Beginn der Moderne beschäftigen, bieten Einblicke in zahlreiche naturphilosophische und biologisch-medizinische Theorien der Antike, der Frühen Neuzeit und des 18. und 19. Jahrhunderts; Voß untersucht Texte zahlreicher MedizinerInnen und PhilosophInnen. Er zeigt dabei, dass in der Antike nicht nur die Vorstellung eines "Ein-Geschlecht-Modells" vorherrschte (Kapitel 1), wie der US-amerikanische Historiker Thomas Laqueur 1990 in seiner viel beachteten Studie Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud herausgearbeitet hat, sondern dass es unterschiedliche Geschlechtertheorien in der griechischen und römischen Antike gab. Ebenso stellt Voß auf breiter Quellengrundlage dar, dass ein "Zwei-Geschlechter-Modell" nicht erst im 18. Jahrhundert entstanden sei (Kapitel 2). Laqueur geht aufgrund seiner Untersuchung von anatomischen Quellen hingegen davon aus, dass die antiken europäischen und mittelalterlichen Gesellschaften nur ein anatomisches bzw. biologisches Geschlecht gekannt hätten. Die Frau habe in Europa bis ins 18. Jahrhundert biologisch als defizitärer Mann gegolten, die Geschlechtsorgane von Männern und Frauen seien nicht als grundsätzlich verschieden angesehen worden, sondern als einander entsprechend: Die Vagina habe als nach innen gestülpter Penis gegolten, der Uterus nach diesen Vorstellungen dem Skrotum, die Eierstöcke den Hoden entsprochen. Diese Vorstellungen seien auf zwei antike Autoren, den Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.) und den Arzt Galenos von Pergamon (129-199 n. Chr.) zurückgegangen. Ungeachtet dessen habe es unterschiedliche soziale Rollen und damit unterschiedliche soziale Geschlechter gegeben. Geschlechterunterschiede seien aber als soziale Unterschiede angesehen worden, nicht als biologische. Geschlechterunterschiede und Geschlechterhierarchien seien somit nicht anhand körperlicher Merkmale begründet worden.

Voß gesellt sich mit seiner Kritik an Laqueurs Untersuchung, einem der "heiligen Texte" der Queer Theory, zu jenen zahlreichen KritikerInnen, die vornehmlich aus den Reihen der Geschichtswissenschaft kommen, während der Text in anderen Disziplinen nach wie vor oft unkritisch rezipiert wird. Dabei stellt er seine Kritik auf eine breite Quellenbasis und untersucht zahlreiche Parallelquellen. Problematisch erscheint auch ihm unter Verweis auf die vielen von ihm ausgewerteten naturphilosophischen und medizinischen Quellen, dass Laqueur das "Ein-Geschlecht-Modell" als das alleinige Konzept ansieht und nicht als eines von vielen. Ebenso zeigt Voß für das 18. Jahrhundert auf, dass die Texte der Ärzte Pierre Roussel (1742-1802) und Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815), aus denen die deutsche Historikerin Claudia Honegger 1991 in dem Grundlagentext Die Ordnung der Geschlechter das Entstehen einer "weiblichen Sonderanthropologie" ableitet, nicht die Ausgangstexte hierfür gewesen seien, sondern eher zu einer Fokussierung auf diese Betrachtung maßgeblich beigetragen hätten (S. 144).

Genealogien und wechselseitige Bezüge von AutorInnen werden von Voß für vormoderne Zeiten nur angedeutet, eine Rezeptionsgeschichte wird nur oberflächlich gezeichnet. Dabei wäre es durchaus wünschenswert gewesen zu erfahren, warum gerade Aristoteles und Galenos von Pergamon von Ärzten des Mittelalters bis in die Frühe Neuzeit so stark rezipiert wurden, obwohl ihre Auffassungen nur einige von vielen in der griechischen und römischen Antike waren. Liegen die Gründe in der Überlieferungsgeschichte oder im allgemeinen Stellenwert der Autoren für das Abendland? Waren sie nicht schon für ihre ZeitgenossInnen und unmittelbar nachfolgende Generationen wichtige wissenschaftliche Autoritäten, die die Diskussionen dominierten oder eine laute Stimme mit großer Reichweite hatten? Woher rühren Aristoteles’ Stellenwert als in Europa sehr verehrter Denker der griechischen Antike, Galens Wahrnehmung als bedeutendster Arzt der Antike? Waren ihre Auffassungen nicht dominierend? Ließe sich Laqueur dann nicht dahingehend verstehen, dass er das vorherrschende Modell fehlerhaft als absolut setzt, aber mit der Beschreibung eines hegemonialen Diskurses recht hat? Auch in Bezug auf Roussel und Ackermann hätte die Darstellung ihrer Bedeutung für zeitgenössische und zukünftige Diskurse und andere AutorInnen pointierter ausfallen können.

Insgesamt sind die historischen Teile der Studie sehr materialreich, aber überwiegend deskriptiv. Für mich wäre eine klarere Betrachtung und Systematisierung der Werke unter expliziten Fragestellungen oder Einzelaspekten hilfreich gewesen. So konnten meine Blicke nur Streiflichter sein. Eine stärkere Auswertung und Einordnung hätten das Dargelegte greifbarer und bewertbarer gemacht.

Problematisch erscheint mir aus Sicht des Historikers, den Beginn der Moderne mit dem Ende des Mittelalters zu verorten, ohne dies explizit zu begründen. Wenig überzeugend ist zudem Voß’ Vorgehensweise, die Vornamen der angeführten AutorInnen unkenntlich zu machen, damit man ihre Gedanken nicht unter einem Geschlechterfokus betrachte, umso mehr er dann selbst genau dies tut. Abgesehen davon, verweisen die verwendeten Personalpronomen auf das Geschlecht und bei vielen AutorInnen ist es zudem offensichtlich, welchem Geschlecht sie zuzuordnen wären oder sich selbst zugeordnet haben, wie etwa "J.-J. Rousseau".

Für jemanden, der weniger Interesse an den naturwissenschaftlichen als an den historischen und sozialen Aspekten der Untersuchung hat und nur über grundlegende Kenntnisse der biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien verfügt, ist die Lektüre der geisteswissenschaftlichen Dissertation nicht leicht, da Voß als Diplombiologe sehr tief in die Fachmaterie einsteigt und anders als in der Einleitung, wo er strukturiert und nachvollziehbar in das Thema und die Fragestellung einführt, solchen LeserInnen nur wenig Hilfe gibt, ihn auf dem Weg durch die Fülle von Quellen begleiten zu können. An vielen Stellen wäre eine klarere Strukturierung und Fokussierung der behandelten Aspekte wünschenswert gewesen. Dies gilt auch für die Zwischenbilanzen und den Schluss. Mit Recht verweist Voß darauf, dass der Fokus von Geschlechtertheorien auf die "Ebene des Unsichtbaren" verschoben worden ist und das Mitdiskutieren seit dem Beginn der Moderne, wie ich sie periodisiere, zunehmend nur noch ExpertInnen möglich ist.




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