Kirsten Plötz:
Als fehle die bessere Hälfte.

"Alleinstehende" Frauen in der frühen BRD 1949-1969, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2005, 357 S., € 34,90

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Kirsten Plötz:
Lesbische ALTERnativen.

Alltagsleben, Erwartungen, Wünsche, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2006, 256 S., € 20

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Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 8 (2006)

In zwei aufeinanderfolgenden Jahren veröffentlichte Kirsten Plötz im Ulrike Helmer Verlag zwei interessante, auf Interviews basierende Studien. Während sich Plötz in Lesbische ALTERnativen ausschließlich für Alltagswünsche und Erwartungen lesbisch lebender Frauen interessiert, geht es ihr in Als fehle die bessere Hälfte um die Lebensumstände lediger, geschiedener und verwitweter Frauen in der Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1969.

Im Jahre 1946 lebten in Westdeutschland über 5 Millionen mehr Frauen als Männer; von den rund 17,7 Millionen volljähriger Frauen (1950) waren rund 3,4 Millionen ledig, rund 3 Millionen Witwen und knapp 390.000 geschieden, d.h. mehr als ein Drittel aller volljährigen Frauen war unverheiratet.

Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 gegründet wurde, schien es gesellschaftspolitisch unumgänglich, dieser Frauenmehrheit, die als "Frauenüberschuss" wahrgenommen wurde, einen Platz innerhalb der Gesellschaft zuzuweisen.

Unverheiratete Frauen wurden üblicherweise als "alleinstehend" bezeichnet, obwohl sie häufig nicht allein lebten. Selbst wenn sie mit Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie, mit Kindern, Freundinnen, Lebensgefährtinnen zusammenlebten, jedoch nicht verheiratet waren, galten Frauen als "alleinstehend". Diese Definition wurde für ledige, verwitwete oder geschiedene Frauen verwandt, was den hohen Stellenwert der Ehe zeigt und belegt, dass "alleinstehend" zu sein als ein Defizit wahrgenommen wurde. Nur mit einem Ehemann an ihrer Seite war Frauen in der frühen Bundesrepublik ein anerkannter Platz innerhalb der Gesellschaft sicher.

Kirsten Plötz untersucht in Als fehle die bessere Hälfte, wie sich "alleinstehende" Frauen mit der rigorosen Normierung arrangierten, welche Zuschreibungen sie anerkannten, in welchem Verhältnis sie zu ihren Gatten, aber auch zu anderen Ehepaaren standen, an welche intimen Beziehungen sie sich erinnern und welche Wege sie hinsichtlich zentraler materieller Faktoren wie Erwerbsarbeit oder Wohnverhältnisse suchten. Zusätzlich fragt Plötz nach Beziehungen unter "alleinstehenden" Frauen, sich dabei an Differenzen, Konflikten und Hierarchien orientierend. Eine repräsentative Geschichte "alleinstehender" Frauen ist dabei nicht ihre Zielsetzung. Als Quellen dienen Kirsten Plötz die von ihr geführten problemzentrierten Interviews - Gespräche mit insgesamt zehn Frauen, von denen die älteste 1910, die jüngste 1941 geboren wurde - außerdem zeitgenössische Zeitschriften und politische Debatten. Zusätzlich verwendet sie Materialien zur Rechtslage, zur Renten- und Arbeitsmarktpolitik sowie zur Wohnungszuweisungspraxis.

Plötz verbindet Alltags- und Geschlechtergeschichte, davon ausgehend, dass auf diese Weise deutlich wird, wie Geschlechterverhältnisse konkret gedeutet und ausgehandelt wurden und wie sie sich wandelten. Den Interviews stellt sie einen chronologischen Überblick zur Frauen- oder besser Familienpolitik der Bundesrepublik voran, in der als bewusster Gegenentwurf zum Nationalsozialismus einerseits und zur Sowjetisch Besetzten Zone/DDR andererseits die auf einer "natürlichen Ordnung" beruhende Gattenfamilie propagiert wurde. Ziel dieser Politik war es, die so genannte Normalfamilie als die Norm (wieder-)herzustellen: Familien, in denen die Mutter mindestens zweier Kinder nicht erwerbstätig war, während der Gatte als Ernährer und Autorität fungierte. (Unberücksichtigt blieb in diesem Zusammenhang laut Plötz, dass diese "Normalfamilie" gar nicht rekonstruiert werden konnte, weil sie nie zuvor als mehrheitlich praktizierte Lebensform existiert hatte.) Zwar wurde der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ins Grundgesetz aufgenommen, die politische Praxis sah aber zum Beispiel bei der Wohnungsvergabe eine Bevorzugung der so genannten Gattenfamilie vor. Diese Richtlinie verfolgte das Bundesfamilienministerium unter seinen Ministern Franz-Josef Wuermeling (1953-1962) und Bruno Heck (1962-1968), beide CDU. Laut Plötz schlug sich die Politik für die so genannte Normalfamilie ab 1960 demographisch nieder: "Die Geburtenrate stieg, der 'Baby-Boom' setzte ein" (S. 47).

