Thomas W. Laqueur
Solitary Sex
A Cultural History of Masturbation

New York: Zone Books, 2003, 501 S., € 19,95

Cover

 

Rezension von Henning Wötzel–Herber, Hamburg

Erschienen in Invertito 9 (2007)

Am Anfang war das Wort – und ein Buch: Onania. Und vor diesem Anfang und diesem Buch, das "in or around 1712" in London erschien, gab es keine nennenswerten Diskurse über und vor allem gegen Masturbation. Zwar wendeten sich mittelalterliche Bußbücher ebenso wie der bedeutende mittelalterliche Kirchenlehrer Thomas von Aquin gegen Masturbation, aber sie wurde hier als Randthema unter den diversen anderen sexuellen Sünden abgehandelt und galt als 'leichteste' aller 'widernatürlichen Sünden' schlimmstenfalls als 'traurige Ersatzhandlung'. Erst Onania, ein anonym veröffentlichtes Pamphlet führte dazu, dass zwei Jahrhunderte lang kaum Zweifel daran laut wurden, dass Selbstbefriedigung – je nach Autor und gesellschaftlichem 'Bedarf' – etwa Tuberkulose, Rückenmarkschwund, Epilepsie oder 'Schwachsinn' auslösen könne.

Thomas W. Laqueur verspricht im Untertitel seines Werkes Solitary Sex, eine Kulturgeschichte der Masturbation geschrieben zu haben. Eine Geschichte, die in jenem Buch ihren Ursprung (oder zumindest ihren entscheidenden Wendepunkt) haben soll, das den voluminösen Titel Onania: or, The Heinous Sin of Self Pollution, and all its Frightful Consequences, in both SEXES Considered, with Spiritual and Physical Advice to those who have already injured themselves by this abominable practise. And seasonable Admonition to the Youth of the nation of Both SEXES trägt. Als Autor dieser Schrift identifiziert Laqueur den britischen Arzt und Verfasser seichter Pornographie John Marten. Dieser habe als Quacksalber par excellence Onania erfolgreich als Marketinginstrument für den Vertrieb eigener Medikamente und Behandlungsmethoden gegen Selbstbefriedigung eingesetzt (S. 421).

Auf rund 500 Seiten stellt Laqueur dar, wie mit Onania die 'Krankheit' Onanie erfunden und das Pamphlet zum Schlüsseltext eines anti–masturbatorischen Diskurses während der Aufklärung wurde, der in medizinische und moralische Auseinandersetzungen ebenso wie in die Literatur eindrang. Dabei ist eine zentrale Fragestellung in Solitary Sex, warum dieser Diskurs gerade mit dem Aufkommen der Aufklärung entstehen konnte. Laqueur zufolge habe es weder eine tatsächliche noch eine wahrgenommene Zunahme von Masturbation oder deren vermeintlichen Folgen gegeben und auch durch Lustfeindlichkeit sei der Anti–Onanie–Diskurs nicht zu erklären. Vielmehr sei die "Verfügbarkeit und Akzeptanz von [zweigeschlechtlichem] Geschlechtsverkehr" als soziale Interaktion auch außerhalb der Ehe gestiegen. Während sich zweigeschlechtlicher Sex normativ als 'natürlich' festigen konnte, wurde Onanie als Nicht–Sex und Nicht–Lust abgetan, die unnatürlich sei, weil sie nicht einmal potenziell der Reproduktion diene. Der biblische Onan, der seinen Samen auf die Erde fallen ließ (1. Mose 38, 1–11) und von der katholischen Kirche mahnend als Beispiel für Coitus interruptus dargestellt worden war, mutierte in Onania zum Masturbator in säkularer Bibelauslegung. Laqueur macht neben dem 'verschwendeten Samen' vor allem drei 'aufklärerische' Diskursmotive aus, mit denen Selbstbefriedigung als unnatürlich dargestellt wurde: Masturbation entziehe sich erstens der Überwachung und Sanktionierbarkeit, sie habe zweitens keinerlei Bezug auf ein 'reales Objekt', sondern entstehe allein aus der Phantasie heraus, und drittens sei Onanie durch ihren nicht–sozialen Charakter gekennzeichnet. So findet sich etwa in Jean Jacques Rousseaus Erziehungsschrift Emile der Hinweis an die Leser, dass die Wahl einer 'falschen Frau' immer noch besser sei als Masturbation. Durch diese 'unnatürliche Praktik' werde der junge Emile zum Sklaven seiner selbst.

Die Kulturgeschichte der Masturbation bringt Laqueur in Zusammenhang mit der aufklärerischen Ablösung der Religion als zentrale Instanz zur Erklärung der Welt durch Medizin und Moral. Demnach wurde die göttliche Ordnung durch eine 'natürliche' abgelöst, die den menschlichen Körper bestimme, welche jedoch als sozial überformt und bedroht wahrgenommen wurde. Die Medizin sei zum Maßstab für die 'Verletzungen' des Körpers durch soziale Praktiken (wie die Selbstbefriedigung) geworden, die erst durch die Moral eingeordnet werden konnten. Umgekehrt füllte der Arzt die Lücken im Wissen des Moralisten (vgl. S. 41). So warfen sich Moral und Medizin gegenseitig die Bälle zu und füllten ihre argumentativen Lücken mit Behauptungen aus ihren eigenen Diskursen. Immanuel Kant etwa thematisierte Onanie als Akt 'unnatürlicher Selbstschändung'. Selbstbefriedigung sei noch schlimmer als Selbstmord, da sich Selbstmord nur gegen die eigene Person richte, Onanie hingegen gegen die gesamte Menschheit.

