Walter Fähnders / Sabine Rohlf (Hg.):
Annemarie Schwarzenbach. Analysen und Erstdrucke.

Mit einer Schwarzenbach-Bibliographie, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, 349 S., € 24,80
Mit Beiträgen von Tina D'Agostini, Fosco Dubini, Walter Fähnders, Silvia Henke, Helga Karrenbrock, Gesa Mayer, Dominique Laure Miermont, Roger Perret, Sabine Rohlf,Kerstin Schlieker, Alexis Schwarzenbach, Andreas Tobler und Gonçalo Vilas-Boas

Cover

 

Rezension von Jolanda Bucher, Basel

Erschienen in Invertito 7 (2005)

Als Dichterin, Reise-Schriftstellerin und Journalistin hat Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) ihr Leben schreibend zuwege gebracht. Nomadin zwischen den literarischen Genres, sammelte sie ihr Textmaterial durch verschiedenste Landschaften und Städte reisend. "Wirklich, ich lebe nur wenn ich schreibe." (S. 7) Dieses Motto der Schweizer Autorin übernehmen Sabine Rohlf und Walter Fähnders für ihren Sammelband, der die LeserInnen auf eine ungewöhnliche Reise mitnimmt. Ihr Vorhaben, das Bild Annemarie Schwarzenbachs zu "modifizieren und erweitern" (S. 19), veranschaulicht sich bereits in der Wahl des Umschlagfotos: Annemarie Schwarzenbach, unmittelbar vertieft in den Schreibprozess, den Blick von den BetrachterInnen abgewandt. In einem der Briefe, die in der vorliegenden Publikation erstveröffentlicht werden, beschreibt Annemarie Schwarzenbach selbst, dass ihr das Schreiben sozusagen als das einzig angemessene Mittel erscheint, sich mit der Welt und den Menschen in Beziehung zu setzen. In diesem Sinne gehen die Analysen des Bandes, mit kritischen Verweisen auf die bisherige biographisierende Rezeption, in erster Linie vom Schreiben Annemarie Schwarzenbachs auS. In differenzierter Weise werden anhand einzelner Werke, Textsorten oder Motive intertextuelle Verbindungen und literarische Vorbilder mit einbezogen. Beispielsweise legt Tina D'Agostini an der Vielgestaltigkeit des Schattenmotivs dar, wie sehr Innen- und Außenwelt in Schwarzenbachs Texten miteinander verzahnt sind. Jedoch geht es nicht darum, Biographisches auszublenden - um nochmals auf das Umschlagbild zurückzukommen: Annemarie Schwarzenbach bleibt im Bild, aber mit der Unschärfe der historischen Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf einen vergangenen Kontext verweist. Diese 'Distanz' zu berücksichtigen ist ein wichtiges Anliegen des BandeS. Durch die kulturhistorischen Analysen eröffnet sich eine spezifische 'Ungleichzeitigkeit', sowohl hinsichtlich der Person Annemarie Schwarzenbach als auch in Bezug auf ihre Schreibweise und ihre literarischen Figuren: Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung nach 1933 schien die Infragestellung der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit auch in den linksintellektuellen Kreisen, in denen sich Schwarzenbach bewegte, zweitrangig. Zeitgenössisch gesehen hatte ihre Schreib- und Lebensweise also eher etwas Rückwärtsgewandtes und scheinbar weltfremd Unpolitisches - weswegen sie zum Teil nach wie vor kritisiert und zu wenig ernst genommen wird. Die aus heutiger, postmoderner Perspektive verfassten Aufsätze lassen Annemarie Schwarzenbachs Schreibweisen hingegen in vielem ihrer Zeit voraus anmuten.

