Jens Rydström und Kati Mustola (Hg.):
Criminally Queer. Homosexuality and Criminal Law in Scandinavia 1842-1999.

Amsterdam: Aksant Academic Publishers 2007, 312 S., € 29,90

Cover

 

Rezension von Raimund Wolfert, Berlin

Erschienen in Invertito 10 (2008)

In der Außensicht stellen sich die nordischen Länder als recht homogen dar. Sie sind pragmatische Konsensgesellschaften mit einem niedrigen Grad an Urbanisierung, die das Streben nach Gleichheit und Gleichberechtigung quasi zu ihrem Leitmotiv erhoben haben. Das gilt nicht nur für das Verhältnis von Frauen und Männern in Familie und Beruf oder für die unterschiedlichen Erwerbs- und Einkommensgruppen, sondern in ganz besonderem Maße auch für die Integration von Schwulen und Lesben in die Gesellschaft. Spätestens seit der Einführung der registrierten Partnerschaft sind die nordischen Länder zu einem Modell für andere Länder der westlichen Welt geworden - und werden allenfalls von den aktuellen Entwicklungen in den Niederlanden, Belgien und Spanien in den Schatten gestellt. Dänemark war 1989 weltweit das erste Land, das Schwulen und Lesben die Möglichkeit gab, ihre Partnerschaft staatlich registrieren zu lassen, wodurch gleichgeschlechtliche Paare hier in den Genuss weitgehend gleicher Rechte und Pflichten wie heterosexuelle Ehepaare kamen. 1993 folgten Norwegen, 1995 Schweden und 1996 Island sowie Grönland dem dänischen Vorbild. In Finnland wurde die registrierte Partnerschaft 2002 eingeführt. Damit enthalten sich nunmehr allein die Färöer der völligen rechtlichen Angleichung an ihre nordischen Nachbarn. Die Inselgruppe im Nordatlantik mit ihren knapp 50.000 Einwohnern ist heute die einzige nordische Region ohne "Homo-Ehe". Immerhin hat das färöische Landesparlament im Dezember 2006 aber das Antidiskriminierungsgesetz dahingehend ausgeweitet, dass es auch die "sexuelle Orientierung" als Schutzkategorie anerkennt, und ist damit den Gesetzgebern in den anderen nordischen Ländern wenigstens in dieser Hinsicht gefolgt.

Eine Übersicht über die Entwicklung der rechtlichen Situation gleichgeschlechtlich begehrender Männer und Frauen in Nordeuropa von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage liefert der Sammelband Criminally Queer. Homosexuality and Criminal Law in Scandinavia 1842-1999 des Schweden Jens Rydström und der Finnin Kati Mustola, der Ende 2007 in englischer Sprache in den Niederlanden erschien. Fünf Autoren und Autorinnen - neben Rydström und Mustola selbst sind dies der Däne Wilhelm von Rosen, der Norweger Martin Skaug Hallos und die Isländerin Thorgerdur Thorvaldsdóttir - zeichnen auf der Grundlage von Gesetzestexten und Fällen aus der Gerichtspraxis in den sieben Kapiteln des Bandes nach, wie sich die rechtliche Lage für Homosexuelle in Dänemark, Norwegen, Schweden, Island, Grönland, Finnland und auf den Färöern langsam aber sicher bis hin zur heute gesetzlich verankerten Gleichberechtigung verändert hat. In den modernen nordeuropäischen Strafgesetzbüchern spielt gleichgeschlechtliches Begehren keine gesonderte Rolle mehr. Das Jahr 1842 bildet insofern den Auftakt für die von den fünf Historikern und Soziologen angestellten Überlegungen und Betrachtungen, als der norwegische Gesetzgeber in diesem Jahr als erster in Nordeuropa die Todesstrafe für "widernatürliche Unzucht" durch Gefängnisstrafen ersetzte. Den Abschluss markiert das Jahr 1999, in dem Finnland als letztes nordeuropäisches Land die gleiche Schutzaltersgrenze für homo- wie für heterosexuelle Kontakte einführte und damit die letzten diskriminierenden Bestimmungen für homosexuelle Männer und Frauen abschaffte. Zumindest für die kleineren nordischen Länder beschreiten die Autoren und Autorinnen echtes Neuland. So systematische und detaillierte Studien zur Geschichte der antihomosexuellen Gesetzgebung etwa in Island, Grönland und auf den Färöern hat es bislang noch nicht gegeben. Für die anderen nordischen Länder sind viele der geleisteten Angaben im Rahmen des nationalsprachlichen bzw. skandinavischen Diskurses nicht unbedingt neu. Sie liegen jedoch nicht in so kompakter und die Vergleichbarkeit ermöglichender Form vor und sind wegen der existierenden Sprachgrenzen kaum im außerskandinavischen Ausland rezipiert worden.