Kirsten Plötz hat jeweils drei bzw. vier verwitwete, geschiedene und ledige Frauen interviewt. Nach jeder Gruppe fasst sie die wesentlichen Ergebnisse zusammen. Zuerst beschäftigt sie sich mit den verwitweten Frauen. Diese wurden in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik unter den "alleinstehenden" Frauen am meisten geachtet, vor allem die so genannten Kriegerwitwen, wobei Plötz allerdings feststellt, dass diese einen deutlich geringeren gesellschaftlichen Status gegenüber Ehefrauen hatten, da sie eben ohne Ehemann waren. Ihr Ansehen nahm bis Mitte der 1960er Jahre zunehmend ab, da sie innerhalb der Gesellschaft nun mehr und mehr als "Relikt der Vergangenheit" (S. 258) wahrgenommen wurden, während demgegenüber ledige Berufstätige sowohl als Ausdruck des Wirtschaftswunders als auch als potenzielle Gattinnen verstanden werden konnten. Zentrales Erinnerungsthema ist für alle Witwen die Einsamkeit, wobei die Gatten weniger als konkrete Persönlichkeiten vermisst werden, sondern offensichtlich eher hinsichtlich der sozialen Funktionen, die sie ausgefüllt hatten. Eine erneute Partnerschaft sollte - wenn überhaupt (so die gesellschaftliche Norm) - nur in einer Ehe stattfinden. Witwen sollten weiterhin treue Ehefrauen ihrer verstorbenen Gatten sein. Die sogenannte Onkelehe - das Zusammenleben heterosexueller unverheirateter Paare - galt überwiegend als moralisch verwerflich. Die drei interviewten verwitweten Frauen antizipierten bzw. erlebten laut Plötz eine intime nichteheliche heterosexuelle Beziehung als einen möglichen, aber ausgesprochen konflikthaften Ausweg aus ihrer Einsamkeit als Witwe. Gleichgeschlechtliche Intimbeziehungen scheinen keine Alternative geboten zu haben. Keine der interviewten Witwen sprach eine Lebensgemeinschaft mit einer Frau als Möglichkeit oder Erfahrung an. Kurzum: Witwen hatten sich still, trauernd und leidend in ihr Schicksal zu fügen; so das gesellschaftlich korrekte Verhalten.

Die Situation der geschiedenen Frauen sah anders aus: Anstatt die vorgegebene Hierarchie innerhalb einer Ehe zu akzeptieren, reichten die drei interviewten geschiedenen Frauen die Scheidung ein, weil sie den Ehegatten nicht als uneingeschränktes Oberhaupt über die Gestaltung ihrer Ehe, ihren Körper, ihre Reproduktionsleistungen oder ihr Eigentum anerkennen wollten. Damit lagen sie im Trend der Zeit: Ende der 1940er Jahre kam es zu einem regelrechten "Scheidungsboom". Zwar wurde die Möglichkeit der Ehescheidung von der Gesellschaft überwiegend bejaht, der soziale Status der geschiedenen Frau allerdings dem der Ehefrauen und Witwen untergeordnet. Die Geschiedenen verfügten über ein geringeres Ansehen, weil sie persönlich versagt zu haben schienen: "Das Ende einer Ehe als individuelles Versagen zu beschreiben, war die vorherrschende Deutungsweise und ist bis in die Gegenwart üblich" (S. 175). Damit korrespondiert auch eine Umfrage aus dem Jahre 1963, in welcher nur neun Prozent der geschiedenen Frauen meinten, sie seien glücklich, was zeigt, dass die fehlende gesellschaftliche Anerkennung große Auswirkungen auf das seelische Wohlbefinden der Frauen hatte. So wurde zum Beispiel in den Massenmedien Glück für eine geschiedene Frau nur durch eine zweite Heirat als denkbar angesehen.

