Geheimsache Leben
Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts.

Ausstellungskatalog von Andreas Brunner, Ines Rieder, Nadja Schefzig, Hannes Sulzenbacher, Niko Wahl, Wien: Löcker Verlag 2005, 240 S., € 19,80

Cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 9 (2007)

Geheimsache Leben – der Titel bezieht sich auf das vom österreichischen Staat und der österreichischen Gesellschaft erzwungene Geheimhalten gleichgeschlechtlichen sexuellen Begehrens und gleichgeschlechtlichen Liebeslebens. Bis weit in die Nachkriegszeit und länger als zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland waren Frauen und Männer, die einen Partner des gleichen Geschlechts begehrten oder liebten, in Österreich zu dieser Geheimhaltung gezwungen, wenn sie nicht massiven Sanktionen unterliegen wollten, die von der gesellschaftlichen Isolation über die Einweisung in die Psychiatrie bis hin zur Einschließung im Kerker oder zur Ermordung im Konzentrationslager reichten. Geheimsache Leben, so hieß eine Ausstellung, die von Oktober 2005 bis zum Januar 2006 in der Wiener Neustifthalle gezeigt wurde. Sie deckte manches Geheimnis der Vergangenheit auf und war die erste umfassende Ausstellung zum homosexuellen Leben in Wien (und Österreich). Noch vor 20 Jahren, so die Herausgeber und Herausgeberinnen des Kataloges, die auch Kuratoren bzw. Kuratorinnen der Ausstellung waren, wäre so eine Ausstellung in Österreich nicht möglich gewesen. 2001, anlässlich des Europride in Wien, war eine thematisch verwandte Ausstellung geplant ("Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich. Eine Kulturgeschichte") – das Projekt scheiterte am Einspruch des damaligen Leiters des Wien Museums, das sich selbst als "urbanes Universalmuseum mit einem breiten Spektrum von Sammlungen und Ausstellungen – von Stadtgeschichte über Kunst bis zu Mode und Alltagskultur" definiert (http://www.wienmuseum.at/75.asp). Das Wien Museum begründete seine Entscheidung damit, dass das Thema sich nicht für eine historische Ausstellung eigne. Immerhin erschien ein umfangreicher, informativer Essayband (vgl. die Rezension in Invertito, Band 4 [2002]).

Für 2001 wie für die Gegenwart gilt: Die homosexuelle Geschichte Österreichs und Wiens ist allenfalls in Ansätzen erforscht. In seiner Einführung zum hier besprochenen Katalogband vermerkt Hannes Sulzenbacher (Konzept und Leitung der Ausstellung), dass die homosexuelle Geschichte "ein weißer Fleck auf der historischen Landkarte" Österreichs sei (S. 5). In den letzten Jahren sind zwar mehrere Monografien (zwei davon werden im vorliegenden Band von Invertito vorgestellt) und wissenschaftliche Aufsätze zum Thema erschienen, ein zusammenhängendes Bild ergibt sich aus diesen Texten aber nicht, vor allem nicht in Bezug auf "Alltagsleben, Anpassung und Opposition, Anbiederung und Renitenz […], Lieben und Leidenschaften" (ebd.) homosexueller Frauen und Männer in Wien bzw. Österreich. Jedoch finden sich zahlreiche Spuren, wenn Frau und Mann suchen, und die angesprochene Ausstellung präsentierte ein breites Spektrum von ihnen. Den Ausstellungsmachern/-macherinnen war bewusst, dass die gezeigten Objekte nur Bruchstücke einer kaum noch rekonstruierbaren Vergangenheit darstellten, zufällig erhalten gebliebene Gegenstände in privaten oder institutionellen Kollektionen, von den Kuratorinnen und Kuratoren "eilig" zu einer Ausstellung zusammengetragen. Die Intention, mit der die gezeigten Objekte ursprünglich aufbewahrt und einer Sammlung einverleibt wurden, war in den seltensten Fällen das Bestreben, schwule oder lesbische Geschichte zu dokumentieren; in der Ausstellung dienten sie einzeln und in ihrer Gesamtheit allerdings genau diesem Zweck, der "nachträglichen Identitäts- und historischen Sinnstiftung" (S. 6). Diesem Widerspruch kann eine historische Ausstellung zum schwulen und lesbischen Leben nicht entgehen – wichtig ist der Hinweis auf die Problematik des Unterfangens.

