Régis Revenin
Homosexualité et Prostitution masculines à Paris 1870 - 1918

Paris: Editions L'Harmattan 2005, 225 S., € 21,20

sorry no cover

 

Rezension von Andreas Niederhäuser, Basel

Erschienen in Invertito 11 (2009)

Wie für eine historische Auseinandersetzung mit dem Thema der gleichgeschlechtlichen Sexualität unumgänglich, setzt sich auch Revenin zu Beginn seiner Monographie, die auf seiner Magisterarbeit in zeitgenössischer Geschichte an der Universität Paris basiert, mit dem Problem einer angemessenen Terminologie auseinander. Obwohl die Begriffe homosexualité und homosexuel in Frankreich erst in den 1910er Jahren auftauchten und sich nur langsam durchsetzten, entscheidet er sich für die Verwendung dieser modernen Terminologie. Die in den Quellen verwendeten Bezeichnungen, größtenteils identisch mit den in Deutschland gebräuchlichen, verweisen entweder auf vormoderne oder eng begrenzte Sexualkonzepte oder haben im heu-tigen Sprachgebrauch, wie der am häufigsten verwendete Ausdruck péderaste, weitgehend die Konnotation von Pädophilie angenommen. Die räumliche Beschränkung der Studie auf die Stadt Paris intra muros ergibt sich aus dem prioritär untersuchten Quellenkorpus, den Akten der so genannten Brigade Mondaine, der städtischen Sittenpolizei. Darin finden sich eine Fülle von Personendaten, Adressen von Lokalitäten, Polizeirapporten und nicht zuletzt eine Reihe von Denunziationsbriefen. Darüber hinaus berücksichtigt Revenin auch ausgiebig juridische, (kriminal-)medizinische und sexualwissenschaftliche Studien, Presseartikel und nicht zuletzt eine Vielzahl von literarischen Quellen. Da in den Akten der Sittenpolizei, in Übereinstimmung mit dem herrschenden Diskurs über gleichgeschlechtliche Sexualität, aber auch aufgrund der gesetzlichen Grundlagen, in der Regel nicht zwischen Prostitution, flüchtigen sexuellen Kontakten ohne pekuniären Hintergrund und Liebesbeziehungen unterschieden wird, übernimmt Revenin, methodisch nicht ganz unproblematisch, weitgehend die obrigkeitliche Definition: homosexuell ist, wer in den Quellen im Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichen Handlungen genannt wird. Männliche Prostitution ist daher hier nicht speziell Gegenstand der Untersuchung, sondern erscheint im Titel lediglich aufgrund der fehlenden Differenzierungen. Revenin befleißigt sich zwar einer im französischen Sprachraum eher selten anzutreffenden geschlechtsneutralen Schreibweise (les historien-ne-s), benutzt jedoch gleichzeitig den Begriff Homosexualität ohne weitere Erläuterungen ausschließlich im Sinne von mann-männlicher Sexualität. Das Thema Lesben wird leider nur in einem kurzen, wenig aussagekräftigen "Quotenkapitel" abgehandelt.

Im ersten Hauptkapitel (Géographie & "sociologie" de l’homosexualité masculine parisienne) versucht der Autor auf der Basis der in den Akten der Sittenpolizei enthaltenen Daten eine soziographische Karte des "homosexuellen" Paris zu zeichnen. Homosexuelles Leben spielte sich zum einen im öffentlichen Raum ab, vor allem in den im Zuge der Haussmann’schen Neugestaltung der Stadt eingerichteten großzügigen Parkanlagen, den breiten, zum Flanieren einladenden Boulevards und den vielen aus hygienischen Gründen errichteten Urinoirs, zum anderen an kommerziellen Orten, die zum Teil privaten oder halbprivaten Charakter hatten. In den untersuchten Quellen werden über hundert einschlägige Etablissements genannt: Bars, Cafés, Tanzlokale, von Prostituierten beiderlei Geschlechts genutzte Hotels und möblierte Zimmer, legale Bordelle (maisons de tolérance), Massagesalons, Bäder, aber auch auf den ersten Blick weniger verfängliche Geschäfte wie Wäschereien. Vor diesem Hintergrund spricht Revenin vom Entstehen einer eigentlichen Subkultur, in deren Rahmen Homosexualität nicht nur von einer eher individuellen zu einer "kollektiven" Erfahrung wurde, sondern auch zu einem sichtbaren Phänomen, das den in der Literatur tradierten "Mythos von der Unsichtbarkeit" der Homosexuellen vor der 68er Emanzipation eindeutig widerlege. Die statistische Auswertung der in den Polizeiakten enthaltenen Personendaten und Ortsangaben verweisen auf einen vorwiegend "bürgerlichen Charakter" der homosexuellen Subkultur und der daran beteiligten Personen. Zwar kommen die registrierten Männer aus allen Schichten, die Mehrheit von ihnen kann aufgrund der Berufsbezeichnung jedoch dem städtischen Mittelstand zugewiesen werden. Zudem wohnen nicht nur die meisten von ihnen in mittelständischen Zentrumsquartieren, auch die in den Akten erwähnten Lokale befinden sich hier. Über die Existenz einer wie auch immer gearteten homosexuellen Subkultur in den Arbeiter- und Armenquartieren, aber auch an anderen Orten mit mehr proletarischem Charakter, wie etwa dem äuβerst lebendigen Marktzentrum der Stadt, den so genannten Les Halles, gibt es, abgesehen von einigen mehr literarischen Erwähnungen über das Vorhandensein einer "virilen", nicht offen thematisierten Homosexualität, keine Berichte.

