Martin Lücke
Männlichkeit in Unordnung

Homosexualität und Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik. Frankfurt am Main, Campus 2008, zugleich phil. Diss. Bielefeld 2007, 360 S., € 39,90

sorry no cover

 

Rezension von Friedrich-H. Schregel, Köln

Erschienen in Invertito 11 (2009)

"Fast ein jeder von uns ist schon in nähere Beziehung zur männlichen Prostitution getreten", schreibt Floto 1921 in der Freundschaft. Auch die beiden Briefe, die Hirschfeld im Anhang zu seiner Schrift Berlins drittes Geschlecht (1903) abdruckt, kommen auf Kontakte zu Prostituierten zu sprechen – man könne nicht immer enthaltsam leben, erklären die Schreiber ihr Verhalten. Die Frage liegt nahe – welche Bedeutung hatte Sex mit Prostituierten für homosexuelle Männer in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik? Welche Bedeutung hatte er für das Gefühl, für das Selbstbewusstsein, für die Justiz? Welche Bedeutung hatte Sex gegen Geld quantitativ? Flotos Äußerungen von 1921 sind nur ein Indiz unter vielen für unsere Vermutung, dass in den Zeiten der Homosexuellenverfolgung Sex im Rahmen einer Partnerschaft nicht die überwiegende Praxis war, beim Abwägen der Gefährdungen lag die Entscheidung zu anonymem Sex näher.

Lücke sammelt das Material, das uns heute Auskunft gibt über die Prostitution dieser Zeit, er sichtet die bereits bekannten Quellen (u.a.: Ulrichs, Krafft-Ebing, Publikationen des WHK, Reichstagsdebatten), er hat zusätzlich Akten aus Hamburg und Berlin ausgewertet (Fürsorge- und Jugendbehörden). Die Strafprozessakten zu einem Berliner Fall von Prostitution bzw. Erpressung von 1926, die Lücke zusätzlich heranzieht, sind wenig aussagekräftig – dieser einzige überlieferte Fall erlaubt keine Rückschlüsse auf gängige Argumentation oder Verurteilungspraxis der Gerichte.

Ivan Blochs und Magnus Hirschfelds Bücher markieren den Anfang wissenschaftlicher Beschäftigung, frühere Schriften bleiben im Rahmen von Theorien und Bewertungen befangen. In den späten zwanziger Jahren folgt Linserts empirische Studie, die Lücke im Detail vorstellt (die sog. Linsert-Enquete, unveröffentlicht). All dieses Material ist interessengeleitet, dies arbeitet Lücke überzeugend heraus, seine Diskursanalyse bewährt sich: Keiner der zeitgenössischen Autoren spricht offen oder voraussetzungslos, sie verfolgen Ziele mit ihren Schriften, reagieren auf andere Autoren, nehmen publizierend teil an juristischen, medizinischen, politischen, sozialen Debatten. Diese Analysen sind die Stärke von Lückes Studie: Die zeitgenössischen Autoren äußern weder ihre eigene Meinung vorbehaltlos noch geben sie neutral Fakten wieder, alle diese Schriften sind eher Plädoyer als wissenschaftliche Forschung. Ist dieses Geflecht von Bedingungen und Voraussetzungen für die Schriften nachgewiesen, stellt sich unmittelbar die Frage, ob man auf dieser Grundlage denn heute Geschichtsforschung zu diesem Thema treiben kann – Lücke erkennt dieses Dilemma und verteidigt die Forschung: Anderes Material sei nicht vorhanden, bei wohlüberlegter Gewichtung könne das Material benutzt werden.

Zwei Beispiele mögen dies Problem zeigen: Hirschfeld spielt die Häufigkeit von Analsex herunter – aus der Überlegung heraus, Außenstehende nicht mit "Schmutzigkeiten zu schockieren". Und Hirschfeld malt die Strichjungen in grellen, abstoßenden Farben – um die "normalen" Homosexuellen heller leuchten zu lassen und die Forderung der Straffreiheit für homosexuell Veranlagte wirksamer vertreten zu können. Neben Hirschfeld lassen weitere Autoren Wünsche konservativer Sittenwächter nach härteren Strafen für männliche Prostitution unwidersprochen – auch hier zeigt sich das Kalkül, mit solchen Zugeständnissen das Los der "normalen" Homosexuellen zu erleichtern und deren Ansehen zu bessern. So verständlich all dies in politischen Kämpfen ist – so schwierig und unkalkulierbar macht es doch die Bemühung, das Material von damals zu nutzen und daraus Wissen zu fertigen.