Unter der Überschrift "Mein Leben fand nicht in der Öffentlichkeit statt" schildert eine ledige Frau, Jahrgang 1918, intime gleichgeschlechtliche Beziehungen in ihrer Mädchenzeit und seit den 1970er Jahren, wobei ihr Konflikt um die Sichtbarkeit ihres Liebeslebens sehr deutlich wird. Das soziale Umfeld verlangte, nicht mit der Intimität ihrer Freundschaften konfrontiert zu werden. Die von ihr antizipierten Sanktionen, falls sie sich nicht an diese "Regel" hielt, stellt sie in einen Kontext mit Bestrafungen ihrer Schwester für deren außereheliche heterosexuelle Sexualität. Plötz resümiert: "Ob außereheliche Intimbeziehungen gleich- oder gegengeschlechtlich waren, scheint weniger schwer zu wiegen als die Tatsache, dass diese außerhalb einer Ehe stattfanden" (S. 223). Deshalb mag es auch kaum verwundern, dass sich für die interviewte Frau das Klima des Nationalsozialismus nicht erkennbar von dem der Bundesrepublik unterschied. Die ledig gebliebenen Frauen erinnern sich insgesamt an ein hohes Maß an elterlicher Autorität; ihre eigene Erziehung war auf Gehorsam ausgerichtet. Vor allem aber wurden sie von der Gesellschaft mit dem Stigma der Unweiblichkeit behaftet, weil - so die gängige Meinung - "die Frau erst durch die sexuelle Begegnung mit einem Mann und durch die Geburt von Kindern ein ganzer Mensch und eine richtige Frau werde" (S. 249), was sie in der sozialen Hierarchie unter die Witwen und Geschiedenen stellte. Gesellschaftliche Anerkennung erfuhren ledige Frauen nur, wenn sie sich "anständig" benahmen, das heißt Erotik und Sexualität unterdrückten.

In ihrer Schlussbemerkung fasst Kirsten Plötz die wesentlichen Ergebnisse ihrer Arbeit zusammen. Hierbei betont sie nochmals, dass die staatlicherseits betriebene besondere Aufwertung der Ehe bzw. Gattenfamilie jegliche alternative Beziehungsform nicht nur erschwerte, sondern auch abwertete. Homosoziale Lebensweisen in Form enger Frauenfreundschaften oder gemeinsamen Wohnens wurden in der öffentlichen Wahrnehmung seit den 1950er Jahren zunehmend ignoriert bzw. als altmodisch oder verzichtbar dargestellt. Ähnliches gilt auch für über Frauenberufe hergestellte homosoziale Lebensweisen. Kirsten Plötz hält fest, dass sich trotz aller staatlichen Eingriffe eine Form von "Widerspenstigkeit" gegenüber dem Primat der Gattenfamilie erhalten habe. Auch waren es in zunehmendem Maße die verheirateten Frauen, die ihre Unzufriedenheit in der Ehe in Form von Scheidungen ausdrückten. Vielen Frauen blieb aber zunächst nichts anderes übrig als zu heiraten, um aus der Obhut der Eltern zu gelangen, materiell besser gestellt zu sein, vor allem auch um eine bessere, größere Wohnung beziehen zu können.

Dass sich das Primat der Ehe (vgl. auch Artikel 6, Absatz 1 des Grundgesetzes) bis heute gehalten hat, zeigt sich daran, dass die Ehe weiterhin ökonomisch wie ideell privilegiert bleibt, was sich laut Plötz unter anderem an der Diskussion um die Homo-Ehe gezeigt habe.

Was die Veränderungen in Bezug auf die Ehe betrifft, so benutzt Kirsten Plötz ganz bewusst den - wertneutralen - Begriff "Wandel" und nicht Begriffe wie Restauration oder Modernisierung. Die in der bundesrepublikanischen Forschung seit vielen Jahren erörterte Frage nach Kontinuitäten und Brüchen bzw. nach Restauration und Modernisierung erscheint Plötz sowohl für alleinstehende Frauen wie auch für die Ehe keine sinnvolle Gegenüberstellung.