Nicht nur die homosexuelle Subkultur, auch der herrschende Diskurs über die gleichgeschlechtliche Sexualität, auf den der Autor im zweiten Hauptkapitel (Transgression des hiérarchies et des normes sociales & non-respect des "barrières" nationales, politiques, "raciales" et de genre) zu sprechen kommt, lässt sich in verschiedener Hinsicht überwiegend einer bürgerlich geprägten Mittelschicht zuweisen. Dies gilt sowohl für die daran beteiligten Juristen, Kriminalisten, Mediziner, Sexualwissenschaftler und nicht zuletzt für die manchmal etwas sehr ausgiebig zitierten Schriftsteller(innen), als auch für die im Rahmen dieses Diskurses formulierten Vorstellungen von gleichgeschlechtlicher Sexualität. Die Sünde der gleichgeschlechtlichen Sexualität liegt nun nicht mehr wie zu Zeiten des Ancien Régimes in erster Linie im vermeintlichen Verstoß gegen die göttliche Ordnung der Natur, sondern in ihrem subversiven, die bürgerliche Gesellschaftsordnung bedrohenden Potential. Sie führt in der Vorstellung der am Diskurs beteiligten Autoren zu einer unerwünschten Vermischung der gesellschaftlichen Schichten; sie bedroht als fremde, englische, deutsche, jüdische, maghrebinische etc., in jedem Fall von "außen" kommende "Sünde" die eigene nationale, ethnische und "rassische" Identität; sie karikiert die traditionelle Geschlechterordnung und stellt in der engen Verbindung mit der männlichen Prostitution und dem kriminellen Milieu eine Sicherheitsbedrohung dar.

Die Strategien und Argumente in der Bekämpfung der männlichen Homosexualität, auf die Revenin im dritten Kapitel (Controle social & représsion, discours & stereotypes) eingeht, etwa die Psychopathologisierung, sind weitgehend dieselben wie in Deutschland. Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings in der seit der Einführung des Code pénal (Strafgesetzbuch) von 1810 geltenden Straflosigkeit gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte zwischen erwachsenen, d.h. mindestens 21 Jahre alten Männern, sofern diese einvernehmlich und in privaten Räumen zu Stande kommen. Abgesehen von verschiedenen Schutzaltersbestimmungen hatte die Sittenpolizei allerdings mit dem Artikel 330, der die "Erregung öffentlichen Ärgernisses" (l’outrage public à la pudeur) unter Strafe stellte, einen Gummiparagraphen zur Verfügung, von dem sie reichlich Gebrauch machte. Da die Anwesenheit eines Unbeteiligten, sprich eines Spitzels, für den Tatbestand der Öffentlichkeit bereits genügte, drang die Polizei aufgrund von Denunziationen vereinzelt selbst in Privatwohnungen ein, um die an "homosexuellen Orgien" beteiligten Männer zu verhaften – ein Vorgehen, das vor Gericht allerdings keinen Bestand hatte. Die fehlende direkte Kriminalisierung bedeutete zwar nicht zwangsläufig eine größere Toleranz gegenüber der mann-männlichen Sexualität, führte aber im Vergleich etwa zu Deutschland zu weniger drakonischen Strafen und, betrachtet man die im vorliegenden Invertito ebenfalls besprochene Studie Lückes zu Homosexualität und männlicher Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik, zu einem geringeren Risiko, Opfer einer Erpressung zu werden.

Abgesehen von den bereits angesprochenen methodischen Schwächen, zu denen man noch das ungenierte "Surfen" zwischen den unterschiedlichsten Quellengattungen und den etwas verwirrenden Aufbau der Arbeit – die gesetzlichen Grundlagen für den im ersten Hauptkapitel ausgewerteten Quellenkorpus werden zum Beispiel erst im dritten Kapitel erläutert – hinzuzählen kann, bietet Revenin mit seiner Studie einen flüssig geschriebenen und selbst für jemanden mit mäßig guten Französischkenntnissen verständlich formulierten Überblick über den Diskurs zur (männlichen) Homosexualität im Allgemeinen und zum homosexuellen Leben im Paris der III. Republik im Speziellen. Auch wenn die statistischen Auswertungen, die Revenin als Basis für seine soziographischen Ausführungen dienen, auf einer eher dünnen Datenbasis fußen, scheint mir die soziale Verortung der "Homosexuellenfrage", sowohl bezüglich der Akteure als auch des Diskurses, an eine bürgerlich geprägte Mittelschicht das spannendste und innovativste Ergebnis seiner Arbeit zu sein. Problematischer ist allerdings seine Tendenz, daraus eine indifferente oder gar ausdrücklich tolerante Haltung der so genannten einfachen Leute gegenüber gleichgeschlechtlicher Sexualität zu postulieren, ohne dies wirklich belegen zu können.




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