Anika Heinz
Polens Andere

Verhandlungen von Geschlecht und Sexualität in Polen nach 1989. Bielefeld: transcript Verlag 2008, 276 S., € 28,80

sorry no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 11 (2009)

Sich über Schwule und Lesben in Polen, ihre gegenwärtige Lage oder gar ihre Geschichte zu informieren, ist nicht ganz einfach. In den letzten Jahren gab es zwar zahlreiche Medienberichte (in Presse, Rundfunk, Fernsehen, nicht zuletzt im Internet), die sich mit Polen unter der nationalkonservativen Regierung Kaczyński befassten. Deren betont nationale Interessenpolitik, begleitet von EU-Skepsis und – historisch nicht unbegründeten – Vorbehalten gegenüber den beiden großen Nachbarn, stand im Zentrum des Interesses und der Kritik vor allem liberaler oder linker Medien. Kritik an der Diskriminierung von Lesben und Schwulen ergänzte das eher negative und nicht vorurteilsfreie Bild von Polen. Im Vordergrund der Berichterstattung über Homosexuelle standen dabei Berichte, die die für deutsche LeserInnen vermeintlich interessanten Aspekte wie Intoleranz, Diskriminierung oder antihomosexuelle Gewalt, sei es von Seiten staatlicher Organe, sei es von Seiten rechtsextremer Schläger, betrafen (eine Linksammlung zu Artikeln aus den Jahren 2004/ 2005 unter http://www.maneo.de/pdf/Polen.pdf). Aber wie authentisch ist das Bild, das diese Berichte liefern? Ist Diskriminierung der einzige Aspekt homosexuellen Lebens in Polen, über den berichtet werden sollte? Welche Rolle spielt bei der Berichterstattung über Polen das Interesse, auf die Rückständigkeit oder mangelnde Europafähigkeit der polnischen Gesellschaft oder des polnischen Staates hinzuweisen? Das größte Hindernis für gesicherte Informationen über Polen ist wohl die Sprache. Wer in der BRD kann schon Polnisch? Wissenschaftliche Monografien oder Zeitschriftenaufsätze über Lesben und Schwule in Polen mögen auf Polnisch vorliegen, es gibt solche Texte aber bisher leider weder auf Deutsch noch auf Englisch oder Französisch (knappe, grundlegende Informationen zur Geschichte und Lage der Homosexuellen in Polen u.a. auf http://www.globalgayz.com/g-poland-history.html). Die vorliegende Arbeit, eine Dissertation, weckt also Hoffnungen, das Informationsdefizit etwas abzutragen.

Einschränkend muss vorausgeschickt werden, dass Keinz weder Historikerin noch Politikwissenschaftlerin ist, sondern Ethnologin; ihre ausführlichen methodologischen Überlegungen (mehr als ein Viertel des vorliegenden Bandes) brauchen hier nicht referiert zu werden. Ziel ihrer Bemühungen ist "Ethnografie der Gegenwart", wobei sie sich durchaus bewusst ist, dass sie damit zugleich "histoire immédiate" betreibt, mit allen Problemen, mit denen sie dabei in unserer schnelllebigen Zeit konfrontiert wird. Viele ihrer Erkenntnisse beruhen auf "Feldforschung", also Besuchen in Polen, Auswertung der Presse, Beobachtung der Auseinandersetzungen und Gesprächen mit ProtagonistInnen vor Ort – überwiegend Frauen. Sie hielt sich vorwiegend in Warschau, Krakau und Posen auf – wichtige Schauplätze der innerpolnischen Diskussion, aber vermutlich genauso wenig repräsentativ für Gesamtpolen, wie es Berlin und Köln für Deutschland sind. Nicht ganz unproblematisch ist zudem, dass die Konfliktparteien nur relativ vage umschrieben werden: informelle Frauennetzwerke, NGOs, Lesben- und Schwulengruppen versus konservativ-reaktionäre katholische Kräfte, rechtsklerikale Politiker und Parteien wie "Liga der polnischen Familien" und "Recht und Gerechtigkeit – Prawo i Sprawiedliwość / PiS", die Partei der Brüder Kaczyński. Quantitativ und in ihrem politischen Gewicht erfassbar sind davon allenfalls die Parteien durch Mitgliederzahlen und Wahlergebnisse. Zeitlich beschränkt sich Keinz im Wesentlichen auf die Zeit nach 1989. Im Vordergrund ihres Erkenntnisinteresses steht die Auseinandersetzung um die Konstituierung der postkommunistischen polnischen Nation durch Definition der Zugehörigkeit und Abgrenzung von den "Anderen". Die Diskussion über die "Anderen" und ihre Rechte wird in der vorliegenden Untersuchung ausführlich wiedergegeben. Die Lebensumstände der "Anderen", die sich ja nicht auf diesen Konflikt reduzieren lassen, bleiben demgegenüber allerdings weitgehend außer Betracht.