Kirsten Plötz hat ein interessantes Stück Alltags- und Geschlechtergeschichte zwischen 1949 und 1969 zu rekonstruieren versucht und dabei auch einen Bogen in die heutige Zeit gespannt. Wenn es aber im Klappentext heißt: "Im Spiegel zeitgenössischer Zeitschriften, Filme, politischer Debatten und Beschlüsse, sozialer Praxen sowie eigener qualitativer Interviews werden weibliche Biografien der Nachkriegszeit lebendig", so kann ich dieser Aussage nur bedingt zustimmen. Sicherlich werden im ersten Teil der Arbeit wesentliche Aspekte der Familienpolitik dargestellt, aber Filme und Zeitschriften werden allenfalls am Rande erwähnt. Generell stellt sich die Frage, inwieweit aus den Interviews von insgesamt zehn Frauen allgemeingültige Aussagen abgeleitet werden können und dürfen. Nicht zuletzt bleibt anzumerken, dass die Situation lesbischer Frauen zwar angesprochen, aber nicht vertieft wird.

"Alltagsleben, Erwartungen, Wünsche" lesbischer Frauen sind Thema von Plötz' 2006 erschienener Studie Lesbische ALTERnativen. Auf der Basis von 33 Interviews mit Frauen aus Niedersachsen geht Kirsten Plötz dem Verhältnis lesbisch lebender Frauen zum Alter bzw. Altern auf den Grund. Zwei Drittel der Interviews wurden mit lesbisch lebenden Frauen ab 55 Jahren geführt, ein weiteres Drittel mit lesbisch lebenden Frauen Mitte 30, wodurch sich auch die Möglichkeit des Vergleichs ergab. Die Themenpalette der Gespräche reicht von Anerkennung lesbischen Lebens über Wohnen, materielle Möglichkeiten und Begrenzungen, soziale Bindungen und Wahlfamilien sowie körperliches Erleben. Die Interviews geben Gelegenheit, verschiedene Formen des lesbischen Alterns bzw. Alterns an sich in einer größeren Bandbreite zu erforschen. Plötz konzentrierte sich dabei nicht nur auf die Probleme, sondern fragte auch nach dem Alltag. Dabei interessierte sie sich vor allem dafür, warum die Frauen auf eine bestimmte Weise über ihr Leben sprechen, was sie auslassen und auf welchen historischen Kontext sie sich beziehen. Neben dieser - wie Plötz es nennt - "Bestandsaufnahme" ist ein weiteres Ziel der Studie, Vorschläge für eine angemessene Alten- bzw. Sozialpolitik abzuleiten. Parallel zu Plötz' vom Land Niedersachsen finanziell geförderter Studie erarbeitete Michael Bochow eine Studie über schwules Altern.[1] In einem gemeinsam verfassten Schlusskapitel diskutieren beide die "Erfordernisse einer zielgruppenspezifischen Sozialpolitik" (S. 226-233).

Im Rahmen dieser Rezension ist es nicht möglich, Plötz' "Bestandsaufnahme" umfassend zu referieren. Einige interessante Aspekte möchte ich herausgreifen. Lesbisches Altern bedeutet unter anderem, die Spannungen auszubalancieren, die durch Privilegierungen des heterosexuellen bzw. Abwertungen des lesbischen Lebens entstehen. So antworteten die meisten Frauen auf die Frage, was sich in der Gesellschaft verbessern sollte, mit dem Wunsch nach mehr Anerkennung des lesbischen Lebens. Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung macht sich in fast allen Lebensbereichen bemerkbar, wobei die Benachteiligung im Bereich der materiellen Alterssicherung besonders prekär ist. Viele Frauen lassen auch ihr soziales Umfeld im Unklaren darüber, dass sie lesbisch leben. Dahinter steht die Furcht, als offen lesbisch lebende Frau abgelehnt oder sogar bedroht zu werden. Die überwiegende Mehrheit der älteren lesbischen Frauen steht der professionellen Altenarbeit negativ gegenüber. Keine der interviewten Frauen geht zum Beispiel davon aus, im Altenheim ihre Würde wahren zu können. Der Alternative lesbischer Wohnprojekte begegnen vor allem die nicht offen lesbisch lebenden Frauen mit Skepsis; dahinter steckt die Furcht, dass sie sich in einem solchen Wohnprojekt auch für die Öffentlichkeit zu ihrem Lesbischsein bekennen müss(t)en bzw. dass sie sich dann in einer Art von lesbischem "Ghetto" bewegen würden.