Von hohem Wert ist der Umstand, dass das Autorenteam um Rydström und Mustola sich nicht nur mit der rechtlichen Situation gleichgeschlechtlich begehrender Männer beschäftigt. Über weite Strecken der Geschichte wurden geschlechtliche Akte zwischen Frauen als undenkbar gehalten, und nur wenige Fälle von Verurteilungen für gleichgeschlechtliches Verhalten unter Frauen aus dem europäischen Mittelalter und der Frühen Neuzeit sind bekannt. Als eines der wenigen weltlichen Gesetzbücher, in denen geschlechtliches Verhalten unter Frauen behandelt wird, gilt die deutsche Constitutio Criminalis Carolina von 1532, welche nicht nur die gesamte spätere antihomosexuelle Gesetzgebung Österreichs, sondern auch Schwedens und Finnlands beeinflusst hat. Magnus Hirschfeld nannte 1914 in seinem monumentalen Werk Die Homosexualität des Mannes und des Weibes nur sechs Länder Europas, in denen Frauen von der antihomosexuellen Gesetzgebung miteingeschlossen wurden. In all diesen Ländern war die Zahl der verurteilten Frauen aber beträchtlich niedriger als die von Männern. In Schweden lag der Anteil zwischen 1880 und 1944 bei 0,8 Prozent, in Finnland zwischen 1894 und 1971 bei unter fünf Prozent.

Doch geht es in dem vorliegenden Band nicht nur um eher trockene Gesetzestexte, deren Veränderung und um statistische Werte. In ihren Essays gehen die Autoren und Autorinnen auch auf wesentliche Aspekte der Kultur- und Sozialgeschichte der nordischen Länder ein. Diskutiert wird so auf breiter Basis der Übergang vom Paradigma der Sodomie zu dem der Homosexualität, bei dem das Alter der beteiligten Personen und die Machtverhältnisse zwischen diesen zunehmende Bedeutung erhielten. Besondere Aufmerksamkeit muss in diesem Zusammenhang Dänemark gezollt werden. Hier waren im nordeuropäischen Vergleich die Zahlen für Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen stets mit Abstand am höchsten. Einen Höhepunkt erreichten sie in der Zeit von 1955 bis 1964 mit 4,41 Fällen auf 100.000 Einwohner pro Jahr (zum Vergleich im selben Jahrzehnt: Norwegen 0,07, Island 0,11 und Schweden 0,89; für die anderen nordischen Länder liegen keine aussagekräftigen Daten vor). Dänemark war aber auch das erste Land im Norden, in dem die generelle Verurteilung der Homosexualität formell aufgehoben wurde (1933) und in dem sich homosexuelle Subkulturen weit früher als in den benachbarten skandinavischen Ländern entwickelten. Besonders für die dünn besiedelten Gebiete im Westen Nordeuropas (Jütland, aber auch die Färöer, Island und Grönland, die erst nach 1944 nationale Autonomie von Dänemark erhielten) war die dänische Hauptstadt Kopenhagen über lange Zeit der Dreh- und Angelpunkt der kulturellen wie subkulturellen Modernisierung - und das Eingangstor zu Mitteleuropa. Die homosexuelle Migration aus den peripheren Regionen des Nordens, in denen früher noch mehr als heute das Moment der sozialen Kontrolle allgegenwärtig war und in denen strenge Religionsauffassungen vorherrschten, in die dänische Metropole - aber auch nach Helsinki, Oslo und Stockholm - ist bis in die jüngste Vergangenheit immer stark gewesen. Kein Wunder, dass die erste homosexuelle Organisation Nordeuropas 1948 in Dänemark gegründet wurde und Dänemark gut fünfzig Jahre später als erstes Land im Norden die registrierte Partnerschaft für Homosexuelle einführte. Die Bedeutung Kopenhagens für nordeuropäische Schwule und Lesben spiegelt auch das Anekdotische wider, das in dem Band von Jens Rydström und Kati Mustola zur Geltung kommt. Als beispielsweise 1978 die isländische Aktivistin Dagný Kristjánsdóttir im Büro der feministischen Gruppe Die Rotstrümpfe von einer amerikanischen Journalistin gefragt wurde, wo es hier isländische Lesben gäbe, antwortete Kristjánsdóttir ohne zu zögern: "Die gibt es nicht." Als sie das erstaunte und ungläubige Gesicht der Amerikanerin erblickte, überlegte sie nicht lange und fügte rasch hinzu: "Die sind beide in Dänemark." (S. 136)