Sabine Rohlf und Walter Fähnders ist es gelungen, eine Sammlung von wissenschaftlichen Beiträgen zusammenzustellen, die den oben skizzierten Ansprüchen gerecht werden, ohne ein einheitliches - und dies könnte nur heißen einseitiges - Bild von Annemarie Schwarzenbach entstehen zu lassen. Die Lektüre fordert und fördert alternative Lesarten und lässt eine Vielstimmigkeit klingen, die Schwarzenbachs Schreiben entspricht, wobei mit der Erstveröffentlichung von Erzählungen und Briefen auch der Autorin selbst eine Stimme gegeben wird. Zudem ist der Sammelband ein inter- oder besser gesagt transdisziplinäres Projekt. Mit dem Verständnis von Kultur als Text geht Kerstin Schlieker Annemarie Schwarzenbachs Asienreisen im Spiegel ihrer Texte nach. Anthropologische mit literaturwissenschaftlichen Fragen verbindend, analysiert sie Schwarzenbachs Fremderfahrung bzw. deren Repräsentation. Durch die unterschiedlichen Herangehensweisen der AutorInnen besteht nicht die Gefahr, dass einzelne Beiträge die Vielschichtigkeit der behandelten Werke schmälern. Silvia Henke sieht im Reiseroman Tod in Persien die fremde Wüste als Metapher für die innere Leere des Erzählsubjekts quasi instrumentalisiert. Annemarie Schwarzenbach hat sich aber nicht einfach - wie der Aufsatz von Silvia Henke den Eindruck erzeugt - hoffnungslos mit sich selbst beschäftigt in die Wüste geflüchtet. Gonçalo Vilas-Boas, der die Feuilletons von 1941-42 betrachtet, betont, dass Schwarzenbach genauso politisch brisante Texte wie Die Schweiz, das Land das nicht zum Schuss kam verfasst hat, "ein Text, der als zu politisch erachtet und damals nicht veröffentlicht wurde" (S. 154). Im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung, auf die Schwarzenbach - mehrmals durch Persien reisend und während des Zweiten Weltkriegs bei ihrem Afrikaaufenthalt - traf, kommen Henke und Vilas-Boas zu einem ähnlichen Urteil: Eurozentrische Züge machen sich bemerkbar, denn sowohl AraberInnen als auch Schwarze kommen nur am Rande und kaum mit eigenständiger Stimme zur Sprache. Obwohl sich die Analysen nur teilweise direkt aufeinander beziehen, zeigt dieser Vergleich, wie sich innerhalb des Bandes ein 'Gespräch' entwickelt, in dem sich die Interpretationen unterstützen oder widersprechen, ungeahnte Potentiale eröffnen, aber auch Kritik an der Autorin Annemarie Schwarzenbach äußert. Der daraus entstehende fragmentarische Effekt zeugt gerade von der Qualität der Publikation. Fosco Dubini, der mit seinem Bericht Zur Entstehung eines Films über Annemarie Schwarzenbach den Analyseteil des Bandes abschließt, endet in diesem Sinne mit dem Gedanken, dass "das Fragment vielleicht doch die Form ist, die Annemarie Schwarzenbach am besten entsprechen würde" (S. 196). Annemarie Schwarzenbachs Bild wird so, ähnlich wie viele ihrer literarischen Figuren, zu einer Collage, die Vorstellung einer einheitlichen Identität unterlaufend.