Der Umgang mit dem Stigma des lesbischen Lebens ist von Frau zu Frau sehr verschieden. Jede dieser individuellen Management-Strategien (vom Verleugnen der Diskriminierung bis hin zu deren Bagatellisierung) ist insofern erfolgreich, als sie den Frauen erlaubt, überhaupt lesbisch zu leben. Bei aller Differenz im Stigma-Management sind sich die interviewten lesbischen Frauen einig darin, dass lesbisches Leben nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt bleiben, sondern als Teil der gesellschaftlichen Realität und Normalität anerkannt werden soll. So erhoffen sich alle interviewten Frauen eine Gesellschaft, in der vielfältige Beziehungsformen als Bereicherung und Normalität empfunden werden.

Weiterhin entnimmt Plötz jeder Lebensgeschichte, dass das lesbische Leben nicht ohne ein ständiges und kontinuierliches Beharren auf Selbstständigkeit bzw. Eigensinn möglich wäre, denn erst der Eigensinn eröffnet die Möglichkeit sich gegen die Stigmatisierung behaupten zu können. So beharrten alle interviewten Frauen irgendwann in ihrer Lebensgeschichte darauf, sich nicht länger den normativen Vorgaben zu beugen, sondern dem eigenen Sinn ihres Lebens nachzugehen. Dies fordert viel Stärke, Kraft und Energie und kann einhergehend mit den Stigmatisierungen körperliche Beschwerden und (seelische) Krankheiten verursachen. Viele Frauen zeigen ein hohes Maß an Ablehnung gegenüber Hierarchien und Vorschriften - darin liegt auch die grundsätzliche Ablehnung von Altersheimen begründet, in welchen man nur gegängelt bzw. bevormundet werde. Seitens der Frauen wird das Wohnen alleine oder im Paar dem in einer Institution vorgezogen, wobei Plötz anmerkt, dass das gesellschaftliche Umfeld das Wohnen als lesbisches Paar nicht grundsätzlich als normal ansieht. So unterbleibt oft in Krisensituationen (Krankheit, Trennung des Paares, Tod einer Partnerin) nachbarschaftliche Unterstützung. Grundsätzlich bedeutet Wohnen alleine oder im Paar für die Frauen zwar ein Mehr an Autonomie, aber der immer wieder geäußerte und betonte Wunsch nach einem gut funktionierenden sozialen Netz in Krisensituationen zeigt, dass den Frauen durchaus bewusst ist, welchen Preis sie für ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit zahlen müssen. Trotz des Risikos der Vereinsamung bevorzugen viele Frauen ein Leben in den eigenen vier Wänden. Auffällig ist, dass die meisten Frauen, die alleine oder im Paar wohnen, keine Vorsorge für den Fall einer schweren oder lang anhaltenden Krankheit getroffen haben, vielleicht - so die Vermutung der Rezensentin -, weil sie einfach die Augen vor einer solchen Situation verschließen, eine nicht unbedingt lesbenspezifische Reaktion.

Plötz resümiert: "Es ist schwer, Eigensinn, den Wunsch nach Autonomie und benötigte Unterstützung auszubalancieren" (S. 221). Unterstützung erwarten und erhoffen sich die Frauen in den sozialen Netzwerken; dabei spielen Familienangehörige (eigene Kinder, Geschwister) keine Rolle. Offensichtlich ist Abhängigkeit von den eigenen Kindern eine negative Vision. Grundsätzlich spielen in dieser Hinsicht auch Männer (ob heterosexuell oder schwul) keine Rolle. Die sozialen Netzwerke bestehen weitgehend aus anderen Frauen. Dabei haben neben der Lebensgefährtin bzw. Geliebten auch Freundschaften, die häufig aus früheren intimen Beziehungen hervorgegangen sind, eine wichtige Funktion. Eine wichtige Rolle spielt für viele Frauen auch die so genannte "Szene", also Orte und Beziehungsgeflechte, in denen das lesbische Leben als selbstverständlich gilt. Die "Szene" umfasst ein breites Spektrum: Frauensportgruppen, -zentren, Cafés, Selbsthilfegruppen. Allerdings bedauern viele Frauen, dass innerhalb der Szene altersgerechte Begegnungsmöglichkeiten fehlen. Auch dieser Mangel hat Isolation und Vereinsamung zur Folge; ein Austausch mit anderen lesbischen Frauen über spezifische Probleme lesbischen Alterns ist kaum möglich. Wiederholt äußern die Frauen, wie schwer es ihnen generell fällt, ihre Wünsche zu entdecken und zu formulieren. Hier fehlt es laut Plötz an Vorbildern: "Könnten sich die Frauen mehr daran orientieren, welche Herangehensweisen, Haltungen, Deutungen oder Lösungen andere Frauen für ihr lesbisches Altern gefunden haben, würde dies vieles erleichtern." (S. 225). Da aber lesbisches Leben älterer Frauen in der Öffentlichkeit so gut wie nicht wahrgenommen wird, ältere Lesben quasi gesellschaftlich unsichtbar sind, sind auch kaum Vorbilder lesbischen Alters im Umlauf, so Kirsten Plötz.