Mit der Analyse von Fürsorgeakten breitet Lücke bisher unbekanntes Material aus. Hier könnte man die Quellen fragen, was junge Männer auf den Strich treibt – auch die damaligen Sozialbehörden stellten sich und ihren Schutzbefohlenen diese Frage. Die Aussagen der Befragten bestätigen, dass die längst vorhandenen Vermutungen über Ursachen korrekt sind – finanzielle Interessen, Genugtuung, das Gefallen besser Situierter gefunden zu haben, (spät-)pubertäres Erproben der erwachenden Sexualität in allen Formen, Ausleben der sexuellen Energien, Nachahmen der Praktiken von Freunden. Die bemerkenswerte Feststellung der beobachtenden Sozialbehörden, viele der jungen Männer setzten ihr auf dem Strich praktiziertes Verhalten ungebrochen in der Besserungsanstalt fort, lässt Lücke unkommentiert. Auf der Grundlage dieser Beobachtung lohnte ein Blick zurück auf die Beweggründe, auf dem Strich Geld zu verdienen – zumindest die Behauptung der sozialen oder finanziellen Not und der starken Situationsabhängigkeit könnte neu gewichtet werden.

Lücke reicht die Diskursanalyse nicht, er möchte darüber hinaus einen Beitrag zur Männlichkeitsforschung leisten– was macht Männlichkeit aus, welche Männlichkeitsentwürfe gibt es über die Zeiten? Hier könnte, meint er, die Untersuchung einer untypischen Mann-Mann-Beziehung weiterhelfen. Externe Faktoren – race, class, gender – bestimmen Männlichkeitsbilder, die Interaktion schafft Geschlecht – doing gender lautet der Fachbegriff, den Lücke von West/Zimmerman übernimmt. Der Sozialforschung, dann der Gender-Forschung, ist dieser Ansatz nicht neu, auch hat es bereits mehrfach Versuche gegeben, diese Analysebegriffe für die Geschichtsforschung fruchtbar zu machen. An der Oberfläche, erläutert Lücke, untersucht er sein Material hinsichtlich a) der Definition von Prostitution, b) der Behandlung der Prostitution durch die Gesellschaft, Recht und Sozialbehörden , c) des Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung der Prostituierten. Im Kern aber müssten die Männlichkeitsbilder hervortreten, müssten die praktizierten Geschlechtsrollen an den Tag treten, dies ist Ziel und Maßstab für den Umgang mit den Quellen.

Lücke kann seine Versprechungen nicht einlösen – sein Verfahren ist einsichtig, sein Ziel verspricht Erkenntnisgewinn, sein Material reicht aber nicht aus. Lücke berücksichtigt alle zum Thema verfügbaren Quellen, sie geben aber die Auskünfte, nach denen er sucht, nicht. Hierfür gibt es zweierlei Ursachen: Das vorhandene Material ist ohnehin dürftig, die Ziele bei der Erhebung waren damals so eng gefasst, dass neue, andere Fragen keine Antworten finden; und alle Behandlungen des Themas waren, wie oben erläutert, interessegesteuert und unterliegen damit dem Verdacht der Verzerrung. Dass bisher detaillierte Untersuchungen, die über pure Theorien hinausreichen, zu diesem Thema wie auch zum Thema männlicher Prostitution für weibliche Kundschaft fehlen, stellt Lücke fest; er erklärt dies mit Berührungsängsten der Forscher. Von Lückes Untersuchungsziel ist am Ende nur ein Teil erreicht: Viel mehr als der wiederholte Hinweis, in den Quellen geschilderte Verhaltensweisen oder Äußerungen seien durchaus kompatibel zum Interpretationsschema des doing gender, findet sich nicht. In dem Kapitel, das mit "Begehren und Bezahlen – Alltagspolitik und doing gender" überschrieben ist, kommt Lücke auf die Praxis der Prostitution zu sprechen – Kontaktanzeigen, die Tarife, die sexuellen Praktiken, das Empfinden der Stricher. Ohne Zweifel, hier wird Mannsein praktiziert, in einer von der Gesellschaft nicht gewünschten oder vorgesehenen Form, aber Lücke selbst nutzt den Begriff des doing gender nach der Ankündigung nicht mehr, seine Analysen sind gleichwohl überzeugend.

In seiner abschließenden Zusammenfassung behauptet Lücke, die männliche Prostitution habe 1) per se gewisse subversive Momente und 2) reproduziere Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Interaktion von Prostituiertem und Freier, obwohl Frauen gar nicht anwesend seien. So greift Lücke sein – beachtenswertes und lohnendes – Untersuchungsziel auf; nur kann er eben diese Beweise nicht liefern, da seine Quellen ihn im Stich lassen.

Als Übersicht über die vorhandenen Quellen, als Kommentar zu diesen Quellen ist Lückes Arbeit verdienstvoll; sein Material aber neu zu deuten, indem er aktuelle Wissenschaftsrichtungen nutzt – hierin kommt Lücke über Ansätze nicht hinaus. Die Arbeit ist auch in vielerlei Kleinigkeiten Gewinn bringend zu lesen – z.B. die Übersicht über die Schriften von Ulrichs, der Abdruck des von Linsert benutzten Fragebogens, das Selbstverständnis der Berliner Bezirksjugendämter, die stolz auf ihre "Spezialhomosexuellenfürsorger" verweisen usw.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 11