Besonders die geschlechtliche Identität schreibt Annemarie Schwarzenbach immer wieder um. Deshalb kommt die Thematik der uneindeutigen Geschlechtlichkeit und Sexualität in allen Analysen in irgendeiner Form zur Sprache. Diesen Aspekt werde ich im Folgenden herausgreifen und anhand weiterer Beiträge zeigen, dass neben der literatur- und kulturwissenschaftlichen gerade die gender- und queertheoretische Rezeption von Annemarie Schwarzenbachs Texten äußerst vielschichtig und originell ist. Besonders erwähnt sei an dieser Stelle der Aufsatz Queere Freunde um Bernhard. In Gesa Mayers alternativer Lesart sind die Figuren in Schwarzenbachs Debütroman Freunde um Bernhard (1931) "ein ziemlich queerer Beitrag zur Destabilisierung der Heterosexualität privilegierenden Zweigeschlechtlichkeit" (S. 76). Denn die Vielfalt der Begehrens- und Beziehungsgeflechte bricht die lineare Erzählung auf. Die ProtagonistInnen enthüllen die soziale Konstruiertheit von Geschlecht, indem sie der Einheit von sex und gender widersprechen. Mayer liefert anhand ihrer Lektüre auf sehr anschauliche Weise sozusagen eine 'Einführung in die Queer Theory', wobei Annemarie Schwarzenbach aber nicht zur queeren Autorin stilisiert, sondern differenziert auf die historische Distanz hingewiesen wird. Auch Sabine Rohlf widmet sich mit Flucht nach oben einem einzelnen Werk. Dieser lange verschollen geglaubte Roman kam erst nach seiner Wiederentdeckung 1997 zur Veröffentlichung und "fügt dem Schwarzenbach-Bild neue, teilweise überraschende Akzente hinzu" (S. 80). Auf den ersten Blick wirkt Flucht nach oben in seinem vergleichsweise klaren Aufbau eher konventionell. Werden aber intertextuelle Bezüge geschaffen, so treten durchaus subversive Strategien hervor. Mit Sabine Rohlfs Verweis auf literarische Traditionen und die politische Situation nach 1933, bietet der Roman in der 'Geschäftsbeziehung' zwischen dem Skilehrer Wirz und dem Hotelburschen Matthisch eine 'homosexuelle' Lesemöglichkeit. Das Schmuggelgeschäft, zu dessen Zwecken Wirz Matthisch anwirbt, kann in seiner regelwidrigen Grenzüberschreitung verschlüsselt als Metapher für Homoerotik gelesen werden. Annemarie Schwarzenbachs eigene Homosexualität thematisiert Alexis Schwarzenbach mit Fokus auf die schwierige Beziehung zur Mutter Renée. Die Gründe für den Mutter-Tochter-Konflikt sieht er weniger in den politisch gegensätzlichen Auffassungen - während Renée offen mit dem Naziregime sympathisierte, war Annemarie überzeugte Antifaschistin -, vielmehr "spielten ihre unterschiedlichen Selbsteinschätzungen in Sachen Homosexualität eine ganz besonders wichtige Rolle" (S. 42). Denn auch Renée Schwarzenbach pflegte zeitlebens Frauenbeziehungen, im Gegensatz zur Tochter wahrte sie als Ehefrau und Mutter aber stets die gesellschaftliche Norm.

In der Tendenz den Konflikt im Privaten zu begrenzen, erscheint Alexis Schwarzenbachs Vorstellung von Politik traditionell - und verkürzt im Vergleich mit den anderen Analysen, welche vielmehr Strategien der Erweiterung verfolgen. So verweisen die AutorInnen nicht nur auf das politische Potential in Schwarzenbachs journalistischen Arbeiten, sondern verstehen es auch, das Politische im Poetischen aufzudecken. Helga Karrenbrock sieht in Schwarzenbachs Reisen bzw. im Schreiben darüber nicht nur eine Flucht, sondern auch eine politische Opposition. Im Verlauf der Erzählsammlung Der Falkenkäfig macht Karrenbrock eine Politisierung aus, weil die Erzählerin zunehmend Abseitsstehende, Heimatlose und Exilierte vertritt. Das Nomadische bekommt um 1935 "angesichts faschistischer Territorialisierungen" (S. 112) durchaus einen widerständigen Charakter.

Die Dichte und Vielfalt der Beiträge in Annemarie Schwarzenbach. Analysen und Erstdrucke bewegen dazu, Annemarie Schwarzenbachs Texte weiter und wieder zu lesen. Darüber hinaus bietet der Band mit seiner ausführlichen Schwarzenbach-Bibliographie eine ausgezeichnete Grundlage zum Weiterforschen, zum Beispiel über die Fotografin Annemarie Schwarzenbach. Und schließlich dürfen wir die Schriftstellerin auch neu entdecken in ihrem steten "Versuch, Möglichkeiten des Schreibens auszuloten, das sich ausschließlicher Rationalität verweigert" (S. 51). Das "Namenlose" sind Zeilen - vielleicht eine Art Gedicht? - die, 1941 geschrieben, aufleben lassen, was Annemarie Schwarzenbach bereits als Siebzehnjährige folgendermaßen zum Ausdruck brachte: "Der Inhalt ergibt sich von selbst, aber zu schreiben, zu formen - langsam, gleichsam musizierend zu schreiben: das gibt mir ein ungeheures Glücksgefühl" (S. 55).




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