Welche Schlussfolgerungen zieht Kirsten Plötz (gemeinsam mit Michael Bochow) daraus für eine zielgruppenspezifische Sozialpolitik? Eine nichtdiskriminierende Sozialpolitik sollte voraussetzen, dass ihre Maßnahmen auch dann lesbische Frauen treffen, wenn diese sich nicht zu Wort melden. Eine solche Sozialpolitik sollte alles tun, um ein offenes Leben zu erleichtern. Ein weiteres Ziel wäre die Entstigmatisierung von Homosexualität in Führungspositionen, was in deutlich höherem Maße für lesbische Frauen als für schwule Männer gilt. Hier ist laut Plötz und Bochow eine Förderung offen lesbisch lebender Frauen und schwuler Männer notwendig, angelehnt am Gender-Mainstreaming. Das in diesem Kontext angesprochene Beispiel, dass die Vorstellung einer lesbischen Bundeskanzlerin kein Befremden mehr auslösen dürfe (S. 228), wirkt dann wohl doch etwas plakativ. Gefordert sei aber auch die Bildungsarbeit, da bislang die Sozialinstanzen wie selbstverständlich von einer "heterosexuellen Vorannahme" ausgehen: lesbische/schwule Eltern oder Großeltern sind in unserer Gesellschaft bislang nur selten sichtbar.

Besonders wichtig erscheint Plötz und Bochow eine spezifische Sensibilisierung und Qualifizierung des Pflege- und Betreuungspersonals in Altenheimen, aber auch von ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten. Generell sollte das kulturelle und gesellschaftliche Angebot kommunaler und freier Träger für Seniorinnen und Senioren sich für Programmschwerpunkte öffnen, die auf spezifische Interessen von lesbischen und schwulen älteren Menschen eingehen. Daneben sollten auf Eigeninitiative basierende Projekte wie Cafés, informelle Stammtische und Ähnliches von Städten und Kommunen zumindest durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten gefördert werden. Plötz und Bochow schlagen unter anderem auch eine besondere (staatliche) Förderung beim Erwerb von Immobilien (Wohnen in Mehrparteienmietshäusern) vor. Die meisten Erfordernisse sind im Grunde genommen bekannt (z.B. Altersheime); die Vorschläge bleiben doch recht vage und sind in Zeiten leerer Haushaltskassen kaum realisierbar.

Plötz' Studie richtet sich weniger an lesbisch lebende Frauen; diesen sind die spezifischen Probleme lesbischen Alterns bekannt. Meines Erachtens sind diejenigen das Zielpublikum dieser Studie, in deren Berufsfeld der Umgang mit älteren Menschen liegt. Da immer wieder längere Passagen aus den Interviews wiedergegeben werden, wirkt die Arbeit auch weniger wissenschaftlich: Kirsten Plötz lässt die Frauen selbst zu Wort kommen. Auf diese Art und Weise wird ein authentisches Bild der Lebenssituation älterer lesbischer Frauen vermittelt.

Lesbische ALTERnativen ist sicherlich eine interessante soziologische Studie, die auch politische Forderungen beinhaltet, den historischen Hintergrund allerdings außer Acht lässt. Viele Befunde, die in Lesbische ALTERnativen geschildert werden, ließen sich durch die Ergebnisse aus Als fehle die bessere Hälfte erklären. Unter Berücksichtigung der anvisierten Zielgruppe wäre es durchaus hilfreich gewesen, in die Studie ein Kapitel einzufügen, das den historischen Kontext erschließt und Bezug nimmt auf die Ergebnisse aus Als fehle die bessere Hälfte.

[1] Bochow, Michael: Ich bin doch schwul und will es bleiben. Schwule Männer im dritten Lebensalter, Hamburg: MännerschwarmSkript 2005.




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