Die Ausstellung versuchte, Lebenswelten zu rekonstruieren und hat dabei zusammengefasst, was historisch selten zusammengehörte, denn "was teilt der schwule Erzherzog mit der lesbischen Kindergärtnerin?" (S. 7). Unabhängig von un- oder kaum überwindbaren sozialen Unterschieden – welche Berührungspunkte gab es historisch zwischen homosexuellen Männern und Frauen? Die sexuelle Minderheit der gleichgeschlechtlich Liebenden/Begehrenden ist ein Konstrukt des späten 20. Jahrhunderts, in der realen Lebenswelt gab es vor 100 Jahren und auch noch später eher wenige Überschneidungen – und auch heute sind Unterschiede und Divergenzen möglicherweise stärker als der politische Wunsch bzw. die auf Interessendurchsetzung fixierte politische Notwendigkeit es erscheinen lassen. Die Ausstellung fokussierte Gemeinsamkeiten und Parallelen stärker als das Trennende – mindestens teilweise aus Gründen der politisch gewollten Konzeption als aus historisch-sachlichen Gründen. Die methodische Reflexion, hier in einigen Sätzen angerissen und auch im Katalog auf wenige Seiten beschränkt, ist dennoch eine der Stärken des vorliegenden Bandes, fehlt sie doch bei der Dokumentation anderer Ausstellungen zur homosexuellen Geschichte praktisch ganz.

Zu Transgender-Personen wurden in der Ausstellung und werden im Begleitband nur wenige Dokumente bzw. Objekte gezeigt, weil Transgender-Identitäten und -Lebenswelten zu sehr von denen von Lesben und Schwulen differieren (so Sulzenbacher, S. 6).

Der Katalogband stellt die vier Abteilungen der Ausstellung in vier großen Kapiteln vor: "Labor", "Stadt", "Spiegel" und "Leidenschaften", die jeweils durch das ganze 20. Jahrhundert führen. In der Ausstellung haben sich mir die Begriffe nicht ohne Weiteres erschlossen, in der Erläuterung und in der Zusammenschau im Katalog ergeben sie ein sinnvolles Gesamtbild. Das "Labor" zeigt den Blick von außen (Wissenschaft, Staat/Justiz, Kirche) auf ein am Ende des 19. Jahrhunderts neu entdecktes Objekt: die Homosexualität und die Homosexuellen. In der "Stadt" wird versucht, Spuren homosexuellen Lebens in der Wiener Topografie zu entdecken und (wieder) sichtbar zu machen. Im "Spiegel" geht es um die Repression: Die Verfolger sehen durch den Spiegel hindurch, die Verfolgten nur sich selbst und die Objekte ihrer Begierde. "Leidenschaft" dokumentiert die Liebe und das Begehren, die Suche nach dem Glück und nach der eigenen homosexuellen Identität, den Erfolg und das Scheitern dieser Bemühungen.

Das große Thema wird mit Hunderten von Texten jeder Art, mit Abbildungen, Kunstwerken, Überresten des privaten Lebens und des politischen Kampfes aus staatlichen Archiven und privaten Sammlungen Österreichs und des Auslands illustriert – zu viele, um hier auch nur wenige hervorzuheben. Im Katalogband sind diese Objekte knapp, manchmal zu knapp beschrieben, vielfach auch abgebildet; die Textdokumente sind dabei in der Regel leider so verkleinert, dass ihr Inhalt nicht zu entziffern ist. Zu wenigen Themen finden sich kurze erläuternde Essays (zum Beispiel: "Schwule und Lesben in Wien aus der Sicht der Polizei", S. 42f.; "Homosexualität und ORF", S. 71-73; "Andere Frauen – der erste bisher unbekannte Lesbenfilm aus Österreich", S. 106-109; "Ich bitte um freiwillige Entmannung", S. 169-171; "Artikulationen lesbischer Identitäten in den Frauenszenen der 1980er", S. 212-214).

Insgesamt ergibt sich ein buntes Mosaik aus vielen Steinen und mit zahlreichen Fehlstellen. Was fehlt und wie viel, ist dabei nicht klar, da, wie gesagt, die Forschung zum Thema fast noch am Anfang steht. Auf eine Bibliografie wurde verzichtet, was den Zugang zu weiterführenden Informationen und das Füllen dieser Fehlstellen nicht gerade erleichtert. Die Ausstellung lohnte eine Reise nach Wien, der Katalogband wäre nützlicher, wenn er ergänzend zur Ausstellungsdokumentation mehr Wert gelegt hätte auf Einordnung und Zusammenschau. Vielleicht ist es zu Letzterem aber auch noch zu früh.




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