Christiane Leidinger
Keine Tochter aus gutem Hause

Johanna Elberskirchen (1864-1943).
Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008, 480 S., € 24,90

sorry no cover

 

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 11 (2009)

Feministin – Forscherin – Freigeist, so könnte man das ungewöhnliche Leben einer Frau umschreiben, die sich in keine der üblichen Schablonen einordnen lässt. Die in Bonn geborene, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Johanna Elberskirchen setzte ihren Wunsch nach Bildung durch und studierte von 1891 bis1895 Medizin in Bern. In einem Selbstportrait, das Elberskirchen für Sophie Patakys Lexikon deutschsprachiger Frauen der Feder (1897/98) verfasste, schrieb sie über sich: "Individualistin war ich stets aus Instinkt und werde es wohl auch bleiben. Deshalb gehöre ich zu den ‚geborenen‘ Frauenrechtlerinnen und Freiheitskämpferinnen. Mit 20 Jahren stand ich, der Not gehorchend und dem eigenen Triebe, auf eigenen Füßen, und zwar als Buchhalterin eines Geschäfts in einem kleinen Nest mit roten Ziegeldächern. Sieben Jahre ging ich in diese Tretmühle, dann emancipierte ich mich und sprang in die akademische Bahn. Ich studierte fünf Semester Naturwissenschaften, Anatomie, Physiologie und Philosophie an der Universität Bern und pflegte an der Universität Zürich den hohen Gelehrsamkeiten ‚Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft‘, um der Frauenwelt später mit einem wohl diplomierten Docktor juris mehr dienen zu können." Zu diesem Doktortitel kam es dann nicht mehr, wohl wegen fehlender finanzieller Mittel. 1901 kehrte Elberskirchen endgültig nach Deutschland zurück, nachdem sie zwischenzeitlich in der Schweiz wegen einer Verleumdungssache steckbrieflich gesucht worden war.

In der Folgezeit machte sie sich als politische Schriftstellerin einen Namen, engagierte sich in der Sozialdemokratie u.a. für die Jugend und im radikalen Flügel der Frauenbewegung für das demokratische Wahlrecht sowie in der Homosexuellenbewegung, besonders im Wissenschaftlich humanitären Komitee, für die Abschaffung des § 175 RStG. Das Thema Sexualität in seinen verschiedensten Schattierungen, aber auch Medizin und gesundheitliche Vorsorge, Prävention und Aufklärung griff sie in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen auf.

Für die heutige Lesbenbewegung sind sicherlich die folgenden beiden Arbeiten Elberskirchens besonders interessant: In Die Liebe des Dritten Geschlechts (1904) ging es ihr v.a. darum, Homosexualität von allen negativen Zuschreibungen zu befreien. Mit dem Untertitel Homosexualität, eine bisexuelle Varietät keine Entartung – keine Schuld stellte Elberskirchen sich in den Kontext des emanzipativen Flügels der Sexualwissenschaft, der Homosexualität auf der Basis biologischer Erklärungen entpathologisierte und damit – so Leidinger – eine Naturalisierungsstrategie verfolgte. Unter anderem plädierte sie für eine Sichtweise auf weibliche Homosexualität als gleichgeschlechtliche Anziehung und erteilte somit der rollenzuweisenden Konstruktion lesbischer Paare, die von nicht wenigen Sexualwissenschaftlern ihrer Zeit vertreten wurde, eine deutliche Absage. In der wohl zeitgleich erschienenen Publikation Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht – Revolution und Erlösung des Weibes. Eine Abrechnung mit dem Mann – Ein Wegweiser in die Zukunft outete sich Elberskirchen indirekt als homosexuell mit den Worten: "Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir es doch mit gutem Recht", eine für das Jahr 1904 durchaus als bahnbrechend zu bezeichnende Aussage, die Elberskirchen, die in vielen ihrer Vorträge und Schriften provokante Thesen formulierte, nicht nur Freundinnen in der Frauenbewegung einbrachte, denn man nahm ihr diese Offenheit eher übel. So entwickelte sich Johanna Elberskirchen schnell zum "enfant terrible", da sie nicht davor zurückschreckte, Themen wie z.B. sexualisierte Gewalt von Männern anzusprechen oder sich mit Autoritäten jeder Art anzulegen. Ihre Arbeiten sind aus heutiger Sicht als populärwissenschaftlich zu bezeichnen; die Texte waren sehr direkt, ironisch, oft bissig und deshalb auch angreifbar.