Geprägt sind die national gewichteten Essays von dem Umstand, dass auf dem Gebiet der Rechtssprechung Männer weitaus stärker als Frauen sichtbar sind. Dem begegneten Kati Mustola und Jens Rydström offensiv, indem sie ein gesondertes Kapitel über Frauen und die Gesetze für gleichgeschlechtliche weibliche Sexualität einfügten. Wenn für den gesamten nordeuropäischen Raum heute weniger als 85 Fälle bekannt sind, in denen Frauen zwischen 1842 und 1999 wegen sodomitischer bzw. homosexueller Handlungen verurteilt wurden, spiegelt das die Marginalisierung des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft wider. Für Mustola und Rydström ist dies aber auch ein Ausdruck dafür, dass Frauen in der Geschichte eher im privaten Bereich und am Arbeitsplatz Beziehungen eingingen, wohingegen Männer, für die es mehr und andere Möglichkeiten dazu gab und gibt, leichtere Ziele von staatlicher Verfolgung wurden.

Als das moderne Konzept der Homosexualität im späten 19. Jahrhundert entstand, führte das allerdings auch dazu, dass Frauen stärker in das Blickfeld des Gesetzgebers gerieten. 1933 wurden Frauen in die modernisierte antihomosexuelle Gesetzgebung Dänemarks explizit mitaufgenommen (1940 ebenfalls in Island), und in Schweden und Finnland wurden sie in den folgenden Jahrzehnten in höherem Maße verfolgt als je zuvor. In den beiden letztgenannten Ländern waren sexuelle Handlungen unter Frauen aufgrund der geschlechtsneutral formulierten Gesetze schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schweden 1864, Finnland 1889) kriminalisiert. Die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts zeichneten sich wie in anderen Ländern der westlichen Welt auch in Nordeuropa durch eine heftige homophobe Reaktion aus. Etliche Skandale und "Affären", in die auch höchste staatliche Instanzen verwickelt waren, führten zur Verbreitung des Wortes Homosexualität und des Wissens um gleichgeschlechtliches Begehren außerhalb medizinischer und wissenschaftlicher Kreise und ließen die nordeuropäischen Gesellschaften die rechtlichen Zügel, die sie gegenüber der homosexuellen Minderheit bereits gelockert hatten, wieder stark anziehen.