Das Jahr 1989 beendete für die mittel- und osteuropäischen früheren Ostblockstaaten ebenso wie für die danach (wieder) selbständig gewordenen Teilrepubliken der Sowjetunion eine Phase der Fremdherrschaft, die aus polnischer Sicht mit nur kurzen Unterbrechungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts andauerte. Es begann in allen diesen Staaten eine Phase der Rekonstituierung der nationalen Identität und des Nationalstaates sowie der (Wieder-)Herstellung der Demokratie. Keinz weist dabei am Beispiel Polens nach, dass Ausgrenzungsdiskurse auf der Ebene von Geschlecht und Sexualität und von Zugehörigkeit und Fremdheit eine entscheidende Rolle spielten. Den Forderungen von Frauen und Homosexuellen nach Gleichberechtigung setzten konservative und reaktionäre Kräfte Konzepte einer "Rebiologisierung" bzw. "Renaturalisierung" der Geschlechterrollen und der Konstituierung einer auf den Werten der christlich-katholischen Moral basierenden Nation entgegen. Die "Anderen", die sich diesem Programm verweigerten, wurden als nicht zur Nation gehörend angesehen. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass die katholische Kirche im Kommunismus Hort der Andersdenkenden, der demokratischen Opposition, Bewahrerin und Schützerin der nationalen Kultur war. Das Leben während des Sozialismus wurde im öffentlichen Diskurs als "unnormal" und "unnatürlich" dargestellt, christliche Werte (vor allem in den Bereichen Familie und Sexualität) wurden zum entscheidenden Bindeelement zwischen Nation und neuem, demokratischem Staat.

Im sozialistischen Staat war die Gleichstellung der Geschlechter Gesetzesnorm, auch wenn die Realität dieser Norm nicht unbedingt entsprach. Die Demokratisierung nach 1989 ging, nicht nur in Polen, einher mit einer Maskulinisierung der Politik und tendenziell mit einer Feminisierung von Arbeitslosigkeit und Armut. 1993, kurz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, wurde mit einem restriktiven Abtreibungsgesetz und ergänzenden höchstrichterlichen Urteilen den Frauen ein Recht genommen, das sie während des Sozialismus gehabt hatten. Die Auseinandersetzungen um die Abtreibung und die Gleichstellung sowie die Verbote von und die gewaltsamen Angriffe auf Gleichheitsdemonstrationen (Parada Równósci, die polnische Variante der Gay-Pride- bzw. CSD-Demonstrationen) markierten Höhepunkte in dem Konflikt um Polens Zukunft.

Polens "Rückkehr nach Europa" und die Übernahme "europäischer" Denkweisen, Normen und Moralvorstellungen hatten dabei aber durchaus auch Wirkungen, die zumindest von Teilen der polnischen Gesellschaft nicht begrüßt wurden: europäische und globale Einflüsse veränderten auch die Argumentation, auf deren Grundlage Geschlechtsidentitäten konstruiert werden. Diskussionen um nicht-verheiratete Paare, um lesbische Frauen oder Mütter verdeutlichen das. Zunehmend konkurrierten alte und neue Werte und Verhaltensweisen. Diskutiert wurden die Gleichstellung von Mann und Frau bzw. das Gegenkonzept von der "natürlichen" Differenz der Geschlechter; die Kräfte, die sich gegen die Gleichstellung wandten, behaupteten die "natürliche" Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern und die Konstituierung der Familie aus Mann, Frau und Nachwuchs und schlossen, auch wenn es nicht immer ausgesprochen wurde, andere Konzepte wie nicht-eheliche oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften aus. Feminismus und das Beharren auf Gleichstellung wurden in dieser Diskussion von den Gegnern als postkommunistisch und nichtpolnisch diskreditiert.

Dass sich wesentliche und den Diskurs oft dominierende Teile der politischen Öffentlichkeit gegen Frauenrechte und deren Verteidigung durch Frauennetzwerke (Porozumienie Kobiet – Allianz der Frauen – und Porozumienie Lesbijek – Allianz der Lesben) und Frauen-NGOs wandten, war die Basis dafür, dass sich andere marginalisierte oder diskriminierte Gruppen dem Protest der Frauen anschlossen. Das galt vor allem für Lesben und Schwule, wobei lesbische Frauen, wiewohl von Anfang an Teilnehmerinnen an den beiden Hauptdemonstrationen der Frauennetzwerke (am 8. März, dem Internationalen Frauentag, und am 10. Dezember, dem Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen), kaum beachtet wurden, wie Lesben überhaupt in der öffentlichen Diskussion weitgehend ignoriert wurden und werden. Anders Schwule: Sie werden als unmoralisch und als Gefahr für die polnische Nation angesehen. Mehr noch als in vielen westlichen Staaten werden in Polen Homosexualität und männliche Homosexualität gleichgesetzt; weibliche Homosexualität wird als (vorübergehende) Orientierungslosigkeit bewertet und bleibt deshalb außer Betracht.