Bis zu ihrem erzwungenen Publikationsende im Jahre 1933 sind von ihr mindestens ein Dutzend Broschüren und Bücher in mehreren Auflagen erschienen, anfänglich wahrscheinlich unter ihrem Pseudonym Hans Carolan. Außerdem gab sie ab 1905 eine Zeitschrift heraus (Kinderheil), die zu einem Jahrbuch avancierte. Nach 1933 lebte Johanna Elberskirchen in Rüdersdorf bei Berlin, wo sie eine homöopathische Praxis betrieb, von der sie mehr schlecht als recht leben konnte, zumal sie ab 1939 zunehmende gesundheitliche Probleme hatte; sie starb 1943 im Alter von 79 Jahren.

Neben der "öffentlichen" Person rekonstruiert Christiane Leidinger in ihrer Biographie aber auch die private Lebensgeschichte von Johanna Elberskirchen. Allerdings lassen sich Elberskirchens Kontakte und Freundinnen aus früheren Jahren nur schwerlich eruieren. Als gesichert gilt die Beziehung zu Anna Eysold (1868–1913), der Elberskirchen in ihrem Scheidungskrieg gegen Ernst Aebi zur Seite stand: Eine Enthüllungsbroschüre mit dem provozierenden Titel Die Mörder. Eine öffentliche Anklage wurde noch während des Drucks im Oktober 1898 beschlagnahmt; nach Johanna Elberskirchen wurde steckbrieflich gesucht, woraufhin sie selbst ein Verfahren wegen Ehrverletzung durch die Presse anstrengte. Der Haftbefehl wurde erst 1902 wieder aufgehoben; 1905 wurde Anna Eysold geschieden. Bis zum Tode von Anna Eysold im Jahre 1913 lebten und arbeiteten die beiden Frauen (u.a. erschien 1907 eine gemeinsame Buchpublikation über Kinderheilkunde und Erziehung) in verschiedenen deutschen Städten zusammen. Ob sie selbst ihre Beziehung als eine "lesbische" definiert hätten, muss offen bleiben. Für Christiane Leidinger liegt aber das Besondere an der Biographie Johanna Elberskirchens darin, dass sie ihre Homosexualität weder mühsam herausarbeiten noch darüber spekulieren musste. 1914 lernte Elberskirchen ihre langjährige Lebensgefährtin Hildegard Moniac (1891–1967) kennen. Die beiden Frauen kauften 1920 gemeinsam in Rüdersdorf bei Berlin ein Haus. Während des späteren Erbstreits zwischen Elberskirchens Anverwandten und Hildegard Moniac tauchte ein leidenschaftlicher Liebesbrief von Elberskirchen an Moniac vom April 1939 auf, ein sicherer Beweis ihrer mehr als nur kameradschaftlichen Beziehung.

Christiane Leidinger hat die Lebensgeschichte dieser außergewöhnlichen Frau akribisch rekonstruiert. Besonders hervorzuheben ist die kritische Genauigkeit, mit der Leidinger auch die Schriften Johanna Elberskirchens unter die Lupe nimmt. So entsteht das Bild einer ungewöhnlichen Frau, die bis 1933 neben feministischen durchaus auch Texte verfasste, die dem eugenisch/rassehygienischen Denken der Sexualwissenschaft und Sexualreform der Vorkriegszeit verhaftet waren.

Leidingers Biographie merkt man an, dass die Verfasserin sich über Jahre mit der Persönlichkeit und dem Werk Johanna Elberskirchens beschäftigt hat. So ist es u.a. auch ihrer Initiative zu verdanken, dass 2003 Gedenktafeln am gemeinsamen Grab von Elberskirchen und Moniac in Rüdersdorf aufgestellt wurden und dass 2005 eine Gedenktafel an Elberskirchens Geburtshaus in Bonn angebracht wurde. Christiane Leidinger versteht ihre Biographie, die durch eine Zeittafel und ein ausführliches Personen- und Ortsregister abgerundet wird, als ersten Einblick in die Lebensgeschichte von Johanna Elberskirchen, deren Werk bislang nur bruchstückhaft rezipiert wurde.




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