Bernhard Rosenkranz / Gottfried Lorenz
Hamburg auf anderen Wegen

Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt, Hamburg: Lambda Edition, 2. Auflage 2006, 383 S., zahlreiche Abb., € 29,80 (Erstauflage 2005)

Cover

 

Rezension von Martin Sölle, Köln

Erschienen in Invertito 9 (2007)

Die beiden Autoren haben ein umfassendes Buch über schwules Leben in Hamburg vorgelegt, das dadurch hervorsticht, dass es nicht nur die Geschichte der Verfolgung beschreibt, sondern auch über Orte der Subkultur berichtet, Biographien wiedergibt und Bezüge zum kulturellen und politischen Leben der Hansestadt aufzeigt. Der Mitautor Bernhard Rosenkranz hat zusammen mit Ulf Bollmann die Initiative "Gemeinsam gegen das Vergessen – Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer" begründet, die im Frühjahr 2007 eine Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky zeigte. Darüber hinaus hat die Gruppe inzwischen Daten von über 100 ermordeten homosexuellen NS-Opfern in Hamburg für das Gedenkprojekt "Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig recherchiert (siehe auch den Beitrag von Ulf Bollmann und Bernhard Rosenkranz in diesem Band von Invertito).

Hamburg auf anderen Wegen beginnt mit einem Kapitel über die Weimarer Republik, in dem die Emanzipationsbewegung mit ihren unterschiedlichen Organisationen wie dem Bund für Menschenrecht und dem Deutschen Freundschaftsverband dargestellt wird. Auch die blühende kulturelle Szene wird geschildert, z.B. anhand von Personen wie Gustaf Gründgens, der in den 1920er Jahren avantgardistisches Theater machte und nach 1933 Generalintendant des Preußischen Staatstheaters war.

Es folgt ein Kapitel über die NS-Zeit, das besonders auf die Forschungen über die zwielichtige Zone der Spitzel und Erpresser eingeht und weitgehend auf den Ergebnissen der Dissertation von Stefan Micheler Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen" (2005) basiert. Verfahren nach § 175 RStGB gingen in Hamburg häufig nicht auf polizeiliche Ermittlungen zurück, sondern auf Denunziationen von Privatpersonen, die Nachbarn oder Kollegen etwas "anhängen" wollten. Erstaunlich bleibt, dass trotz einer immer systematischer werdenden Verfolgung die Folgen für die Betroffenen sehr unterschiedlich ausfielen. Eine Besonderheit in Hamburg war, dass die polizeiliche Verfolgung in großem Maßstab erst 1936 einsetzte. Die Lokale blieben noch eine Weile nach der Verschärfung des § 175 im Jahr 1935 geöffnet, weil bis dahin noch ein ansatzweise "homo-freundlicher" Chef der zuständigen Abteilung der Kriminalpolizei im Amt blieb; 1936 leitete ein Sonderkommando der Gestapo aus Berlin den Umschwung zum Schlechteren ein.

Die Nachkriegszeit zeichnete sich einerseits durch eine Situation der fortgesetzten Verfolgung aufgrund des Fortbestands des verschärften § 175 StGB aus, andererseits aber durch eine Neubelebung der Subkultur, besonders in der Kleinkunst. Dort lebte die Travestie wieder auf, die hier besonders eingehend geschildert wird. Daneben entstanden Gruppen und Zeitschriften, die für die Abschaffung des § 175 StGB kämpften. Konterkariert wurde dies durch administrative Maßnahmen wie das Tanzverbot für Männer mit gleichgeschlechtlichen Partnern im Jahr 1961 durch den Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD), der die Repression gegen Schwule in den 60er Jahren fortsetzte. Wer die Verfolgung durch Gestapo und Kriminalpolizei überlebt hatte, sah sich in diesem Klima außerstande, einen Antrag auf Wiedergutmachung zu stellen, da man damit rechnen musste, wieder mit Ermittlungen aufgrund des § 175 behelligt zu werden. In der Zeit zwischen 1949 und 1969 sind bundesweit ca. 50.000 Urteile aufgrund dieser Bestimmung gefällt worden – von der gesellschaftlichen Diskriminierung und dem Klima der Angst einmal abgesehen.

Nach 1969 begann das "Ende der Guckloch-Ära" (S. 169), eine neue Entwicklung hin zu öffentlicher Präsenz von Homosexualität, Coming-out und schließlich Kommerzialisierung der schwulen Szene. Die Kommerzialisierung ist heute unter anderem durch eine Vielzahl von Pornokinos sichtbar. Trotz Verboten, technischer Probleme und nicht immer einladender Sitzgelegenheiten sind die Kinos in Hamburg mehr noch als in anderen Städten an die Stelle der Klappen in ihrer Funktion als anonyme Treffpunkte getreten. Besonders hervorzuheben als spektakuläres politisches Ereignis ist die "Spiegel-Affäre" im Jahr 1980, als bekannt wurde, dass die Polizei seit den 1960er Jahren schwule Männer auf öffentlichen Toiletten durch Einwegspiegel bespitzelte und darüber Karteien anlegte. Dies geschah in einer Zeit, als man eigentlich glaubte, so etwas sei schon lange vorbei.

Abgeschlossen wird das Buch durch Kapitel über Homosexualität in der Literatur und der Kunst unter einem Hamburger Blickwinkel. Hier werden nicht nur Hamburger Personen dargestellt, sondern es wird auch auf die Rezeption und die Außenwahrnehmung von schwulem Leben eingegangen. Sehr deutlich wird die Bedeutung von schwulen Themen und schwulem Leben in der Kultur dadurch, dass die Zuhörer und Zuschauer in repressiven Zeiten ein viel stärkeres Bedürfnis nach Identifikation mit den Inhalten des Dargebotenen hatten.

Das Buch hat auch einen praktischen Gebrauchswert, da es drei Stadtrundgänge durch die Stadtteile Neustadt, St. Pauli und St. Georg sowie zwei Gänge über Hamburger Friedhöfe beinhaltet, wodurch der Leser vom "passiven Betrachter zum aktiven Kundschafter" werden kann.

Das Werk ist eine reichhaltige Materialsammlung von Quellen, Augenzeugenberichten und Fotodokumenten zu den genannten Themenkomplexen, gleichzeitig aber auch flüssig und spannend zu lesen. Die äußere Gestaltung ist sehr ansprechend durch eine Vielzahl von Fotos, eingerückten Dokumenten wie z.B. einem Toilettenverbotsschein von 1974 (S. 79) und Originalzitaten. Inhaltlich besticht es durch die Kombination einer Geschichte der Verfolgung mit dem subkulturellen Leben, einem historischen Ansatz, der bereits in vergleichbaren Projekten aus anderen Städten erarbeitet wurde. Gerade diese Dualität, die sogar in der nationalsozialistischen Zeit existierte, macht die Vielfalt homosexuellen Lebens aus. In den Kapiteln über die Kultur wird deutlich, wie schwules Leben bereits in vergangenen Zeiten über die Grenzen der Szene hinausging. Und nicht zuletzt würdigt es in der Aufarbeitung vieler Einzelschicksale die Opfer von Verfolgung und rehabilitiert sie, soweit das eine Publikation für ein zerstörtes Leben leisten kann.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 9