War schon die Zeit vor dem Herbst 2005 für Polens "Andere" (in erster Linie Feministinnen bzw. selbstbewusste Frauen, dann aber auch Lesben und Schwule und andere Minderheiten) nicht unproblematisch, so fürchteten die Betroffenen eine Erschwerung ihrer Situation nach dem Wahlsieg der konservativen Kräfte im Herbst 2005; es kam zur Bildung der Regierung Lech Kaczyński, die eine "Vierte Republik" und die "politische und moralische Reinigung" Polens anstrebte. Eine ihrer ersten Maßnahmen war, das Amt der Regierungsbevollmächtigten für die Gleichstellung von Frauen und Männern abzuschaffen; die Amtsinhaberin war auch für die Erarbeitung eines Antidiskriminierungsgesetzes und den Schutz sexueller Minderheiten zuständig. Der Aufbau einer homogenen polnischen Nation aus "guten heterosexuellen Bürgerinnen und Bürgern" wurde forciert, der Ausschluss der "Anderen" aus dieser Nation betrieben. Schon im Juni 2005 hatte Lech Kaczyński als Bürgermeister von Warschau die Parada Równósci verboten, weil sie die religiösen Gefühle der Warschauer verletze und "sexuell obszön" sei. Dieses Verbot und weitere, zum Teil von gewaltsamen staatlichen oder rechtsextremen Übergriffen begleitet, wurden von der westlichen Presse registriert und kritisiert und führten zu Protest- und Solidaritätsaktionen zum Beispiel in Berlin und London. Die Verbote verschärften die innerpolnischen Auseinandersetzungen, bei denen es schließlich nicht mehr nur um die Rechte von sexuellen Minderheiten ging, sondern grundsätzlich um unterschiedliche Auffassungen von Demokratie und Toleranz und darum, was öffentlich erlaubt sein solle oder in den Bereich des Privaten gehöre. Die informellen Frauennetzwerke und andere oppositionelle Gruppen widersetzten sich – nicht ohne Erfolg – den von der konservativen Regierung und ihren Anhängern propagierten Vorstellungen.

Keinz‘ Hoffnung, dass die von ihr beschriebenen Diskriminierungen und Auseinandersetzungen mit dem Ende der Regierung Kaczyński nach den Parlamentswahlen am 21. Oktober 2007 Geschichte geworden sind, scheint allerdings verfrüht. "Moralische Erneuerung" war ein wesentliches Ziel der Regierung Kaczyński, aber entsprechende Vorstellungen von Moral bestimmten und bestimmen die politische Diskussion in Polen seit 1989 bis in die Gegenwart. Polens "Rückkehr nach Europa" durch den Beitritt zur EU wurde gefeiert, die Forderungen EU-Europas an Polen im Bereich von Gleichberechtigung und Toleranz gegenüber Minderheiten werden von konservativ-katholischen Parteien und Organisationen allerdings als Ausdruck neuer Fremdherrschaft bekämpft. Europa bedeutet für diese Gruppen Atheismus, Drogen, Abtreibung, Scheidung, Promiskuität und Homosexualität – kurz Sodom und Gomorrha; Polens moralische Integrität und Souveränität ist aus der Sicht der katholisch-nationalkonservativen Kräfte folglich weiterhin bedroht.

Da bis jetzt aber, wie oben angesprochen, in westeuropäischen Sprachen keine fundierte Untersuchung über die Homosexuellen in Polen und ihren Kampf um Gleichberechtigung vorliegt, ist die vorliegende Darstellung ein erster Ansatz, zumal Keinz die Homosexuellen, wie gesagt, nicht isoliert sieht, sondern ihren Kampf um Anerkennung in den größeren Rahmen der Kampfes um Menschen- und Bürgerrechte einordnet. Dieser Ausgangspunkt könnte auch für die Erneuerung der Homopolitik in der BRD befruchtend sein; eine entsprechende Diskussion wurde und wird ansatzweise ja auch schon, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um das bundesdeutsche Antidiskriminierungsgesetz, geführt. Eine Darstellung der Lage und oder gar der Geschichte der homosexuellen Frauen und Männer in Polen wird von Keinz nicht geliefert, war allerdings von ihr auch nicht angestrebt. Das umfangreiche Literaturverzeichnis bestätigt diesen Befund: es nennt keinen einzigen Text, der sich speziell mit den Lesben und Schwulen in Polen beschäftigt.




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