Die Geschichte der rechtlichen Angleichungen in Nordeuropa weist trotz aller Unterschiede starke Parallelen auf. Kennzeichnend für die nordischen Länder ist ein relativ früher Zeitpunkt der Entkriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen (Dänemark und Färöer 1933, Island 1940 und Schweden 1944). Lediglich Finnland und Norwegen nahmen moderne Gesetze erst spät an (1971 bzw. 1972), doch hatte gerade Norwegen innerhalb Skandinaviens in mancher Hinsicht eine Vorreiterrolle inne, seit es gleichgeschlechtliche Handlungen unter erwachsenen Männern bereits 1905 nur dann mit Strafe belegte, "wenn öffentliche Interessen dies erforderlich machten". In der Folge wurde der norwegische Homosexuellenparagraph § 213 bis zu seiner endgültigen Abschaffung 1972 kaum noch angewandt. Damit war Norwegen praktisch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts das erste Land in Nordeuropa, in dem mann-männliche Sexualität straffrei blieb. Gleichgeschlechtliche Handlungen unter Frauen waren in Norwegen nie explizit verboten, und seit 1854 wurde kein solcher Fall mehr vor einem norwegischen Gericht verhandelt.

Abgesehen von Norwegen erfolgte die Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Sexualität in allen nordischen Ländern, ohne dass Druck von Seiten organisierter homosexueller Gruppen ausgeübt wurde. Die gesetzliche Emanzipation fand in der Regel in zwei Schritten statt: Zunächst wurde die generelle Verurteilung gleichgeschlechtlicher Handlungen abgeschafft, aber das gesetzliche Alter für straffreie homosexuelle Handlungen war höher als das für heterosexuelle. Absicht war es hier wie dort, junge Männer und Frauen vor Verführung durch ältere Angehörige des gleichen Geschlechts zu schützen. Erst im zweiten Schritt wurden dann die Schutzaltersgrenzen angeglichen, und dieser Schritt erfolgte in der Regel 30 bis 40 Jahre nach dem ersten. Auch hier ist Norwegen eine Ausnahme, da es 1972 gleich beide Reformen in einem Schritt ausführte. Lediglich in Island und auf den Färöern dauerte es beträchtlich länger (52 bzw. 53 Jahre), bis die Schutzaltersbestimmungen für hetero- wie für homosexuelle Kontakte dieselben waren, wohingegen die Angleichung in Grönland schon nach 15 Jahren erfolgte.

In der Innenperspektive stellen sich die nordischen Länder indes als nicht ganz so einheitlich dar. Der nordische Wohlfahrtsstaat à la Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden ist als ein "Modell mit fünf Ausnahmen" bezeichnet worden. Ähnliches ließe sich über die Geschichte der Rechtsangleichungen sagen, um die sich die nordischen Länder immerhin schon seit 1872 bemühen. Jedes Land spielt sozusagen seine eigene Sonderrolle. Für alle, die sich für die nationalen Eigenheiten der nordeuropäischen Länder und deren Entwicklung von ehemals homophoben zu modernen, "pro-homosexuellen" Gesellschaften interessieren, ist der vorliegende Band von Jens Rydström und Kati Mustola ein vielschichtiges und unverzichtbares Standardwerk, das wertvolle Erkenntnisse und Ansätze für die weitere Forschung über die Geschichte der Homosexualitäten im europäischen Raum bereithält. Verfasst wurden sämtliche Texte in Englisch, damit sie nicht nur in den skandinavischen Kernländern Dänemark, Norwegen und Schweden, sondern im gesamten Norden und weit über dessen Grenzen hinaus gelesen werden können. Ein ausführlicher Anhang hält die nordischen Gesetze mit Bezug zur gleichgeschlechtlichen Sexualität im Zeitraum von 1683 bis 1999 in englischer und der jeweiligen Originalsprache bereit. Dem Autorenteam um Jens Rydström und Kati Mustola ist ein möglichst großer Leserkreis zu wünschen. Nicht zuletzt die auch personalgeschichtlich interessanten Ausführungen zu so berühmten Persönlichkeiten wie dem isländischen Literaturnobelpreis-Träger Halldór Laxness und dem finnischen Zeichner Tom of Finland (Touko Laaksonen) oder dem färöischen Friseur Rólant Samuelsen, der über zwei Jahrzehnte in einer Art Einmannbetrieb die "schwule Revolution" auf den Färöern durchführte, lohnen die Lektüre.




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