Gabriele Dennert, Christiane Leidinger, Franziska Rauchut (Hg.):
In Bewegung bleiben.

100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin: Querverlag 2007, 456 S., € 24,90

Cover

 

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 10 (2008)

Ist es möglich, auf 465 Seiten 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben darzustellen? Um es gleich vorwegzunehmen: Ja, es ist nicht nur möglich, sondern es ist den drei Herausgeberinnen gelungen, ein Werk auf die Beine zu stellen, das einen breitgefächterten, vielfältigen Überblick über die Lesbenbewegung im 20. Jahrhundert liefert. An die 100 Autorinnen, die zwischen 1931 und 1981 geboren sind, haben sie für dieses Projekt gewonnen, denn eine der Zielsetzungen ist gewesen, dass möglichst viele Frauen zu Themen schreiben, mit denen sie an die Öffentlichkeit gegangen sind. Die Texte sind chronologisch geordnet, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit zwischen 1970 und 2000 liegt. Der Zeitraum ab 1900 wird durch zwei Aufsätze abgedeckt: Claudia Schoppmann gibt einen Überblick über die Zeit vom Kaiserreich bis zum Ende des zweiten Weltkrieges; Kirsten Plötz fasst die Phase der frühen Bundesrepublik zusammen.

Die einzelnen Jahrzehnte ab 1970 werden jeweils von einem Einführungstext der Herausgeberinnen eingeleitet. Für die 1970er Jahre liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung der Aufbruchstimmung und des Sichtbarwerdens lesbischer Identität. Auch die Geschichte der Lesbenbewegung der DDR findet unter der Überschrift "Subversiv anders" Beachtung. Die Artikel behandeln die (politische) Arbeit von Lesben unter dem Dach der Kirche, die Auseinandersetzung mit dem Staat in Form von Eingaben und Aktionen sowie die Öffentlichmachung lesbischen Lebens in der DDR im Zeitraum von 1970 bis 1989.

Schwerpunkt der 1980er Jahre ist in der Bundesrepublik Deutschland die Ausdifferenzierung: Behinderte Lesben, schwarze Lesben, Protolesben, Migrantinnen beginnen sich zu organisieren. Auch der Antisemitismusdiskussion wird ein Artikel gewidmet. Musik für Lesben, Filme und Theater sind ebenso Themen wie die FrauenLesbentreffen in der BRD (Lesbenfrühlingstreffen, Sommeruniversität, Berliner Lesbenwoche). In den 1990er Jahren geht es dann zunächst um Ost-West-Begegnungen und -Auseinandersetzungen. Weitere Kapitelüberschriften lauten "Gegen Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus", "Separatistische Kämpfe und neue Bündnisse: Lesben, Schwule und Transgender", "Feminismus trifft Queer Theory und Queer Politics". Auch "heiße und zu heiße Themen" werden dargestellt: Gewalt in lesbischen Beziehungen, Lesben und HIV/Aids, Lesben und Kinder(wunsch), alte Lesben, Lesben und Alkohol und, und, und.

Die Beiträge sind hinsichtlich der Länge und Darstellung sehr unterschiedlich. Dies ist aber keineswegs ein Kritikpunkt, ganz im Gegenteil. Neben wissenschaftlichen Texten finden sich auch Erfahrungsberichte und sogar literarische Texte. Absichtlich wurden subjektive, biographische und wissenschaftliche Herangehensweisen vermischt. Allen Texten ist gemeinsam, dass sie sehr authentisch wirken, zumal die Artikel durch eine Fülle von Fotos, Ankündigungsplakaten oder Buchcover illustriert sind. Selbstverständlich kann man 100 Jahre Lesbengeschichte nicht vollständig in einem Buch abbilden. Das war auch nicht der Anspruch der Herausgeberinnen. Es fällt allerdings auf, dass die Stadt-Land-Thematik so gut wie keine Berücksichtigung gefunden hat. Außerdem ist der Sammelband ziemlich "berlinlastig", auch wenn die Hälfte der Autorinnen nicht aus Berlin stammt. Weder andere deutsche Großstädte wie Hamburg, München oder Köln finden Berücksichtigung noch die sogenannte "Provinz". Auch dem Thema "Lesben und Sport" wird kein eigenes Kapitel gewidmet.

Aber dieser Reader hat das Zeug zu einem Klassiker! Wer möchte, kann einfach nur darin schmökern oder das ausführliche engbedruckte 18-seitige Literaturverzeichnis zur weiteren Recherche nutzen. Außerdem ist es ja durchaus möglich, dass ein weiterer Band erscheint, der sich der Zeit nach 2000 widmet und gleichzeitig zu kurz gekommene oder nicht dargestellte Themen bearbeitet. Denn wie heißt es so schön: "In Bewegung bleiben"!




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 10