Laqueur problematisiert den Androzentrismus im Anti–Onanie–Diskurs und die weitestgehende Ignoranz weiblicher Sexualität und bleibt doch selbst diesem Dilemma verhaftet. So finden zwar im letzten Kapitel ("Solitary Sex in the Twentieth Century") feministische Auseinandersetzungen über Masturbation Erwähnung, in der Regel scheint sich jedoch auch Laqueur überwiegend auf 'männliche' Autoerotik zu beziehen, wenn er über Selbstbefriedigung schreibt. Die weibliche Selbstbefriedigung bleibt der Spezialfall. Sie taucht vor allem in Abbildungen des Buches überproportional auf oder wenn Laqueur die Dildo–Industrie und die Kommerzialisierung der Masturbation beschreibt.

Wenngleich sich Onania und nachfolgende Anti–Masturbationsschriften auf "both sexes" beziehen, stellt Laqueur heraus, dass die Figur der sich selbst befriedigenden Frau darin weniger in den Blick genommen oder gar als geringeres Problem betrachtet wird. Dies könnte mit den vermeintlichen Folgen von Masturbation zusammenhängen. So phantasierte der Arzt Samuel Auguste Tissot zwar, dass Onanie Männer und Frauen gleichermaßen unattraktiv, plump und schwach mache (vgl. u.a. S. 257), doch nur im Männerbild schien Schwäche ein Problem darzustellen.

Laqueur identifiziert den Anti–Onanie–Diskurs als heterosexistisch, da in diesem frauenliebende Männer durchgehend als Norm und Maßstab für Abweichungen benutzt würden. In dem Diskurs ließen sich zwar nicht zwangsläufig Kausalitäten zwischen Onanie und Homosexualität erkennen, ausgehend vom biblischen Onan als Schlüsselfigur nicht–normativen Sex' sei jedoch deren Verbindung kanonisch geworden: männerliebende wie selbstbefriedigende Männer hätten nicht nur den das 'Closet' geteilt, sondern galten auch gleichermaßen als 'Frauenhasser' und Selbstbeschmutzer. Es gebe jedoch keine klare Linie in der Darstellung, wie dieser 'link' zwischen Selbstbefriedigung und Homosexualität bzw. 'Sodomie' aussehen sollte (vgl. S. 255ff.) Und zumindest bei Laqueur findet diese Verbindung auch nur beiläufig Erwähnung.

Laqueur stellt in Solitary Sex allemal interessante Anekdoten von der Antike bis heute vor. Wir erfahren, wie Masturbation in der griechischen und römischen Antike belächelt wurde, dass in Charles Dickens' Oliver Twist eine Gestalt namens Master Bates als verspotteter, kränklicher Mann metaphorisiert wird, der den sofort identifizierbaren Masturbator verkörpert, und dass deutsche Pädagogen im 19. Jahrhundert die 'richtige' Erziehung als Mittel zur Verhinderung von Selbstbefriedigung vorschlugen. Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Onanie als Erklärungsmuster von Krankheiten von Bakterien und anderen Krankheitserregern abgelöst, und erst die Psychoanalyse konnte nach dem Ende der Dominanz des medizinisch–naturwissenschaftlichen Onanie–Diskurses mit einer Erklärung als psychischer Defekt, Sucht oder Übergangsstadium zur 'richtigen' Sexualität neue Bedeutungen der Selbstbefriedigung kreieren.

Solitary Sex bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Masturbation (bzw. der Diskurse darüber) und ist trotz zahlreicher Wiederholungen eine interessante Lektüre. Allerdings wirken die Diskurs–Puzzlestücke, die Laqueur zusammenträgt, trotz ihrer Fülle zum Teil eher zufällig und ohne unmittelbaren Bezug zueinander. Wie und wo der Diskurs von einem Text in den anderen, von einer Epoche in die nächste oder einer Disziplin in die andere getragen wurde, bleibt oftmals unbeleuchtet. Während Laqueur anschaulich darlegt, wie sich der durch Onania ausgelöste Diskurs über ein neuartiges Vertriebsnetz per Kaffeehäuser und durch die Aufnahme des Schlagwortes l'onanisme als Krankheitsbild in Diderots Encyclopédie verbreitet, bleibt an anderen Stellen unklar, wie Laqueur seine Materialauswahl vorgenommen hat und wie sich welche historischen Bezüge und Referenzen begründen. Eine Begründung oder auch nur eine Darlegung seines methodischen Vorgehens bleibt Laqueur schuldig.

Leider bleiben spannende Thesen des Autors oft unbelegt, Fragen werden nicht beantwortet. So werden wir etwa mit der Behauptung allein gelassen, dass Selbstbefriedigung demokratisch sei und sich dazu eigne, Genderbarrieren zu durchbrechen und sich dem Marktprinzip zu entziehen, dem Sex und Lust unterworfen seien (S. 289). Dass dies im Widerspruch zu normativer Zweigeschlechtlichkeit, die noch immer mit (Anti–)Masturbations–Diskursen verbunden zu sein scheint, oder aber zu dem wachsenden Geschäft mit der Selbstbefriedigung steht, kann aus dem Schlusskapitel nur zwischen den Zeilen gelesen werden. Zum Schluss bleibt ein Anfang zum Weiterdenken.




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